Eine Theorie ist die Form, die die Erkenntnis innerhalb einer Wissenschaft annimmt. Sie ist eine Anschauung eines Gegenstandsbereichs, genauer eine primär mentale, zum Zwecke der Kommunikation sekundär aber notwendigerweise sprachlich repräsentierte Abstraktion über ihren Gegenstandsbereich. Da eine Theorie in sprachlicher Form vorliegt, besteht sie notwendigerweise aus Sätzen. Ein Satz einer Theorie ist ein Theorem. Ist es ein elementarer, aus nichts herleitbarer Satz, so ist er ein Axiom.

An wissenschaftliche Theorien werden eine Reihe von Anforderungen gestellt. Sie sollen nämlich sein:

  1. systematisch,
  2. integriert,
  3. objektiv,
  4. vollständig,
  5. begründet.

Von diesen Anforderungen werden im folgenden die ersten drei besprochen.

1. Eine Theorie inkorporiert die Gesetze, die die Wissenschaft über ihren Gegenstandsbereich aufstellen kann. Ein Gesetz ist eine Allaussage, die in der Theorie eine gewisse Bedeutung hat. In empirischen Wissenschaften werden solche Allaussagen nicht selten einzeln gewonnen und angesammelt. Aufgabe der Theorie ist es dann, sie in einen Zusammenhang zu bringen (s. Punkt 2 unten).

Häufig wird es für die Aufgabe einer Theorie gehalten, die Verhältnisse im Objektbereich zu erklären. Darunter wird allerdings Verschiedenes verstanden:

Kausale Erklärungen ermöglichen Voraussagen. Da das Eintreffen einer Voraussage ein ziemlich überzeugender empirischer Test ist, wird die Voraussagekraft nicht selten von wissenschaftlichen Erklärungen überhaupt verlangt. Es ist aber klar, daß finalistische Erklärungen nichts voraussagen (wollen oder können).

Tatsächlich ist es die erste und unmittelbare Aufgabe einer Theorie, ihren Objektbereich zu beschreiben. Dazu muß sie die Gegenstände kategorisieren und die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, analysieren, in allgemeine Aussagen fassen und systematisieren. In dieser Eigenschaft nennt man eine Theorie auch ein Modell ihres Gegenstandsbereichs. Wenn eine Theorie das leistet, ist schon viel gewonnen. Aus logischer Sicht ist dann schon alles geleistet. Besonders in den Geisteswissenschaften, die viel mit partikulären Gegenständen und Verhältnissen zu tun haben und nicht leicht zu Generalisierungen gelangen, versteht man unter einer Erklärung aber etwas anderes und gibt sich mit einer Beschreibung nicht zufrieden. In den hermeneutischen Wissenschaften ist eine Erklärung eines Zusammenhangs eine Aussage, die den Zusammenhang verstehen läßt.

Es ist auch die Aufgabe einer Theorie, die Begriffe, mit denen die Wissenschaft ihre Gegenstände erfaßt, zu explizieren und in einen Zusammenhang zu bringen. Die Explikation eines Begriffs ist auf vorwissenschaftlichem Niveau eine Erläuterung, innerhalb einer Theorie jedoch eine Definition oder der kohärente Einbau des Begriffs in das System aus Axiomen und Theoremen. (S. theoretische und praktische Aspekte der Definition)

Begriffe haben eine Menge von Eigenschaften, und es ist Aufgabe der Theorie zu klären, in welchem Sinne sie ihnen zukommen. Nehmen wir z.B. den Satz ‘alle Menschen sind sterblich’ als eine Allaussage der Anthropologie an. Man sieht dem Satz nicht an, ob er aus dem Begriff des Menschen ableitbar ist oder ob er eine empirische Feststellung auf der Basis der Beobachtung von Menschen ist. Im letzteren Falle ist er durch Aufweisung eines unsterblichen Menschen falsifizierbar. Im ersteren Falle ist er nicht falsifizierbar, sondern wenn wir ein unsterbliches Wesen finden, werden wir es nicht ‘Mensch’ nennen. Dieser Unterschied zwischen einer empirisch festgestellten Gesetzmäßigkeit und einer begrifflichen (definitorischen) Festlegung ist für alle Aussagen einer empirischen Wissenschaft methodologisch fundamental. Allerdings strebt die Wissenschaft auch danach, den Unterschied in der Theorie wieder aufzuheben. Denn wenn eine empirisch gefundene Allaussage nicht falsifiziert wird, verlangt man von der Theorie, daß sie sie inkorporiert; und dann wird sie deduzierbar. Hierauf kommen wir in einem anderen Abschnitt zurück.

Eine Theorie muß konsistent sein. Dies besagt, daß die Menge von Aussagen, die sie enthält, widerspruchsfrei ist, d.h. daß die Aussagen alle miteinander verträglich sind und daß man auch keinen Widerspruch aus der Theorie deduzieren kann. Dies ist eine rein formal-logische Anforderung, die den Gehalt der Theorie ganz unberührt läßt, an der aber viele Theorien bereits scheitern.

2. Ferner muß eine Theorie kohärent sein. Dies besagt, daß die Menge ihrer Sätze in sich zusammenhängt. Angenommen z.B., innerhalb der Biologie gäbe es eine botanische Theorie von den Pflanzen und eine zoologische Theorie von den Tieren, und die beiden Theorien stünden unverbunden nebeneinander. Dann gäbe es keine kohärente biologische Theorie des Lebens. Dieselbe Anforderung an Theorien wird auch Integration genannt. Hier kommt es besonders auf den interdisziplinären Bezug an: eine Theorie soll mit anderen Theorien in Zusammenhang gebracht werden können und auf anderen Gebieten ihre Fruchtbarkeit erweisen.

3. Eine Theorie muß objektiv sein. Das besagt, daß sie in überprüfbarer Weise auf ihren Gegenstand bezogen ist. (Logische Theorien sind davon nicht betroffen.) Um das sicherstellen zu können, müßte man allerdings unabhängig von der Theorie feststellen können, was im Gegenstandsbereich der Fall ist. In der Wissenschaftstheorie wird nicht für sicher gehalten, daß das möglich ist. Insbesondere der Konstruktivismus lehrt, daß es nicht eine Wirklichkeit gibt, die wir nur wahrnehmen und auf die richtigen Begriffe bringen müssen, sondern daß wir, in und außerhalb der Wissenschaft, die Wirklichkeit konstruieren. In dem Maße, in dem dies so ist oder jedenfalls nicht widerlegt werden kann, reduziert sich die Objektivität einer Theorie auf ihre Intersubjektivität, d.h. darauf, daß die Wissenschaftler sich auf sie einigen. Näheres dazu auf der Seite über Objektivität.

Die Objektivität einer Theorie wird in der Wissenschaft gerade dadurch gewährleistet, daß sie, wie eingangs gesagt, auf methodisch kontrollierte Weise aufgestellt wird. Eine Theorie, die dieser Anforderung nicht genügt, nennt man spekulativ. Spekulationen können – ebenso wie Theorien – wahr oder falsch sein. Sie sind, da sie eben dem Erfordernis der Kontrolle nicht unterliegen, viel leichter anzustellen als Theorien und reichen auch, da sie nicht durch wissenschaftliche Ansprüche eingeschränkt sind, erheblich weiter als wissenschaftliche Theorien. Manchmal sind sie heuristisch nützlich; aber wenn sie als Theorien angeboten werden, sind sie eher schädlich.

Weiteres zum Theoriebegriff in der Sprachtheorie.