1. Komplexitätsebenen

In Kap. 2.2 über die morphologische Struktur hatten wir gesehen, daß das Wort als ein sprachliches Zeichen aufgefaßt werden kann, das einer bestimmten grammatischen Ebene angehört. Diese ist definiert durch einen merklichen Unterschied in der Freiheit der Selektion und Kombination der Zeichen auf vs. unterhalb dieser Ebene, derart daß Einheiten dieser grammatischen Ebene (eben Wörter) viel freier selektierbar und kombinierbar sind als Einheiten der nächstniedrigeren Ebene (nämlich Morpheme). Diese Tatsache geht in der einen oder anderen Weise in die gängigen Definitionen des Wortes1 ein. Diese prototypische Konzeption des Wortbegriffs führt natürlich nicht zu einem klaren, kategorialen Unterschied zwischen Wort und Syntagma einerseits sowie Morphem andererseits.

Die syntagmatischen Relationen, vermittels deren sprachliche Zeichen zu komplexeren sprachlichen Zeichen kombiniert werden, sind nicht uniform unabhängig vom Komplexitätsgrad der so verbundenen Zeichen. Will sagen, die Regeln, nach denen eine gegebene Einheit – z.B. ein Substantiv – zusammengesetzt wird, sind anders als die Regeln, nach denen sie mit benachbarten Einheiten zu einer komplexeren Einheit – z.B. einem Nominalsyntagma – kombiniert wird. Es gibt eine Stufung im hierarchischen Aufbau komplexer Zeichen, die die Gesamtheit der grammatischen Ebenen bildet. Dabei sind jeweils Einheiten einer höheren Ebene aus Einheiten der nächstniedrigeren Ebene zusammengesetzt. Üblicherweise rechnet man mit den in Kap. 2.1 eingeführten und hier wiederholten grammatischen Ebenen.

Komplexitätsebenen grammatischer Einheiten
EinheitBeispiel
SatzWer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Klausewer andern eine Grube gräbt
Syntagmaandern eine Grube gräbt
Wort(-form)gräbt
Morphem-t

Zur Terminologie ist folgendes zu bemerken:

Die Begriffe ‘Klause’ und ‘Satz’ sind also leider durch zwei unabhängige Kriterien (Komplexität und Selbständigkeit) voneinander unterschieden.

Auch über den angeführten gibt es noch sprachliche Komplexitätsebenen, etwa die des Absatzes und des Textes; aber dies sind keine grammatischen Ebenen mehr (d.h. der Aufbau der zugehörigen Einheiten unterliegt nicht mehr Regeln des Sprachsystems). Die Ebenen vom Wort bis zum Satz einschließlich heißen auch syntaktische Ebenen. Wir werden weiter unten die Möglichkeit sehen, hier noch mehr Zwischenebenen zu differenzieren.

Die angeführten grammatischen Ebenen finden sich in vielen Sprachen. Es besteht aber kein Grund anzunehmen, daß sie universal (allen Sprachen bzw. der menschlichen Sprache schlechthin eigen) sind. Man hat schon für verschiedene Sprachen geltend gemacht, daß sie eine der Ebenen nicht haben. Sicher kann man sagen, daß gleichnamige grammatische Ebenen verschiedener Sprachen nicht gewissermaßen jeweils auf derselben absoluten Höhe liegen. Es können z.B. die Wörter der einen Sprache, etwa einer Eskimosprache, unvergleichlich viel komplexer sein als die Wörter einer anderen Sprache wie etwa des Italienischen; d.h. sie können teilweise Eigenschaften von Einheiten haben, die im Italienischen Syntagmen wären. Anzahl und Stufung der grammatischen Ebenen sind also einzelsprachabhängig.

Übungsaufgaben
1.Morphologische vs. syntaktische Regeln

2. Wortarten

Nach ihrem syntagmatischen und paradigmatischen Verhalten zerfallen die Einheiten jeder grammatischen Ebene in mehrere Kategorien. Die übliche Terminologie will es so, daß diese Kategorien nicht die grammatischen Kategorien sind; dies ist vielmehr etwas anderes, was weiter unten besprochen wird. Statt dessen haben wir von der Wortebene an aufwärts mit syntaktischen Kategorien zu tun. Die Wortarten können aufgefaßt werden als eine Art von syntaktischen Kategorien, nämlich die der untersten syntaktischen Ebene angehörigen. Für die nicht-flektierenden Wortarten macht das kein Problem, denn deren Distribution ist rein syntaktisch bestimmt. Für die flektierenden Wortarten ist freilich daran zu erinnern (s. Kap. 2.2), daß Wortarten Lexemklassen sind und daß Wortformen, nicht Lexeme eine syntaktische Distribution haben.4

Unter einer Wortart (auch ‘Wortklasse’) verstehen wir eine für einen Stamm im Lexikon festgelegte grammatische Klasse, die sein paradigmatisches und syntagmatisches Verhalten (inkl. der von ihm gebildeten Wortformen) in der Grammatik bestimmt. Die Wortart kann sich durch Derivation, nicht jedoch durch Flexion ändern. D.h. Flexionsformen eines Worts können per definitionem nicht verschiedenen Wortarten angehören. Dies ist vor allem wichtig für gewisse Verbformen wie das Partizip oder den Infinitiv.

In diesem Kurs wird i.w. das traditionelle, d.h. auf europäische indogermanische Sprachen zugeschnittene System der Wortarten verwendet. Es wird in der folgenden Tabelle illustriert.
Beispiele für die deutschen Wortarten
WortartVerdeutschungBeispiele
SubstantivHauptwortStuhl, Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdirektor, Armer, Studieren
AdjektivEigenschaftswortarm, römisch
NumeraleZahlwortzehn, zehnter, neuntausendfünfhundertsechsundsiebzig
PronomenFürwortdu, dieser, der, wer
VerbZeitwort
   -Vollverbstudieren, vergackeiern
   Modalverb-wollen, müssen
   KopulaBindeverbsein, werden
   AuxiliarHilfsverbsein, haben, werden
AdverbUmstandswortunten, heute, unversehens, unvorsichtigerweise
PräpositionVerhältniswortunter, zwischen, an, angesichts
KonjunktionBindewortoder, aber, weil, wiewohl
Partikel i.e.S.wohl, nicht, immerhin
InterjektionAusrufewortautsch, plumps, potztausend

Mit Ausnahme von ‘Auxiliar’, das nur im deutschen Sprachraum unüblich ist, sind die lateinischen Termini überall üblich. Die deutschen Termini sind im deutschen Sprachraum unterschiedlich üblich und, außer ‘Hilfsverb’ und ‘Verhältniswort’5, allesamt entbehrlich.

Wie die grammatischen Ebenen, so sind auch die Wortarten einzelsprachabhängig. Z.B. gibt es im Lateinischen keine Artikel und in mehreren Sprachen wie etwa dem Tamil keine Adjektive. Die Aufstellung von Wortarten für die modernen indogermanischen Sprachen ist stark von der griechischen und lateinischen Tradition geprägt. Deren System läßt sich wie folgt rekonstruieren (vgl. Bergenholtz & Mugdan 1979, Kap.11):

Traditionelles Wortartensystem

Wie man sieht, waltet in der Klassifikation eine bunte Vielfalt von syntaktischen, morphologischen und auch semantischen Kriterien. Es ist an dieser Stelle nicht wichtig, diese alle zu rechtfertigen oder zu kritisieren; dies würde in sehr schwierige grammatiktheoretische Diskussionen führen.6 Es genügt zunächst völlig, sich über die Termini zu verständigen. Für die Begriffe der Deklination und Konjugation wird dabei die in Kap. 2.2.3.3 gegebene Definition durch die betroffenen Wortarten vorausgesetzt.

Traditionell ist jedes deklinierbare Wort ein Nomen. Unter die Nomina fallen mithin im Deutschen die Substantive, Adjektive, Zahlwörter und Pronomina. Dieser Oberbegriff ist nicht nur morphologisch, sondern auch syntaktisch begründet, da die Nomina sich in vieler Weise syntaktisch ähnlich verhalten und auch die Grenzen zwischen den Subkategorien nicht immer scharf sind. In der englischen Terminologie hat sich allerdings schon früh die Einengung des Terminus noun (statt des ebenfalls vorkommenden substantive) auf Substantive durchgesetzt. In einer Zeit, da die linguistische Terminologie in Deutschland häufig unkritisch aus der anglophonen Literatur importiert wurde (bes. in den 1960er Jahren), wurde durch einen Übersetzungsfehler engl. noun durch Nomen wiedergegeben, vermutlich von Leuten, denen der traditionelle Gebrauch des Terminus nicht geläufig war. Dieser Gebrauch von Nomen i.S.v. ‘Substantiv’ hat sich dann in einigen Bereichen durchgesetzt, nicht jedoch auf dieser Website.

Die Substantive zerfallen in Appellativa (lat. nomina appellativa) oder Gattungsnamen (lat. nomina communia, engl. common nouns), z.B. Berg, und Eigennamen (lat. nomina propria, engl. proper nouns), z.B. Zugspitze. Diese haben in vielen Sprachen einschließlich Deutsch unterschiedliche Distribution.

Die Pronomina kann man nach demselben Kriterium wie die Nomina unterteilen in Nuklei und Modifikatoren. Man erhält dann die substantivischen und adjektivischen Pronomina, die man auch ‘Prosubstantive’ und ‘Proadjektive’ nennen könnte. Die letzteren heißen oft Determinantien. Zu ihnen zählen u.a. die Artikel und adjektivischen Demonstrativa. Auch hier erweist sich übrigens die Nützlichkeit des traditionellen Begriffs des Nomens; denn die meisten Pronomina können sowohl substantivisch als auch adjektivisch verwendet werden, z.B. der, dieser, welcher.

‘Hilfsverb’ und ‘Auxiliar’ ist, streng genommen, nicht dasselbe, weil im Begriff des Auxiliars nicht der des Verbs steckt. Ein Hilfsverb muß ähnlich wie ein Verb konjugieren. Es gibt aber eine ganze Reihe von Sprachen wie etwa das yukatekische Maya und australische Walbiri mit Auxiliarien, die nicht konjugieren.

Für die Wortarten werden häufig die folgenden Abkürzungen verwendet:

Abkürzungen von Wortarten
AküTerminus
NSubstantiv
A(dj)Adjektiv
NumNumerale
PronPronomen
DetDeterminator
VVerb
AuxHilfsverb
P(räp)Präposition
KonjKonjunktion
AdvAdverb

Diese benötigt man, wenn man in einer syntaktischen Struktur die Kategorien der Einheiten repräsentieren will. Sie heißen darum auch Kategorialsymbole.

Übungsaufgaben
1.Deutsche Adjektive als Distributionsklassen
2.Ableitungen auf -lich

3. Syntagmen und syntaktische Kategorien

Durch Substitutionstests stellt man fest, daß ein komplexes Syntagma dieselbe Distribution wie ein einzelnes Wort haben kann. So findet man Wortgruppen, die syntaktischen Kategorien angehören. Eine syntaktische Kategorie ist somit eine Distributionsklasse von Syntagmen i.w.S. auf den syntaktischen Ebenen der Komplexitätshierarchie. Die wichtigsten sind die in der folgenden Tabelle mit ihren Kategorialsymbolen aufgezählten.

Syntaktische Kategorien und Kategorialsymbole
deutschenglisch
AküTerminusAküTerminus
Adj-alAdjektival (Adjektivsyntagma)APadjective phrase
Adv-al(= AdvS) Adverbial(syntagma)AdvPadverbial phrase
NomNominalNom,
CNP
nominal,
common noun phrase
NSNominalsyntagmaNPnoun phrase
PräpSPräpositionalsyntagmaP(rep)Pprepositional phrase
SSatzSsentence, clause
VSVerbalsyntagmaVPverb phrase

Es folgen die zugehörigen Beispiele:

Beispiele für syntaktische Kategorien
KategorieBeispiel
NSFritz; die Franzosen; jener unbequeme Stuhl, auf dem ich saß
NomFranzose; Franzosen; unbequemer Stuhl, auf dem ich saß
Adj-alüber die Maßen arm; ärmer als die Polizei erlaubt
VSstudiert gelegentlich Linguistik; wollten Professor werden
PräpSunter dem Stuhl; zwischen dem Stuhl und dem Tisch
Adv-alda unten am Fluß; heute vor einer Woche; unter dem Stuhl
SDie Franzosen wollten Professor werden.

Wie die Beispiele zeigen, ist ein Nominal ein ‘Nominalsyntagma minus Determination’. (Für das Nominal stehen auch andere Termini zur Verfügung, die aber um nichts besser etabliert sind.) Wie alle anderen rechtfertigen auch diese beiden Kategorien sich in erster Linie als Distributionsklassen (Franzose und der Franzose haben unterschiedliche Distribution).

Der Terminus ‘Adverbial’ scheint zu implizieren, daß ein solches Syntagma ein Verb modifizieren muß. Dies ist tatsächlich nicht der Fall. Ein Adverbial kann modifizieren

Die folgende Tabelle faßt die distributionelle Äquivalenz, welche zwischen bestimmten Wortarten und bestimmten (potentiell komplexen) syntaktischen Kategorien besteht, zusammen:

Wortarten als syntaktische Kategorien
SuperwortartWortart syntaktische Kategorie
NomenSubstantiv
Appellativum
Proprium
Nominal
Nominalsyntagma
AdjektivAdjektival
Numerale
Pronomen(diverse nominale Kategorien)
subst. PronomenNominalsyntagma
VerbVerbVerbal
intr. VerbVerbalsyntagma
Partikel i.w.S.AdverbAdverbial (inkl. Präpositionalsyntagma)
Präpositionaladverb
Präposition
Konjunktion
Partikel i.e.S.
InterjektionSatz

Ein Präpositionaladverb ist ein Wort, das alternativ als Präposition oder Adverb fungiert, wie jenseits.7 Über die Analogie ‘Präposition : Adverb = transitives Verb : intransitives Verb’ s. anderswo.

Ein Wort im Syntagma gehört also immer gleichzeitig seiner Wortart und außerdem der höheren syntaktischen Kategorie, die es für sich konstituieren kann, an.

Übungsaufgaben
1.Syntaktische Kategorien
2.Prä- und postnominale Genitivattribute
3.Substantivklassen

1 Vgl. etwa Bloomfield, Leonard 1933, Language. London etc. : G. Allen & Unwin, S.178, oder Lyons 1968:203.

2 Seit den sechziger Jahren des 20. Jh. wurde auch der Terminus ‘Phrase’ ins Deutsche eingeführt, wohl in Unkenntnis einerseits der bereits existierenden Bedeutung von Phrase und andererseits der bereits existierenden Termini ‘Wortgruppe’ und ‘Syntagma’ für das Gemeinte. Es gibt allerdings auch einen engeren Begriff von ‘Phrase’, der ein solches Syntagma i.e.S. meint, welches erstens endozentrisch und zweitens kontinuierlich ist.

3 Manchmal auch Klausel, was in der Tat dem (lateinischen) Ursprung dieses Wortes näher ist, aber leider mit dem bedeutungsverwandten Wort Klausel (gleichen Ursprungs) homonym ist.- Gute Diskussion der Begriffe ‘clause’ und ‘sentence’ auf dem Blog Hypotheses.

4 Vgl. Bergenholtz & Mugdan 1979, Kap.11. Hier wird richtig darauf hingewiesen, daß rein syntaktische Kriterien zur Aufstellung von Klassen von Wortformen, aber nicht von Wortarten ("Lexemklassen") führen.

5 Für letzteres gibt es allerdings auch spätestens seit Greenberg 1963 den internationalen Terminus ‘Adposition’ (nicht zu verwechseln mit ‘Apposition’).

6 Z.B. wird zur Unterscheidung von Substantiv und Adjektiv oft auch das morphologische Kriterium der Steigerbarkeit des letzteren angegeben.

7 Wikipedia s.v. und Wiktionary s.v. (15.05.2010) vermeinen, Präpositionaladverb sei dassselbe wie Pronominaladverb.