Vorbemerkung

Für dieses Kapitel werden folgende Webseiten vorausgesetzt:

  1. Einführung in Grammatikalisierung und Lexikalisierung im Webskript ‘Morphologie und Syntax’,
  2. Grammatikalisierung als Art grammatischen Wandels neben Analogie und Reanalyse im Webskript ‘Sprachwandel’.

Einleitung

Der Begriff der Grammatikalisierung wurde von Antoine Meillet in seinem Aufsatz "L'évolution des formes grammaticales" eingeführt, und zwar im Sinne von

"attribution du caractère grammatical à un mot jadis autonome".1 (Meillet 1912:131)
Meillet verstand dies als einen Prozess des Sprachwandels; und diese Interpretation liegt bei einem dynamischen, Veränderung implizierenden Begriff ja auch nahe. Wenn wir jedoch die Sprache grundsätzlich als etwas Dynamisches auffassen, können wir Grammatikalisierung ebenso auf der synchronen wie auf der diachronen Achse ansiedeln. Somit können wir sie zu Expositionszwecken vorläufig wie folgt charakterisieren: Grammatikalisierung ist der Übergang von einer autonomeren zu einer fester ins System integrierten signifikativen sprachlichen Einheit, wobei solche Einheiten zu verschiedenen Graden partikulär bzw. schematisch sein können (vgl. die Konstruktionsgrammatik). Im Fokus des Prozesses steht der Übergang von einem Lexem zu einem grammatischen Formativ. Auf der diachronen Achse ist Grammatikalisierung ein Prozess des Sprachwandels. Auf der synchronen Achse ist es die Transformation einer Konstruktion in eine andere, die beide auf einer Skala nach den in §4 zu besprechenden Kriterien eingeordnet sind.

Der Gedanke, daß grammatische Elemente sich aus lexikalischen entwickeln, war schon in der spekulativen Sprachwissenschaft des 18. Jh. aufgekommen. Er wurde bis in die achtziger Jahre des 20. Jh. in zwei voneinander im wesentlichen isolierten Richtungen der Sprachwissenschaft weiterentwickelt, nämlich auf der einen Seite der Indogermanistik und auf der anderen Seite der (evolutiven, dann diachronen, dann funktionalen) Typologie. Auf seiten der Indogermanistik ist vor allem J. Kuryłowicz mit seinem Aufsatz "The evolution of grammatical categories" von 1965 wichtig. Auf seiten der evolutiven Typologie ist besonders T. Givón mit seinem Aufsatz "From discourse to syntax: grammar as a processing strategy" von 1979 zu nennen.

Ehe wir den Begriff der Grammatikalisierung weiter vertiefen, wollen wir ihn anhand einiger deutscher Beispiele illustrieren.

B1.a. im Zuge der Regierungsumbildung, im Wege der Subventionierung, im Gefolge der Sparmaßnahmen, im Vorfeld des Kongresses
Dtb. anstatt, mithilfe, infolge, zufolge
c.wegen, trotz
d. von, zu
B2.a. idg. *so-/sa-/to- "dieser" > ahd. der/diu/daz "dér" > dt. def. Artikel2
b. idg. *oinos "einer" > dt. indef. Artikel
B3. germ. *salbo-ðe "salben tat" > ahd. salboti "salbte"
B4.a. ahd. wird lesende > mhd. wird lesen
Dtb. ahd. würde lesende > mhd. würde lesen
c. wird gelesen
B5. germ.*līko "Körper:Abl" > ahd. -lîko Advr;
z.B. gern-lîcho "gern", gitriuwi "treu" – gitriulîcho "getreulich"

In B1 sind eine Reihe von Strukturmitteln illustriert, durch die im Deutschen semantische Funktionen an nominalen Ausdrücken kodiert werden. In B1.a handelt es sich um periphrastische Präpositionen, die aus einer primären Präposition wie in und einem von dieser regierten relationalen Substantiv wie Gefolge oder Vorfeld zusammengesetzt sind. Solche Periphrasen werden, wie man durch Beobachtung des aktuellen Sprachgebrauchs feststellen kann, jederzeit von den Sprechern gebildet und von den Hörern ohne Schwierigkeit verstanden. In B1.b haben wir sekundäre Präpositionen, deren orthographische Verschiedenheit von den Fügungen in B1.a3 darauf deutet, daß sie im Gegensatz zu jenen völlig in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind und ähnlich wie einfache Präpositionen behandelt werden. Die Orthographie kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Präpositionen nach demselben Schema wie die in B1.a zusammengesetzt sind, nämlich z.B. aus einer primären Präposition wie an und einem relationalen Substantiv wie Statt.

In B1.c sehen wir solche sekundären Präpositionen, deren Herkunft aus Substantiven nicht mehr evident ist. Die Tatsache, daß wegen von Weg und trotz von dem Substantiv Trotz kommt, spielt in der Synchronie des 21. Jahrhunderts keine Rolle mehr. Eine Spur, die diese ihre Herkunft hinterlassen hat, ist allerdings die Tatsache, daß sie den Genitiv regieren (das tun primäre und deverbale Präpositionen normalerweise nicht). In B1.d schließlich erscheinen primäre Präpositionen, die schon weitgehend die Funktion von Kasusmorphemen erfüllen. Z.B. tritt von häufig an die Stelle des bloßen Genitivs, wie B6 zeigt.

B6. ahd. degano dechisto (Hild.25) (der Degen liebster) = nhd. der liebste von den Degen

Ähnliche Beispiele ließen sich natürlich aus vielen anderen Sprachen anführen. So entsprechen dem deutschen von das englische of und das romanische de, die beide ebenfalls aus ablativischen Präpositionen stammen und in den modernen Sprachen den Genitiv bilden.

B2 zeigt Determinantien verschiedenen Grammatikalisierungsgrades. Das indogermanische proximale Demonstrativum entwickelte sich im Germanischen zu einem deiktisch neutralen Demonstrativum und dann, noch zu althochdeutscher Zeit, zum definiten Artikel. Ähnlich war das Wort, das im heutigen Deutsch den indefiniten Artikel stellt, im Indogermanischen noch das Zahlwort "eins". (Das Entsprechende ist auf dem Weg vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen passiert.)

B3 zeigt, wie das germanische schwache Präteritum entstand. Es geht, wie so viele temporale und aspektuelle Kategorien, auf eine periphrastische Konstruktion zurück, die das Verbum tuon "tun" als Auxiliar zuhilfe nahm. Die Beispiele in B4 stehen für drei andere verbale Kategorien, die im Deutschen periphrastisch gebildet werden, nämlich Futur, Konjunktiv und Passiv. Alle drei gehen auf Konstruktionen ursprünglich inchoativer Bedeutung zurück, in denen das Verb werden als Hilfsverb die Kategorien des finiten Verbs ausdrückt, während das Vollverb nominalisiert wird, also in Form eines Partizips erscheint. Die inchoative Bedeutung ist freilich später verschwunden.

In B5 schließlich sehen wir, daß ein Substantiv zu einem Suffix werden kann, das Adjektive zu Adverbien macht. Dasselbe Suffix tritt im Englischen in der Form -ly auf. Im Deutschen wird es heute in dieser Funktion noch sporadisch4 in Fällen wie schwer – schwerlich, falsch – fälschlich gebraucht.

An dieser Beispielsammlung können wir uns zunächst zwei Punkte verdeutlichen, die im Zusammenhang mit Grammatikalisierung wichtig sind. Erstens, während B2 – B5 Vorgänge des Sprachwandels und somit den diachronen Aspekt der Grammatikalisierung illustrieren, zeigt B1 den synchronen Aspekt. Ebenso wie der Sprachwandel immer vom weniger zum mehr Grammatikalisierten führt, sind auch die Elemente und Konstruktionen in B1 nach zunehmender Grammatikalisierung angeordnet. Gleich ob die verglichenen Elemente demselben oder verschiedenen Sprachstadien angehören, unterscheiden sie sich nach denselben Kriterien in ihrem Grammatikalisierungsgrad.

Zweitens, wir haben es offenbar nicht mit einer Dichotomie ‘lexikalisch vs. grammatisch’ bzw. ‘lexikalisiert vs. grammatikalisiert’ zu tun, sondern mit einem Kontinuum. Das ist in B1 besonders deutlich, da sich hier innerhalb eines funktionalen Bereichs (mindestens) vier Positionen finden, die sich in ihrem Grammatikalisierungsgrad unterscheiden, ohne daß sich ein Punkt angeben ließe, bis zu welchem die Elemente bzw. die Konstruktionen noch lexikalisch und jenseits welchen sie dann grammatisch sind. Grammatikalisierung führt also nicht nur vom Lexikalischen zum Grammatischen, sondern auch vom weniger zum mehr Grammatischen. Auch Kuryłowicz spricht von

"a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status". (Kuryłowicz 1965:52)
Die letztere Alternative trifft auf den Fall B2.a zu. Denn der indogermanische Ausgangspunkt des deutschen grammatischen Formativs ist ja kein Lexem, sondern seinerseits bereits ein grammatisches Formativ, allerdings ein weniger stark grammatikalisiertes.

Neuerung, Erneuerung und Verstärkung

Durch Grammatikalisierung können völlig neue grammatische Kategorien in ein Sprachsystem eingeführt werden, die im vorangehenden diachronen Stadium nicht vorhanden waren. Z.B. werden durch die in B2 illustrierten Grammatikalisierungs­prozesse definite und indefinite Artikel in die germanischen Sprachen eingeführt, die es zuvor nicht gab. Im Augenblick führen wir im Deutschen gerade einen progressiven Aspekt ein, wie in B7.

B7.a. Wir sind am lesen.
b. Wir sind das Buch am lesen.

Das geht schrittweise so vor sich, daß zuerst die progressive Periphrase für intransitive Verben wie in B7.a akzeptiert wird, während sie für transitive Verben wie in B7.b noch Schwierigkeiten macht, weil das direkte Objekt vom regierenden Vollverb durch die Präposition getrennt ist. Völlig ohne Vorbilder läuft diese Neuschaffung allerdings nicht ab. Es gibt im Deutschen bereits ähnliche Periphrasen verbaler Kategorien mit Hilfsverben, u.a. auch mit sein und auch mit dem Infinitiv (z.B. ist zu lesen). Es gibt auch Konstruktionen ähnlicher Bedeutung mit an plus Verbalsubstantiv wie in B8.

B8.Wir sind an der Arbeit.

Der progressive Aspekt allerdings ist im Deutschen neu; er ist eine Neuerung (oder Innovation). Somit ist die Grammatikalisierung ein wesentlicher Faktor in der Veränderung des Sprachsystems und, in größerem Maßstab, des Sprachtyps.

Die durch Grammatikalisierung geschaffenen grammatischen Kategorien nehmen andererseits häufig den Platz von solchen grammatischen Kategorien ein, die bereits im Sprachsystem vorhanden waren. In diesem Falle führt die Grammatikalisierung zur Erneuerung (Renovierung) einer grammatischen Kategorie. So werden die periphrastischen Präpositionen wie in B1.a zur Erneuerung der stärker grammatikalisierten Präpositionen gebildet. Z.B. sagt im Zuge fast dasselbe wie während oder bei und im Wege kaum etwas anderes als durch. Wie schon gesagt, wird der flexivische Genitiv durch von erneuert. Das schwache Präteritum, das wir in B3 sahen, erneuerte das schon bestehende starke Präteritum, das durch Ablaut gebildet wird. Der periphrastische Konjunktiv II, wie in würde lesen, ersetzt den synthetischen (läse). In solchen Fällen kann die ältere Kategorie neben der neueren bestehen bleiben oder durch sie verdrängt werden.

Bemerkenswert ist in solchen Fällen, daß durch die Erneuerung etwas geschaffen wird, was i.w. schon besteht. Es werden neue grammatische Elemente geschaffen, aber das Resultat sind grammatische Kategorien, die es schon gibt. Einerseits dienen die älteren Kategorien als Vorbild für eine Analogie. Auch wenn dieses Vorbild nicht vorhanden wäre, würde das restliche System, wenn es unverändert wäre, die Neuschaffung der betreffenden Kategorie in einer Form erfordern, die der alten maximal ähnlich ist. Das ergibt sich aus dem Wesen des Sprachsystems, innerhalb dessen eine gegebene grammatische Kategorie nicht in beliebiger Weise repräsentiert sein kann. Bemerkenswert ist also eigentlich nicht, daß die neuen grammatischen Elemente dieselben Funktionen wie die alten erfüllen, sondern eher, daß die alten überhaupt erneuert werden. Auf dieses Problem komme ich in Abschnitt 5 zurück.

Eine ähnliche Wirkung wie die Erneuerung hat die Verstärkung. Hier wird ein vorhandenes grammatisches Formativ durch ein anderes Element erweitert, so daß die Konstruktion aufwendiger und evtl. periphrastisch wird. Ein Vergleich von B1.a und b ergibt z.B., daß die Phrase im Gefolge eigentlich bloß eine Verstärkung von infolge ist. Ebenso ist die sekundäre Präposition mithilfe in B1.b eine Verstärkung der primären Präposition mit.

Viele Präpositionen werden zunächst zur Verstärkung von Kasusmorphemen eingeführt. Z.B. gab es im Indogermanischen einen Instrumental, dessen Funktion im germanischen Dativ fortlebte, wie in B9.a zu sehen.

B9.a. bithwungan was thurstu endi hungru (Hel.4398) "bezwungen war durch Durst und Hunger"
b. mid thurstu bithwungan wari (Hel.3912) "durch Durst bezwungen wäre"

Zu dem NS im Instrumental trat optional verstärkend die Präposition mit,5 wie B9.b. Später ging die instrumentale Funktion des Dativs freilich verloren, so daß das Resultat ihre Erneuerung durch diese Präposition ist.

Ein weiteres Beispiel von Verstärkung bieten die Demonstrativa. In B2.a hatten wir gesehen, daß das indogermanische proximale Demonstrativum zum definiten Artikel grammatikalisiert wurde. Wir haben aber heute ein proximales Demonstrativum, das auf das indogermanische *to- zurückgeht, und zwar dieser. Dieses entstand durch Verstärkung von *to- mit einem deiktischen Suffix *-si. Die so entstandene innere Flexion (von to-) ging dann später wieder auf das Ende des Wortes über (vgl. Haspelmath 1993). Man sieht, daß oft gerade solche grammatischen Elemente verstärkt werden, die unverstärkt der Grammatikalisierung unterliegen und also ihre bisherige Funktion nicht mehr erfüllen.

Die Beispiele für Erneuerung und Verstärkung könnten den Anschein erwecken, als würde die Grammatikalisierung rückgängig gemacht, als gäbe es einen Prozess der Degrammatikalisierung. Schärferes Hinsehen zeigt jedoch, daß das nicht der Fall ist. Wenn der Genitiv durch von erneuert wird, wird ja nicht seine Grammatikalisierung rückgängig gemacht. Vielmehr wird die ursprünglich ablativische Präposition von ihrerseits grammatikalisiert, so daß sie die Funktion des Genitivs übernehmen kann. Und wenn der Instrumental durch mit verstärkt wird, wird auch nicht die Grammatikalisierung des Instrumentals rückgängig gemacht, sondern im Gegenteil unterstützt. Denn die Präposition wird ja ihrerseits zu einem Zeichen für Instrumental grammatikalisiert. Die durch Verstärkung und Erneuerung geschaffenen grammatischen Formative können also zwar weniger stark grammatikalisiert als die ersetzten oder erneuerten sein. Aber sie entstehen nicht aus diesen durch Degrammatikalisierung, sondern ihrerseits durch Grammatikalisierung von anderen, insbesondere lexikalischen Elementen. Degrammatikalisierung gibt es in der Tat praktisch nicht; die Geschichte erweist, daß Grammatikalisierung stets nur in einer Richtung verläuft.

Parameter der Grammatikalisierung

Grammatikalisierung ist ein zentraler Aspekt aller Sprachtätigkeit; sie gehört zum Wesen der Sprache. Der Begriff der Grammatikalisierung muß daher aus dem Sprachbegriff entwickelt werden. Sprache ist das unbeschränkte Schaffen von Zeichen. In der Auswahl und Kombination der von ihm geschaffenen Zeichen hat der Benutzer verschiedene Grade der Freiheit. Diese Freiheit des Sprecher/Hörers läßt sich konvers als eine Eigenschaft der geschaffenen Zeichen auffassen, nämlich als ihre Autonomie (vgl. das eingangs gegebene Zitat von Meillet). Der Begriff der Autonomie des Sprachzeichens ist durch folgende zwei Aspekte definiert:

Mit diesen beiden kriterialen Eigenschaften korreliert eine dritte, das Gewicht des Zeichens, d.i. sein Umfang, der es zu Opposition und Kontrast zu anderen Zeichen befähigt. In dem Maße, in dem die Kohäsion eines Zeichens zunimmt, nehmen seine Variabilität und sein Gewicht ab.

Diese immer noch ziemlich abstrakte Charakterisierung kann weiter konkretisiert werden dadurch, daß wir die genannten Aspekte unterteilen nach den beiden Hauptdimensionen des Schaffens von Sprachzeichen (vgl. Kap. 4.4, #5), nämlich ihrer Selektion auf der paradigmatischen und ihrer Kombination auf der syntagmatischen Achse. Die Freiheit, mit der ein Zeichen auf den beiden Achsen manipuliert, also selektiert und kombiniert wird, bestimmt seine Autonomie. Mit steigender Grammatizität verliert ein Zeichen an Autonomie, d.h. es wird stärker in das Netz paradigmatischer und syntagmatischer Relationen integriert und grammatischen Regeln unterworfen. Autonomie und Grammatizität sind also komplementäre Pole derselben Eigenschaft.

Durch die Kreuzklassifikation der drei Autonomieaspekte mit den beiden Relationenachsen erhalten wir die sechs grammatischen Kriterien oder Parameter, die in der Tabelle dargestellt sind.

Parameter der Grammatikalisierung
Relationenachse
Autonomieaspekt   ╲
paradigmatischsyntagmatisch
Kohäsion ParadigmatizitätFügungsenge
Variabilität WählbarkeitStellungsfreiheit
Gewicht IntegritätSkopus

Diese Kriterien haben einerseits eine Bedeutung für die Methodik, denn sie erlauben es, zwei beliebige grammatische Elemente in bezug auf den Grad ihrer Grammatikalisierung zu vergleichen und auf einer Skala einzuordnen. Sie haben andererseits den theoretischen Status von Parametern, durch die der sonst einheitliche Prozess der Grammatikalisierung analysiert und definiert wird. Unter dem diachronen Aspekt ändern sich die Parameter in der Weise, die folgendes Schaubild darstellt.

Allgemeine Grammatikalisierungsskala
   Grammatizitätschwach―→stark  
Parameter     ╲Prozeß
ParadigmatizitätZeichen gehört zu losem WortfeldParadigmatisierungZeichen gehört zu hochintegriertem Paradigma
WählbarkeitZeichen ist nach kommunikativen Absichten frei wählbarObligatorisierungWahl des Zeichens ist beschränkt bzw. obligatorisch
IntegritätBündel semantischer Merkmale; evtl. mehrsilbigErosiongrammatische Merkmale; oligo- oder monosegmental
FügungsengeZeichen ist unabhängig juxtaponiertKoaleszenzZeichen ist Affix oder bloß phonologische Eigenschaft des Träger
StellungsfreiheitZeichen ist frei umstellbarFixierungZeichen besetzt feste Position
SkopusZeichen bezieht sich auf Syntagma beliebiger KomplexitätKondensierungZeichen modifiziert Stamm

Wir gehen nunmehr die sechs Parameter in bezug auf die zuvor gegebenen Beispiele durch.

Die Paradigmatizität des Sprachzeichens ist der Grad, zu dem es in ein Paradigma eingegliedert ist, und die formale und funktionelle Homogenität und Geschlossenheit dieses Paradigmas. Sie nimmt durch Grammatikalisierung zu; der verantwortliche Teilprozess heißt Paradigmatisierung. So haben wir in B1.a ein frei erweiterbares Wortfeld vor uns. Auch die Paradigmen in B1.b und c sind noch ziemlich groß und heterogen. Die Mitglieder von B1.d dagegen teilen die phonologische Eigenschaft, einsilbig zu sein, und die funktionelle Eigenschaft, als Anschlußglieder der periphrastischen Präpositionen in B1.a zu dienen. Sie werden in anderen Sprachen, z.B. im Ungarischen oder Baskischen, durch Kasussuffixe wiedergegeben. Auch in B2 ist die Wirkung der Paradigmatisierung deutlich zu erkennen. Das indogermanische Demonstrativum und das Zahlwort für "eins" gehörten ursprünglich nicht zu einem Paradigma, gehörten in der Tat zu verschiedenen Paradigmen. Deutsch der und ein bilden das formal und inhaltlich homogene und hermetisch abgeschlossene Paradigma des definiten und indefiniten Artikels. Die periphrastischen Fügungen in B3 und B4 sind Glieder der verbalen Paradigmen geworden. Das Präteritum ist völlig ins Tempusparadigma integriert; und Ähnliches gilt für Futur, Konjunktiv und Passiv. Bezeichnend ist auch, daß der analytische Konjunktiv II wie in B4.b mit dem älteren synthetischen fast synonym ist.

Durch Paradigmatisierung nimmt i.a. die Größe der Paradigmen ab. Dies ist ein einfacher, allerdings unzuverlässiger Ansatzpunkt zu Quantifizierung des Parameters der Paradigmatizität. Angemessener, allerdings auch schwieriger anzuwenden wäre ein Maß der Homogenität eines Paradigmas, welches die Anzahl der Merkmale, in denen sich die Glieder eines Paradigmas voneinander unterscheiden, zu der Anzahl der Merkmale, die ihnen gemeinsam sind, ins Verhältnis setzt. Für die Präpositionen kämen auf der Inhaltsseite z.B. ihre Relationalität, auf der Ausdrucksseite ihre Silbenzahl und ihr Akzentmuster als gemeinsame Merkmale infrage.

Die paradigmatische Variabilität oder Wählbarkeit des Sprachzeichens ist der Grad, zu dem es gegenüber anderen Mitgliedern des Paradigmas frei wählbar, im Kontext gegen sie austauschbar und schließlich überhaupt weglaßbar ist. Sie nimmt bei Grammatikalisierung ab in einem Prozeß, den man Obligatorisierung nennen kann. In B1 nimmt die paradigmatische Variabilität von a bis d ab. Für die Phrasen in B1.a können wir nicht nur Mitglieder derselben Klasse, sondern auch beliebige andere Präpositionen einsetzen. Die Bedingungen sind rein semantisch-textueller Art. Die Mitglieder von B1.d dagegen können grammatischen Regeln unterliegen und also in bestimmten Kontexten durch nichts ersetzbar sein. Sie sind die einzigen, die von Verben und Adjektiven regiert werden können; vgl. sich erinnern an, verschieden von. In B2 stellen wir fest, daß der definite Artikel in immer mehr Kontexten obligatorisch wird. Auch die Wahl zwischen dem definiten und dem indefiniten Artikel wird beschränkt; z.B. kann man vor Infinitiven und Superlativen i.a. nicht den indefiniten Artikel gebrauchen. Ähnlich gilt für das englische Suffix -ly, daß es bei der Transposition von Adjektiven in Adverbien durch Regeln der Grammatik erfordert wird.

Wählbarkeit und Obligatorisierung können wir messen, indem wir den Anteil der Mitglieder eines Paradigmas, inklusive 0, feststellen, die in einem gegebenen Kontext substituiert werden können.

Die Integrität des Sprachzeichens ist sein konstitutioneller Umfang, die Komplexität seines Significans und seines Significatums (i.S.v. Kap. 6.5.2). Bei Grammatikalisierung nimmt sie ab durch einander entsprechende phonologische und semantische Prozesse. Auf der phonologischen Seite ist es Abschleifung oder Erosion. Ein Sinnbild dafür in der Orthographie ist die Zusammen- und Kleinschreibung, die wir in B1.b beobachtet haben. In diesen Präpositionen fehlt auch der definite Artikel, der in den Periphrasen von B1.a noch vorhanden ist. Insgesamt werden die Präpositionen von B1.a bis d kürzer. Deutlich zu sehen ist die Abschleifung auch in B2.b und B3.

Auf der semantischen Seite wird die Integrität des Sprachzeichens durch Desemantisierung abgebaut. Durch Bedeutungsentleerung oder -verallgemeinerung wird die Bedeutung abstrakter, grammatischer. So verschwinden die lokalen und anderen konkreten Bedeutungen der in B1 zugrundeliegenden relationalen Substantive auf ihrem Wege zu Präpositionen und Kasusmorphemen. Z.B. involviert anstatt nicht mehr die Idee einer Stätte, und von in Funktion des Genitivs nicht mehr die Idee einer Trennung. In B2.a geht die proximale deiktische Komponente des Demonstrativums verloren, und übrig bleibt nur die Definitheit. In B2.b verschwindet die Opposition von ‘genau einer vs. andere Zahlen als eins’, und übrig bleibt die Indefinitheit. In B4 verschwindet, wie schon gesagt, die inchoative Bedeutung des Hilfsverbs, so daß es lediglich zum Träger der finiten Flexionskategorien wird. In B5 schließlich bleibt ebenfalls von der zugrundeliegenden konkreten Bedeutung nichts übrig. Ich erinnere auch an die in Kap. 7.5 vorgenommene Graduierung semantischer Merkmale vom Enzyklopädischen bis in die Grammatik.

Erosion können wir auffassen als Verlust von Merkmalen, seien es phonologische oder semantische. Somit können wir auch eine Quantifizierung des Parameters der Integrität annähern dadurch, daß wir die Merkmale zählen. Ich gehe hier nicht darauf ein, wie dies methodisch zu verfeinern wäre.

Die Fügungsenge oder syntagmatische Kohäsion eines Sprachzeichens ist die Intimität der Verbindung, die es mit seiner Kokonstituente, seinem späteren Träger, eingeht. Sie nimmt durch Grammatikalisierung zu; der zugehörige Prozeß heißt Koaleszenz. An ihm unterscheidet man traditionell mehrere Phasen. Die erste ist die Juxtaposition; auf diese folgt die Klitisierung des grammatikalisierten Elements, dann seine Agglutination und schließlich seine Fusion mit dem Träger. Die periphrastischen und sekundären Präpositionen in B1.a-c sind dem regierten NS juxtaponiert. Die primären Präpositionen in B1.d verlieren häufig ihren Akzent und werden proklitisch. Mehrere von ihnen fusionieren dann mit dem definiten Artikel, z.B. am, zur usw. Sie ähneln darin bereits den Kasusaffixen, die sich ja mit ihrem Träger in agglutinierender oder fusionierender Weise verbinden. Der Koaleszenzprozeß ist in B3 deutlich zu sehen, und ebenso in B5.

Der Begriff der Fügungsenge ist bis jetzt bloß phonologisch charakterisiert. Die semantische Entsprechung wäre das Maß, in dem die Bedeutung des grammatikalisierten Elements nicht mehr selbständig, sondern lediglich ein Aspekt der Bedeutung des Trägers ist (vgl. auch Bybee 1985). Wir haben dieses Problem schon in Kap. 8.10.1 behandelt, als wir den Begriff der grammatischen Bedeutung bestimmten. Der semantische Aspekt der Koaleszenz ist, daß das Element zu einem Synsemantikon reduziert wird.

Die Fügungsenge ist einstweilen nicht meßbar, vor allem nicht in einer Weise, die den phonologischen und den semantischen Aspekt in gleicher Weise einbezöge. So müssen wir uns darauf beschränken, eine Skala zunehmender Fügungsenge mit folgenden Positionen (als Spezifikation der Zeile 4 der Allgemeinen Grammatikalisierungsskala von §4) aufzustellen:6

Skala der Fügungsenge
akzentuierbares
freies Morphem
> klitisches Morphem > agglutinatives Affix > fusioniertes Affix > in flexivischem Affix amalgamiert > Infix oder symbolische Alternation

Die syntagmatische Variabilität oder Stellungsfreiheit eines Sprachzeichens schließlich ist seine Umstellbarkeit im Syntagma. Solange es sich um Wörter handelt, kann man einfach von Wortstellungsfreiheit sprechen. Sie nimmt bei Grammatikalisierung ab in einem Prozeß, den ich Fixierung nenne. So sind Genitivattribute, wie sie in B1.a vorliegen, gegenüber ihrem Bezugsnomen, mit gewissen Einschränkungen, umstellbar und werden in gesprochener Sprache sogar von ihnen extraponiert (s. Lehmann 1984:205), was allerdings nicht der Norm entspricht. Auch die genitivischen Komplemente in B1.a sind im Prinzip umstellbar, etwa in des Kongresses Vorfeld. Dabei entstehen allerdings überwiegend stilistisch stark abweichende Konstruktionen. Außerdem wird die primäre Präposition dadurch von dem relationalen Substantiv getrennt, mit dem zusammen sie die periphrastische Präposition bildet. Von den sekundären Präpositionen wie in B1.b und c sind einige umstellbar, z.B. entsprechend, gemäß, wegen. Die überwiegende Mehrzahl hat freilich eine feste Stellung vor dem NS, so wie das für alle primären Präpositionen gilt. Bezüglich der Determinantien in B2 kann man aufgrund von historischem Vergleich annehmen, daß ihre Stellungsfreiheit im Indogermanischen größer war. Die deutschen Artikel nehmen jedenfalls eine feste Position am Rande des NSs ein. Die Reduktion der Stellungsfreiheit ist klar in B3. Das Verb oder Auxiliar ‘tun’ hatte die gewöhnliche Stellungsfreiheit gegenüber seinem Komplement, während das Präteritalmorphem ein Suffix mit einer festen morphologischen Position ist. Die Stellungsfreiheit der infiniten Verbformen, mit denen werden in B4 kombiniert wird, ist gegenüber derjenigen der Komplemente zum Vollverb nur geringfügig reduziert. Z.B. kann man dem Vollverb das Komplement nachstellen in Sätzen wie sie ist geworden, was sie sich gewünscht hat; aber dasselbe geht nicht gegenüber dem Hilfsverb in Sätzen wie sie ist befördert worden. Dafür ist B5 wieder klarer. Das germanische Adjektiv konnte prä- oder postnominal stehen; aber das Adjektiv, an welches das Adverbialsuffix tritt, kann nur vor diesem stehen.

Eine Quantifikation des Parameters der Stellungsfreiheit kann man annähern, indem man die Anzahl der Positionen bestimmt, die das betreffende Element gegenüber seiner Kokonstituente einnehmen kann.

Der Skopus eines Sprachzeichens ist der strukturelle Umfang des Syntagmas, mit dem es in Konstruktion ist. Allgemeiner können wir sagen, der Skopus sei die syntaktische Ebene (i.S.v. Kap. 8.9), auf der das Zeichen operiert. Der Skopus nimmt bei Grammatikalisierung ab in einem Prozeß, der Kondensierung genannt worden ist.

Von B1.a bis d nimmt der Skopus nicht ab. Würden wir allerdings dieses Kontinuum um eine weitere Position, die der Kasusaffixe, verlängern, so wäre ein Schrumpfen des Skopus zu beobachten. Denn Kasusaffixe, etwa im Deutschen oder Lateinischen, treten an Wörtern auf und können häufig nicht mehr ein ganzes NS in ihren Skopus nehmen. Auch in B2 ist keine Kondensierung festzustellen. Allenfalls kann man darauf hinweisen, daß der definite Artikel zur Substantivierung dient, z.B. von Infinitiven wie zum arbeiten, wo er offenbar auf Wortebene operiert. Wiederum gilt, daß wenn wir suffixale Artikel hinzunähmen, wie sie etwa im Rumänischen oder Schwedischen vorkommen, auch hier eine Reduktion von der Ebene des Nominals auf die des Substantivs stattfände. In B3 ist die Kondensierung offensichtlich. Das Verb ‘tun’, von dem auszugehen ist, nimmt ein beliebig komplexes NS als direktes Objekt. Seine Grammatikalisierung zum Auxiliar involviert, daß es zunächst mit einem Infinitiv und dann, als Tempussuffix, nur noch mit einem Verbstamm kombiniert wird. Ähnlich nimmt in B4 das Vollverb werden ein NS als Komplement, als Auxiliar jedoch nur noch bestimmte Verbalnomina. Der Fall B5 liegt etwas anders, weil ein Substantiv wie ‘Körper’, als nicht-relationales Element, kein kombinatorisches Potential hat. Allerdings gilt auch hier, daß das Ausgangselement mit beliebig komplexen Attributen versehen werden kann, während das Adverbialsuffix nur noch an einen einzelnen Adjektivstamm tritt.

Den Skopus eines Elements in einer Weise zu definieren, die die Skopi verschiedenartiger Elemente kommensurabel macht, ist sehr schwierig. Mit Bezug auf eine Konstituentenstrukturgrammatik könnten wir eine Lösung annähern, indem wir die maximale Anzahl der verschiedenen Knoten bestimmen, die von der Kokonstituente des betreffenden Elements dominiert werden. Durch die Bedingung, daß die Knoten verschieden seien, wird Rekursion ausgeschlossen.

An Beispielen wie den besprochenen kann man empirisch feststellen, daß die sechs Parameter in hohem Maße korrelieren. Die Korrelation ist nicht hundertprozentig. Es gibt aber andererseits keinen Fall, in dem fünf der Parameter auf einen Grammatikalisierungsprozeß schließen lassen und einer sich gegenläufig verhält. Schlimmstenfalls kann einer der beteiligten Prozesse eine Zeit lang stagnieren. Das ist nicht selten bei der phonologischen Integrität der Fall: die Sprachbenutzer verhalten sich gegenüber dem Significans konservativ, während sie alle anderen Parameter schon in der Grammatikalisierungsrichtung weiter getrieben haben.

Ebenso wie wir diese Parameter aus unserem Sprachbegriff abgeleitet haben, muß sich nun auch ihre Korrelation theoretisch begründen lassen. Wir können das zunächst getrennt für die paradigmatischen und die syntagmatischen Parameter tun. Für die ersteren kann man auf den Slogan verweisen: "meaning implies choice". Je mehr semantische Merkmale ein Element hat, zu desto mehr anderen Elementen kann es in Opposition treten. Daher die Korrelation von Integrität und Paradigmatizität. Und je freier die Wahl eines Elementes aus einer Menge von Elementen, die auch möglich wären, desto mehr Semantizität hat das Element. Daher die Korrelation der ersten beiden Parameter mit der Wählbarkeit. Für die syntagmatischen Parameter kann man folgendes feststellen: Fügungsenge korreliert mit Stellungsfreiheit, wie eben grundsätzlich Bindung abnehmende Bewegungsfreiheit bedeutet. Und Fügungsenge korreliert mit dem Skopus, insoweit eine enge Bindung einen Partner gleichbleibender Natur voraussetzt. Je niedriger die syntaktische Ebene, desto eher ist diese Voraussetzung gegeben. Auf die Korrelation des Skopus mit der Stellungsfreiheit hat man schon seit einiger Zeit aufmerksam gemacht, indem man sagte, auf höheren Konstituentenstrukturebenen sei die Wortstellungsfreiheit größer.7 Diese Korrelation scheint mir nicht unmittelbar begründbar, sondern vermittelt über die Korrelation zwischen den anderen syntagmatischen Parametern.

Die Korrelation zwischen den paradigmatischen und den syntagmatischen Parametern besagt, daß ein Zeichen nicht gleichzeitig paradigmatisch völlig autonom, also in kein Paradigma integriert, aber syntagmatisch völlig fix sein kann. Es kann auch nicht umgekehrt syntagmatisch, in seiner Kombinierbarkeit, völlig frei, paradigmatisch aber reglementiert und reduziert sein. Diese Interdependenz der paradigmatischen und syntagmatischen Parameter der Grammatikalisierung spiegelt die Tatsache, daß Selektion und Kombination zwei solidarische Aspekte der Sprachtätigkeit sind. Sie sind ja, wie wir sahen, nicht selbständige Operationen, sondern Aspekte einer Operation, haben also notwendig denselben Freiheitsgrad.

Mit Bezug auf die sechs Parameter können wir nun eine präzisere Definition von Grammatikalisierung geben. Kriterial sind, wie gesagt, nur die vier Parameter der Kohäsion und Variabilität; die beiden Parameter des Gewichts sind akzessorisch und vor allem heuristisch nützlich. Diachron betrachtet, ist Grammatikalisierung der komplexe Prozeß, der aus den vier kriterialen der sechs in der allgemeinen Grammatikalisierungsskala aufgeführten Prozessen zusammengesetzt ist. Synchron betrachtet ist Grammatikalisierung ein komplexes, aus den vier Parametern zusammengesetztes Ordnungsprinzip, nach dem funktionell ähnliche Elemente auf einer Skala angeordnet sind und nach dem eine solche Skala aufgebaut ist.

Grammatikalisierung und Sprachtätigkeit

Aus dem Gesagten ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen für die Theorie der Sprachtätigkeit. Zunächst können wir unsere Bemühungen um eine Definition des Grammatischen und der grammatischen Bedeutung aus Kap. 8.10 wieder aufgreifen. Wir hatten dort versucht, diese Begriffe ohne Rekurs auf strukturelle Kriterien zu definieren. Hier nun haben wir die Möglichkeit einer rein formalen Definition auf der Basis von Grammatizität. Ein Element ist demnach mehr oder weniger grammatisch, nämlich in dem Maße, in dem es grammatikalisiert ist. Eine grammatische Bedeutung wäre mithin eine Bedeutung, die durch ein so definiertes grammatisches Element ausgedrückt wird.

Die Parameter der Grammatikalisierung sind so konzipiert, daß sie Significans und Significatum gleichermaßen betreffen. Sie sind also formal nicht i.S.v. ‘bloß aufs Significans gerichtet’, sondern in dem Sinne, daß sie nur auf die Form, nicht auf die Substanz von Sprachzeichen Bezug nehmen. Sie inkorporieren die Versuche in Kap. 8.10.1, eine semantische Definition von grammatischer Bedeutung zu geben, insoweit diese ebenfalls formal konzipiert war. Sie inkorporieren also, was von den Auffassungen der grammatischen Bedeutung als abstrakt, relational und synkategorematisch richtig und objektivierbar ist. Die Grammatikalisierungsparameter inkorporieren dagegen nicht die spezifischen sprachlichen Funktionen, die sich in den Grammatiken der Sprachen der Welt niederschlagen und für die ich das Modell am Ende von Kap. 8.10.2 aufgestellt hatte. Sie können daher als Korrektiv des Funktionenmodells herangezogen werden, insofern sie es erlauben, grammatische Elemente unabhängig von ihrer spezifischen Funktion als solche zu erkennen und das Funktionenmodell daraufhin zu überprüfen, ob es für sie einen Platz vorsieht.

Die Evidenz der Grammatikalisierung stützt ferner eine Sprachauffassung, die das dynamische Moment der Sprache nicht ausschließlich in den Sprachwandel verlagert, sondern auch die Synchronie dynamisch versteht. An der Grammatikalisierung sieht man besonders klar, daß der Sprachwandel nicht bloß etwas ist, was zwei zeitlich entfernte Sprachstadien miteinander verbindet, sondern was jeden Augenblick in der Sprachtätigkeit stattfindet. Vor 100 Jahren sagte man zum ersten Mal infolge der Arbeit an meiner Dissertation, obwohl man ebensogut, wie bis dahin gewohnt, durch die Arbeit an meiner Dissertation sagen konnte. Seit ein paar Jahrzehnten fängt man an, im Gefolge der Arbeit an meiner Dissertation zu sagen, obwohl man ebensogut infolge verwenden könnte. Sprachtätigkeit ist durchaus nicht notwendig das Schaffen von etwas Neuem. Worauf es in erster Linie ankommt, ist, daß die Erzeugnisse überhaupt geschaffen und nicht aus einem Speicher fertig abgerufen werden. Diesen Schluß muß man aus den zahlreichen Fällen ziehen, wo durch Grammatikalisierung ein grammatisches Element oder eine Kategorie geschaffen wird, die – mit anderem Ausdruck – schon längst bestand. Die Sprecher passen sich zwar, um ihre Ziele zu erreichen, den Konventionen der Sprachgemeinschaft an, schaffen also die Zeichen den bestehenden Regeln gemäß. Aber das besagt nicht, daß sie die Verfügung über das Sprachsystem aufgeben.

Wir verfügen über die Sprache in verschiedenen Freiheitsgraden. In jedem funktionalen Bereich gibt es eine Auswahl von Strukturmitteln, welche die betreffende Funktion mit größerer oder geringerer Freiheit zu erfüllen gestatten. Mit der Verwendung stark grammatikalisierter Strategien verzichtet der Sprecher auf die freie Wahl von Ausdrucksmitteln und folglich auf Kreativität in dem, was er sagen will. Mit der Verwendung schwach grammatikalisierter oder lexikalischer Strategien behält sich der Sprecher die freie Wahl von Ausdrucksmitteln und also die Möglichkeit der Kreativität in dem, was er sagen will, vor. Dieses Nebeneinanderbestehen auf der einen Seite von Sprachmitteln, die durch Systematizität und Automatisierung (s.u.) das Nachdenken ersparen und die Kommunikation sichern, dafür aber auch die Freiheit der Sprachtätigkeit einengen, und auf der anderen Seite von Sprachmitteln, die der Willkür und Kreativität des Sprechers unterliegen, dafür aber auch quantitativ und gedanklich aufwendig sind, gehört wesentlich zur menschlichen Sprache und findet sich in keinem bekannten tierischen Kommunikationssystem.

Wir hatten in Kap. 7.2 gesehen, daß die Sprachzeichen ein Produkt der jeweiligen Sprache und nicht unmittelbare Abbilder außersprachlicher Wirklichkeit sind. In diesem Sinne sagt man, Sprache sei Versprachlichung der Welt. Wir sehen nun, daß dies nicht nur das Schaffen von lexikalischen Bedeutungen betrifft. Versprachlichung der Welt bedeutet auch Systematisierung der Tätigkeit, durch die wir die Welt in Erkenntnis und Kommunikation erfassen und verarbeiten. Wir systematisieren diese Tätigkeit dadurch, daß wir die Begriffe und Beziehungen unserer Anschauung in sprachliche Kategorien und Relationen ummünzen. Wir benötigen z.B. die vom Genitiv ausgedrückte Relation zur Gestaltung der Rede, und wir gewinnen sie aus einer konkreten lokalen Beziehung, wie sie in dem Formativ von steckt.

Wir hatten in Kap. 8.5.4 die grammatischen Ebenen des Satzes, Syntagmas, Wortes und Morphems eingeführt und in Kap. 8.9 innerhalb der Ebene des Syntagmas noch die durch die verschiedenen syntaktischen Kategorien gegebenen syntaktischen Ebenen unterschieden. Wie die syntagmatischen Grammatikalisierungsparameter zeigen, ist diese Hierarchie durch den Grad der Grammatizität der auf diesen Ebenen befindlichen Einheiten konstituiert. Am wenigsten grammatikalisiert ist die Bildung eines komplexen Satzes. Oberhalb dieser Ebene, also auf der Ebene der Textbildung, waltet gar keine Grammatik, sondern nur semantisch und kommunikativ bestimmte Regeln. Die in Kap. 8.5.4 geforderte Abgrenzung des Syntaktischen gegen das Textuelle ist also in der Tat, wie dort vorweggenommen, auf der Basis der Grammatikalisierung möglich: Von der Textbildung herkommend, beginnt die Syntax da, wo die ersten Anzeichen von Grammatikalisierung einsetzen.

Alle funktionalen Domänen, die sich in grammatischen Subsystemen niederschlagen, haben Anschluß an gewisse Sektoren des Lexikons, an Wortfelder. Einerseits sind die grammatischen Begriffe und Beziehungen im Lexikon angelegt und werden immer wieder aus ihm gewonnen. Dies scheint ein Argument zu bieten für reduktionistische Spekulationen im glottogonischen oder in anderen Bereichen, die den unverzichtbaren Kern der Sprache im Lexikon sehen und die Grammatik als im phylogenetischen oder systematischen Sinne sekundär betrachten. Andererseits aber steuern die Sprecher, wenn sie Lexeme zu grammatischen Zwecken einsetzen, zielstrebig bestimmte grammatische Kategorien und Relationen an, die in den Sprachen der Welt immer wiederkehren. Es ist, als schwebten den Sprechern diese grammatischen Funktionen vor und als griffen sie im Lexikon zu geeigneten Mitteln, um sie zu erfüllen. Diese Überlegung ist der soeben vorgeführten gerade entgegengesetzt. Wir haben dieses dialektische Verhältnis von Grammatik und Lexikon, die ineinander übergehen, einander durchdringen und einander voraussetzen, offenbar als solches zu akzeptieren.

Durch Grammatikalisierung werden sprachliche Einheiten der Wahl des Sprechers entzogen. Da er sie nicht wählen kann und nicht zu wählen braucht, automatisiert er ihre Verwendung. Wo man nicht zwischen verschiedenen Dingen, die man sagen könnte, wählen kann, kann man keine Bedeutung übermitteln. Daher besteht die Funktion grammatikalischer Elemente weniger in ihrer Bedeutung als darin, daß sie an bestimmten Stellen in der Rede erwartbar sind. Sie sind insoweit redundant und erleichtern somit Produktion und Verständnis der Rede. Sie bilden Marken im Satz, an denen sowohl Sprecher als auch Hörer sich bei ihrer Strukturierungsaufgabe orientieren können. Z.B. ist in manchen Sprachen wie dem Französischen der definite Artikel schon so weit grammatikalisiert, daß er mit seiner zugrundeliegenden Bedeutung ‘Menge der Referenten ist im Redeuniversum eingeführt und wird ausgeschöpft’ oft nicht mehr viel zu tun hat. Er dient dann nur noch der Ankündigung eines NSs (vgl. Himmelmann 1997, Hawkins 2005).

Degrammatikalisierung

Degrammatikalisierung ist zunächst ein theoretisches Konstrukt, definiert als ein Prozeß, wo eine signifikative Einheit die Allgemeine Grammatikalisierungsskala von §4 von rechts nach links durchläuft. Es entsteht also aus dem Nichts, oder bestenfalls aus einer morphologischen Veränderung eines Stamms, ein Affix; dieses löst sich vom Stamm und wird zum Wort, welches mit seinem vormaligen Träger eine syntaktische Beziehung eingeht und beginnt, seinerseits zu flektieren. Sucht man in empirischer Forschung nach Phänomenen, die unter diesen Begriff fallen, wird man kaum fündig. Die Beispiele, die dem Gesuchten noch am nächsten kommen, entstammen der Derivation: Das Suffix -ismus kann aus Derivata wie Kapitalismus, Kommunismus usw. herausgelöst und zu einem Substantiv verselbständigt werden, das in der Form die Ismen gebraucht wird. Solche Beispiele sind keine präzisen Inversionen des Grammatikalisierungswegs, haben aber wesentliche Züge davon. Sie kommen ganz selten vor, viel seltener als Fälle von Grammatikalisierung, die in allen Sprachen an der Tagesordnung sind. Sie setzen offensichtlich ein viel höheres Maß an sprachlicher Kreativität voraus. Vermutlich kommen solche Bildungen nicht nur seltener vor, sondern sie haben es vor allem auch schwerer, von der Sprachgemeinschaft aufgenommen zu werden.

Für die Sprech- und Verstehenstätigkeit bedeutet Grammatikalisierung Automatisierung. Dieses ist ein gerichteter Vorgang. Gleichzeitig liegt hier der tiefere Grund dafür, daß es Degrammatikalisierung praktisch nicht gibt: was man einmal automatisiert hat, führt man normalerweise nicht in die freie, kontrollierte Verfügung zurück.

Literatur

Givón, Talmy 1979, "From discourse to syntax: grammar as a processing strategy." Givon, Talmy (ed.), Discourse and syntax. New York etc.: Academic Press (Syntax and Semantics, 12); 81-112.

Haspelmath, Martin 1993, "The diachronic externalization of inflection." Linguistics 31(2):279-309.

Hawkins, John A. 2005, Efficiency and complexity in grammars. Oxford: Oxford University Press.

Himmelmann, Nikolaus P. 1997, Deiktikon, Artikel, Nominalphrase. Zur Emergenz syntaktischer Struktur. Tübingen: M. Niemeyer (Linguistische Arbeiten, 362).

Kuryłowicz, Jerzy 1965, "The evolution of grammatical categories." Diogenes 51:55-71. Repr.: Kuryłowicz, Jerzy 1975, Esquisses linguistiques II. München: Fink (International Library of General Linguistics, 37); 38-54.

Lehmann, Christian 2005, ‘Theory and method in grammaticalization’.

Meillet, Antoine 1912, "L'évolution des formes grammaticales." Scientia 12(26):6ff. Repr.: Meillet, Antoine 1921, Linguistique historique et linguistique générale [Tome I]. Paris: Klincksieck (2. ed.: 1948; reimpr.: 1965); 130-148 [danach zitiert].


1 “Zuweisung grammatischen Charakters an ein zuvor autonomes Wort”

2 ‘x > y’ bedeutet in Grammatikalisierungszusammenhängen "x wird zu y grammatikalisiert".

3 Mindestens war das bis zur Rechtschreibreform von 1999 so. Diese war in weiten Teilen darauf angelegt, die Resultate von Grammatikalisierung und Lexikalisierung zu ignorieren.

4 Das Suffix -lich ist lebendig, aber seine Funktion, Adverbien zu bilden, geht verloren. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jh. wird häufig (fälschlich) fälschlicherweise als Adverb gebildet, wo offensichtlich das Suffix -weise die durch -lich bereits geleistete Adverbialisierung erneuert.

5 allerdings nicht im Sinne eines optionalen Modifikators, sondern unter Schaffung einer anderen Konstruktion, eben eines Präpositionalsyntagmas, wo der durch die Präposition regierte Kasus freilich nicht zufällig derselbe wie der des erneuerten NSs ist

6 Das Kriterium der Klisis, welches am Anfang der Skala auftritt, ist aus der Fachliteratur übernommen, ist aber problematisch, weil auch akzentuierte Formative den rechten Teil der Skala durchlaufen können.

7 Das ist das ‘Penthouse Principle’.