Hinweise auf historische Verwandtschaft

Wie zuvor dargetan, ist der heuristische Anknüpfungspunkt einer Untersuchung in bezug auf historische Verwandtschaft der erste Eindruck von Ähnlichkeit zwischen zwei Sprachen. Ob dieser Eindruck trügt oder ob er eine tatsächlich vorliegende historische Beziehung zwischen den Sprachen reflektiert, läßt sich nur mit wissenschaftlichen Methoden feststellen. Die im historischen Sprachvergleich am besten etablierte Methode ist die historisch-vergleichende Methode. Sie ist, wie wir gleich sehen werden, sehr viel schmaler angelegt, als ihr Name vermuten läßt.

Die Methode betrifft den Vergleich von verschiedenen Sprachen entstammenden semantisch ähnlichen Morphemen. Wenn die Significantia solcher Morpheme sich als ebenfalls ähnlich herausstellen, haben wir einen ersten heuristischen Hinweis für den genetischen Vergleich. Man betrachtet z.B. solche Wortpaare wie lat. sex = agr. héks “sechs”, lat. septem = agr. heptá “sieben”, lat. sal = agr. hál “Salz” usw. In allen solchen Paaren hat Altgriechisch ein /h/ dort, wo Latein ein /s/ hat. Das ist sowohl in lexikalischen als auch in grammatischen Morphemen so. Diese Art von Ähnlichkeit liefert, wie sogleich dargetan wird, die methodische Basis für den Erweis genetischer Verwandtschaft, und zwar auf folgender theoretischer Basis:

Das Sprachzeichen ist, innerhalb gewisser Grenzen, arbiträr. Im gegebenen Zusammenhang besagt dies, daß die Assoziation von Significans und Significatum eines Sprachzeichens eine Operation ist, die der einzelnen Sprache angehört. Folglich ist zu erwarten, daß elementare Zeichen zweier Sprachen, die dasselbe oder jedenfalls ein hochgradig ähnliches Significatum haben, sich beliebig in ihrem Significans unterscheiden. Wenn sich nun für ein gegebenes Sprachenpaar herausstellt, daß dies in erheblichem Umfang nicht der Fall ist, daß also semantisch verwandte Morpheme im allgemeinen auch phonologisch aufeinander bezogen sind, so ist dies ein Prima-Facie-Verstoß gegen das Prinzip der Arbitrarietät des Sprachzeichens. Wenn zwei Sprachgemeinschaften, die (in den relevanten universalen Grenzen) in der Assoziation von Significantia mit Significata beide frei sind, das in einer systematisch aufeinander bezogenen Weise tun, gibt es dafür (wenn man nicht die Parapsychologie oder die morphogenetischen Felder zuhilfe nehmen will) nur eine rationale Erklärung: Die beiden Sprachgemeinschaften müssen diese Operationen im Kontakt miteinander durchgeführt haben. D.h., diese Art von Similarität muß auf Kontiguität beruhen. M.a.W., wenn der vergleichende Sprachwissenschaftler mit solcher Evidenz konfrontiert ist, kann er nur schließen, daß die beiden Sprachen historisch verwandt sein müssen.

Regelmäßige Entsprechungen

Zwei Punkte müssen hier präzisiert werden: Erstens, Arbitrarietät ist durch universale Prinzipien beschränkt, die die Bildung des Significans, die Bildung des Significatums und die mehr oder minder ikonische Natur ihrer Verbindung betreffen. Da das Morphemikon einer Sprache um die 5.000 bis 10.000 Morpheme enthält und diese auch nur innerhalb der erwähnten Grenzen variieren können, läßt sich statistisch voraussagen, daß ein gewisser Prozentsatz von zwischen zwei Sprachen semantisch ähnlichen Morphemen auch phonologisch ähnlich sein wird. Die genaue Höhe dieses Prozentsatzes hängt von einigen faktischen Voraussetzungen wie der jeweiligen Phonotaktik ab und ist auch statistisch nicht ganz trivial; aber grosso modo kann man über Hundert solcher ähnlicher Wurzeln zwischen zwei beliebigen Sprachen erwarten. Die folgende Sammlung solcher “Wortgleichungen” aus dem Algonkin (Nordamerika) und dem Gälischen (Irland, Schottland) illustriert das Gemeinte:

Algonkin-gälische Wortgleichungen
(Fromkin & Rodman, p. 226; D. Gibbon, Website)
AlgonkinGälischBedeutung
bhanembanFrau
alnobaallabanPerson, Einwanderer
llablion-obhairNetz
odanadunStadt
na'lwiwina h-huileüberall
kladencladenFrost,Schneflocke
padosbataBoot
monadenmonadhBerg
adenardHöhe
cuichecuitheSchlucht

Solche Sammlungen kann man für zwei beliebige Sprachen auf der Welt anlegen; sie beweisen absolut nichts. Laien (und auch einige Linguisten), die Sprachen vergleichen und in ihnen ähnliche Wörter entdecken, sehen häufig diesen Punkt nicht und postulieren genetische Verwandtschaft auf unsolider methodischer Basis.

Die Methode, die eine genetische Verwandtschaft zweier Sprachen beweisen soll, muß also den Zufall ausschließen; m.a.W. sie muß beweisen, daß die bestehenden Ähnlichkeiten zwischen ihnen einem Gesetz folgen. Deshalb ist in der historisch-vergleichenden Methode nicht die schiere phonologische Ähnlichkeit zwischen semantisch ähnlichen Morphemen relevant, sondern regelmäßige Entsprechungen zwischen den Significantia semantisch ähnlicher Morpheme. Dieser Begriff ist wie folgt zu definieren:

Regelmäßige Entsprechung

Gegeben sind zwei verglichene Sprachen, La und Lb. Es besteht eine regelmäßige Entsprechung zwischen den Morphemen der beiden Sprachen genau dann, wenn gilt:

  1. Angenommen
    • zwei beliebige Morpheme Mai und Maj von La, welche semantisch zwei Morphemen Mbi und Mbj von Lb entsprechen,
    • und Mai und Maj haben eine phonologische Eigenschaft Pak gemeinsam
    • und Mbi hat eine phonologische Eigenschaft Pbk dort, wo Mai und Maj Pak haben:
    dann hat Mbj ebenfalls Pbk.
  2. Dies gilt für jegliches (lexikalische oder grammatische) Morphem der beiden Sprachen (wobei die spezifischen Pk natürlich wechseln). Morpheme, die sich nicht in dieser Weise entsprechen, unterliegen einem gegenläufigen Prinzip, welches seinerseits systematischer Natur ist. M.a.W., zu den regelmäßigen Entsprechungen gibt es keine Ausnahmen (i.S.v. ‘unerklärten Ausnahmen’).

Eine solche regelmäßige Entsprechung besteht zwischen den eingangs angeführten lateinisch-griechischen Wortpaaren, aber z.B. auch zwischen Italienisch und Spanisch. Zum phonologischen Vergleich mit dem Italienischen wird im folgenden Mittelspanisch herangezogen, weil seitdem im Kastilischen ziemlich destruktive phonologische Umwälzungen passiert sind.1 Es entsprechen sich ital. figlio und span. hijo, beides "Sohn", ital. faba und span. haba "Bohne", ital. foglia und span. hoja "Blatt". Immer wo Italienisch (in der Orthographie) <gli> hat, hat Spanisch <j>; immer wo Italienisch <f> hat, hat Spanisch <h>. Das läßt sich auch in eine Formel fassen, z.B.:

ital. /ʎ/ <gli> = mspan. /ʒ/ <j>
ital. /f/ <f> = mspan. /h/ <h>.

Aufgrund solcher regelmäßiger Entsprechungen läßt sich schließen, daß die Sprachen historisch verwandt sein müssen; anders wäre nicht erklärbar, wie die regelmäßigen Entsprechungen zustande gekommen sein sollen. Im einfachsten Falle sind sie genetisch verwandt (sie können auch noch lehnverwandt sein; s.u.). Italienisch und Spanisch z.B. stammen beide, als romanische Sprachen, vom Vulgärlateinischen ab.

Ein Beispiel aus der germanischen Sprachfamilie bieten die Varianten des Wurzelvokals bzw. -diphthongs in der folgenden Tabelle:

Germanisch /u:/ (nach Bloomfield 1933:299)
engl.niederländ.deutschdän.schwed.
hawshøyshawshu:ʔshu:s
mawsmøysmawsmu:ʔsmu:s
lawsløyslawslu:ʔslu:s
awtøytawsu:ʔðu:t
brawnbrøynbrawnbru:ʔnbru:n

Auch diese regelmäßige Entsprechung läßt sich in eine Formel fassen, z.B.:

engl./dt. /aw/ = niederl. /øy/ = dän. /u:ʔ/ = schwed. /u:/.

Für den Beweis genetischer Verwandtschaft (z.B. zwischen Schwestersprachen) genügen solche Formeln. Damit ist natürlich noch nicht klar, welches die Urform ist, auf welche all die Varianten zurückgehen, und wie die Variation entstanden ist. Die Urform kann mit einer der Varianten identisch sein (so daß die betreffende Sprache den Urzustand bewahrt hätte), kann aber auch von allen belegten Formen verschieden sein. Solche Fragen sind Gegenstand der Rekonstruktion.

Angesichts unausrottbarer Mißverständnisse kann man nicht deutlich genug hervorheben, daß es beim historischen Vergleich auf die schiere Ähnlichkeit von Ausdrücken nicht ankommt. Ital. /fiʎo/ und nspan. /iχo/ sind nicht einmal besonders ähnlich, aber nach dem gerade Gesagten historisch identisch. Und andererseits bedeuten dt. haben und lat. habere dasselbe und sind auch noch phonologisch maximal ähnlich, aber doch nicht verwandt, denn /h/=/h/ und /b/=/b/ gehören (angesichts der beiden Lautverschiebungen) nicht zu den regelmäßigen Entsprechungen zwischen Deutsch und Lateinisch.

Lautgesetze

Als – in der Definition von ‘regelmäßige Entsprechung’ gemeinte – “gegenläufige Prinzipien” kommen vor allem die folgenden in Betracht:

  1. Eine ihrerseits regelmäßige Einschränkung der Lautregel. Z.B. führt die Velarisierung von /ç/ nach velaren Vokalen im Deutschen dazu, daß es in diesem Kontext kein [ç] gibt. Wörter wie Frauchen bilden dazu eine Ausnahme. Die Ausnahme ist aber ihrerseits regelmäßig, weil hier unmittelbar vor dem /ç/ eine Morphemgrenze liegt, weil also, genau betrachtet, das /ç/ gar nicht auf velaren Vokal folgt. Bei präziser Formulierung der Regel verschwindet die Ausnahme.
  2. Die relative Chronologie von Lautwandelprozessen. Z.B. führt die romanische Palatalisierung dazu, daß es vor vorderen Vokalen keine Velare mehr gibt. Wörter wie ital. chi /ki/ “wer” scheinen eine Ausnahme zu dieser Regel zu bilden. Sie sind aber aus anderer Quelle im Italienischen erst entstanden zu einem Zeitpunkt, da die Palatalisierung schon abgeschlossen war.
  3. Analogische Erhaltung bzw. Wiederherstellung: Z.B. führt die Tilgung von intervokalischem /s/ im Altgriechischen dazu, daß die ererbte Futurform *lusō luō und damit wie die entsprechende Präsensform lautet. Um das Futur überhaupt zu bezeichnen, wird die Form mit /s/ in Analogie zu anderen Verben wieder hergestellt (bzw. bewahrt), in denen das /s/, da nicht intervokalisch, nie geschwunden war.
  4. Interferenz anderer Dialekte: Z.B. heißt in der deutschen Variante des Münsterlandes der Pfad auch Patt. Das Wort scheint eine Ausnahme zur hochdeutschen Lautverschiebung zu bieten. Es ist aber aus dem münsterländer Plattdeutsch entlehnt, also einem Dialekt, der gerade die hochdeutsche Lautverschiebung nicht mitgemacht hat.

Die ersten beiden gegenläufigen Prinzipien sind methodisch völlig sauber, und wo sie gelten, sind die Ausnahmen gar keine mehr. In der Hoffnung, daß sich alle Ausnahmen letztlich auf solche Weise erledigen würden, nannten die Junggrammatiker (Ende des 19. Jh.) die regelmäßigen Entsprechungen bzw. die aus ihnen konstruierten Prozesse des Lautwandels Lautgesetze.2 Das dritte und vierte gegenläufige Prinzip sind freilich ihrer Natur nach nicht regelhaft und lassen sich (vor allem für vorgeschichtliche Zeiten) leicht ad hoc geltend machen, wenn eine Ausnahme anders nicht erklärbar ist.

Die methodische Bedeutung der regelmäßigen Entsprechung besagt im Umkehrschluß, daß Wörter zweier Sprachen, die sie aufweisen, überhaupt nicht phonologisch ähnlich zu sein brauchen. Bereits lat. /filius/ und span. /iχo/ sind nicht sonderlich ähnlich; und zwischen lat. quattuor und dt. vier ist kaum noch eine Ähnlichkeit festzustellen. Aber sie sind durch Serien von Lautgesetzen aufeinander bezogen; und nur darauf kommt es an.


1 /h/ als Phonem hat es nur bis zur mittelspanischen Periode gegeben.

2 Ein Lautgesetz ist also nicht, wie man vermuten könnte, ein universales phonetisches oder phonologisches Prinzip, sondern ein historischer Lautwandel.