Rezipientenpassiv
Das sogenannte bekommen-Passiv (auch Rezipientenpassiv oder Adressatenpassiv genannt) wird durch folgende Beispiele illustriert:
B1. | Erna kriegte ein Moped geschenkt. |
B2. | Erna bekam die Fabrik gezeigt. |
B3. | Erna kriegte den Wagen repariert. |
B4. | Sonja bekommt immer von euch geholfen. [Gespräch, 1987] |
B5. | Dann kriege ich immer geschimpft. [Gespräch, 1987] |
- (2 P.) Was für eine Art morphologischer Konstruktion ist dieses Passiv?
- (4 P.) Welche deutsche Konjugationskategorie wird durch das bekommen-Passiv ausgebaut, und was bringt es funktional Neues gegenüber ihren traditionellen Ausprägungen?
- (1 P.) Wie verhalten sich kriegen und bekommen in dieser Konstruktion zueinander?
- (4 P.) Zeigen Sie anhand von B1, wie die Konstruktion ursprünglich motiviert war.
- (6 P.) Zeigen Sie anhand der Progression von B1 nach B5, wie immer mehr Beschränkungen aufgegeben werden.
Musterlösung
- eine analytische bzw. periphrastische Verbform
- Ausgebaut wird das Genus verbi. Diese Kategorie hat traditionell nur die beiden Ausprägungen ‘Aktiv’ und ‘Passiv’. Die Leistung des Passivs ist es, das Subjekt auszublenden und ein direktes Objekt, wenn vorhanden, in Subjektsposition zu bringen. Das Rezipientenpassiv hingegen bringt Aktanten in Subjektsfunktion, welche nicht direktes Objekt sind.
- Sie sind synonym und stilistisch gestuft genauso wie auch sonst in der Sprache, d.h. kriegen sagt man, bekommen schreibt man.
- Bei seiner Entstehung setzt das bekommen-Passiv einen aktivischen Satz voraus, wo das Subjekt
X
dem indirekten Objekt Y
das direkte Objekt Z
überträgt, so wie eben bei schenken in B1. Für eine solche Situation stehen die Verben bekommen/kriegen als Konversen des Verbs der Besitzübertragung zur Verfügung, also ‘Y
bekommt Z
von X
’. Diese Konstruktion ist in dieser Bedeutung in B1 vorhanden. Das Vollverb der aktiven Version wird in der Form als Partizip Perfekt und in der Funktion als Prädikativum des direkten Objekts (Z
) dieser Konstruktion angefügt.
- Während in B1
Y
Z
im Wortsinne bekommt, ist dies in B2 nicht der Fall. Hier geht es nicht mehr um Besitzübertragung; d.h. diese semantische Bedingung ist fallengelassen. In Beispielen wie diesen kann man vielleicht noch ein ‘bekommen’ im metaphorischen Sinne annehmen. Syntaktisch liegt im Aktiv immer noch, auf der Basis eines trivalenten Verbs, eine Konstruktion ‘X
Verb indirektes Objekt Y
direktes Objekt Z
’ vor, die in der angegebenen Weise umgeformt wird. Dadurch daß bekommen in B2 seine lexikalische Bedeutung nicht mehr hat, entwickelt es sich zum Hilfsverb eines neuen Genus verbi. Von B1 nach B2 führt also eine Reanalyse der Konstruktion. Sie wird dadurch begünstigt, daß das übertragende Agens bei der Konversion nach bekommen auf dieselbe Weise angeschlossen wird wie das Agens beim Passiv, nämlich in einem mit von eingeleiteten optionalen Präpositionalsyntagma. Auch hierin liegt ein Vorbild für die Uminterpretation der Konstruktion als Genus verbi.
In B3 sind zwar auch noch drei Partizipanten vorhanden, aber das Vollverb ist nur noch bivalent. Der Partizipant Y
ist nicht mehr indirektes Objekt, sondern benefaktives Adjunkt. Dies ist also jetzt das Satzglied, welches durch das neue Genus verbi in Subjektsposition gebracht wird.
In B4 sind überhaupt nur noch zwei Partizipanten vorhanden. Das indirekte Objekt wird durch das Rezipientenpassiv in Subjektsposition gebracht.
In B5 schließlich ist das Vollverb ebenfalls bivalent, aber der oblique Aktant ist ein präpositionales Komplement. Dieses wird in Subjektsfunktion gebracht.
Fazit: Es werden semantische Beschränkungen über die Bedeutung des Vollverbs und über die semantische Rolle des movierten Partizipanten und ferner syntaktische Beschränkungen über dessen syntaktische Funktion fallengelassen. Zum Schluß kann es offenbar ein Partizipant mit beliebiger Rolle in irgendeiner Funktion außer Subjekt und direktem Objekt sein. D.h. das Rezipientenpassiv komplettiert zum Schluß genau das syntaktische Paradigma, welches durch Aktiv und Passiv eröffnet war.
Kommentar zur Aufgabe
Seit Beginn der Veranstaltung standen eine Variante der Aufgabe samt Lösung auf der ersten Seite des Webskripts sowie die Aufgabe selbst im Webskript, § 6.2 zur Verfügung.
Ferner war die Aufgabe bis in den Wortlaut der Teilfragen hinein exakt analog der Aufgabe 4 der ersten Klausur, deren Lösung mit Kommentaren seit Wochen auf dem Internet ist. Nichtsdestoweniger wiederholten mehrere Teilnehmer die Fehler vom ersten Mal.
- Die Konstruktion hat mit der Finitheit von bekommen/kriegen nichts zu tun; auch in einer Infinitivkonstruktion wie ein Moped geschenkt zu bekommen ist erfreulich liegt das Rezipientenpassiv vor.
- Das werden-Passiv mag als strukturelles analogisches Vorbild gewirkt haben. Für die semantische Motivation des Rezipientenpassivs taugt es nicht.