brauchen wird zum Modalverb

Äußerungen wie das brauch er nicht machen kommen alle Tage vor. Die kanonische Reaktion auf sie hat jeder von uns in der Schule gelernt: “wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen überhaupt nicht zu gebrauchen.” Nur warum dieses Verdikt gelten sollte, das wurde nicht dazu gesagt. Es ist eine typische Regel der normativen Grammatik: sie ist unbegründet und auch nicht begründbar, und sie trägt nichts dazu bei, das Funktionieren der Sprache zu verstehen.

Der Linguist will feststellen, welche Prinzipien jemand befolgt, der das braucht er nicht zu machen sagt, welche Prinzipien jemand befolgt, der das brauch er nicht machen sagt, und wie es kommen kann, daß hier offensichtlich zwei (Mengen von) Prinzipien konfligieren. Wenn man die Variation untersucht, stellt man folgendes fest:

1. Es gibt Verben wie in B1.a, die den abhängigen Infinitiv mit zu nehmen, und andere wie in B1.b, die ihn ohne zu nehmen.

B1.a.Das beabsichtigt er nicht zweimal zu sagen.
b.Das muß er nicht zweimal sagen.

2. Es gibt Verben, die in der Konjugation des Präsens Singular die Endungen -e, -st, -t haben wie ich beabsichtige, du beabsichtigst, er beabsichtigt; und es gibt andere Verben, die in diesen Formen die Endungen -∅, -st, -∅ haben, wie ich kann, du kannst, er kann.

3. Es gibt Verben, die bilden das Partizip Perfekt unter allen Umständen mit dem Suffix -t, wie in B2.a; und es gibt andere Verben, die bilden es in dieser Konstruktion wie den Infinitiv:

B2.a.Er hat das nicht zu sagen beabsichtigt.
b.Er hat das nicht sagen können.

Die beiden gemeinten Gruppen von Verben sind in allen drei Fällen dieselben; sie heißen Vollverben und Modalverben. Von den Modalverben gibt es nur sechs: können, mögen, wollen, sollen, müssen, dürfen; fast alle anderen sind Vollverben.

Das Verb brauchen nun kann beiden Mustern folgen:

  1. Wenn man in B1.a braucht für beabsichtigt einsetzt, verhält es sich wie ein Vollverb; wenn man in B1.b brauch für muß einsetzt, verhält es sich wie ein Modalverb.
  2. Standardsprachlich konjugiert brauchen so: ich brauche, du brauchst, er braucht, also wie die Vollverben; umgangssprachlich dagegen konjugiert es so: ich brauch, du brauchst, er brauch, also wie die Modalverben.
  3. Wenn man schließlich brauchen in die Konstruktion von B2 einsetzt, stellt man fest, daß die Variante mit gebraucht (wie in B2.a) eher unüblich ist und man besser die Infinitivform brauchen einsetzt (wie in B2.b). Hier also verhält sich brauchen schon ganz wie die Modalverben.
Es gibt noch mehr Kriterien, die dasselbe zeigen würden. Die Analyse ergibt also folgendes: die standardsprachliche Regel setzt voraus, daß brauchen ein Vollverb ist, während der umgangssprachliche Gebrauch es als Modalverb behandelt. Beide Gebrauchsweisen sind in sich völlig regelhaft; ja eigentlich ist der standardsprachliche Gebrauch weniger konsistent, denn er zieht auch er hat das nicht zu sagen brauchen (vgl. B2.b) vor, mit der infinitivischen Form des Verbs, die sonst nur bei Modalverben vorkommt.

Wieso schließt sich nun brauchen dem Paradigma der Modalverben an? Die relevanten Zusammenhänge zeigen B3 – B5:

B3.a.Ich versuche das zu machen.
b.Ich versuche das nicht zu machen.
B4.a.Ich kann das machen.
b.Ich kann das nicht machen.
B5.a.Ich muß das machen.
b.Ich brauch(e) das nicht (zu) machen.

Die Verneinung eines Verbs ist im Deutschen ganz regelmäßig und für Voll- und Modalverben gleich: das Wort nicht wird – grob gesprochen – an die vorletzte Stelle des Satzes gesetzt, wie in B3.b und B4.b; sonst passiert nichts. Nur in B5 ersetzt man zum Zwecke der Verneinung das Verb: um müssen zu verneinen, benutzt man brauchen (mindestens fakultativ). Hier gerät brauchen in komplementäre Verteilung mit müssen. Wenn aber zwei Elemente in komplementärer Verteilung stehen, dann gehören sie derselben Klasse an und erfüllen dieselbe Funktion. Nun ist müssen ein Modalverb. Das ist die Motivation dafür, daß auch brauchen in die Klasse der Modalverben gerät.

Man sieht an diesem Beispiel, daß die Sprachwissenschaft den tatsächlich beobachtbaren Sprachgebrauch manchmal ganz schlüssig motivieren kann und daß normative Regeln vom Typ “nach brauchen ist der abhängige Infinitiv mit zu anzuschließen” in solchen Analysen gar nicht vorkommen.