Es heißt der Zirkus, der Turnus und der Modus; dann wird es ja wohl auch der Virus, der Korpus und der Genus heißen. Substantive, die auf -us enden, sind maskulin; soviel Latein können wir doch noch, nicht wahr?

Tatsächlich ist Latein mal wieder komplizierter. Die angeführte Verallgemeinerung wird schon durch das Substantiv Venus ziemlich eindeutig widerlegt. Leider kann man von der Endung des Nominativs eben nicht auf das Genus eines Substantivs schließen. Erst wenn man die weitere Deklination kennt, ist der Schluß einigermaßen sicher; und selbst dann gibt es noch Unregelmäßigkeit. Die ersten drei obigen Substantive deklinieren nach demselben Muster; die Pluralformen lauten auf Lateinisch circi, turni, modi, wovon im Deutschen sicher nur die letzte Form vorkommt. Solche Substantive haben in der Tat maskulines Genus. Die Pluralformen des zweiten Tripels dagegen lauten auf Lateinisch virera, corpora, genera. Davon sind auf Deutsch wiederum nur die letzten beiden Formen gebräuchlich. Wörter, die so deklinieren, haben im Lateinischen neutrales Genus.

Von welchem Interesse ist aber nun das Genus, das diese Wörter im Lateinischen haben, für den Gebrauch im Deutschen? Diese Frage hat keine einfache Antwort. Wenn wir fremde Substantive ins Deutsche übernehmen, entsteht das Problem der Genuszuweisung, denn im Deutschen muss jedes Substantiv sein Genus haben. Die Genuszuweisung folgt mehreren Prinzipien: Wenn das Wort aus einer Sprache stammt, die auch Genus hat, bringt es sein Genus mit. Andererseits hat aber das Deutsche seine eigenen Prinzipien der Genuszuweisung, die auf Fremdwörter ebenso wie auf heimische Wörter angewandt werden. Wenn die Herkunfssprache kein Genus hat, gehen natürlich die deutschen Prinzipien durch. So heißt es der Computer (analog zu der Rechner), die CD (analog zu die Platte) und das Outfit (analog zu das Aussehen). Hat aber die Herkunftssprache Genus, so wie das Lateinische, so können deren Prinzipien der Genuszuweisung bzw. die Genera der entlehnten Substantive mit den deutschen Prinzipien konfligieren. So haben tatsächlich sehr viele Wörter auf -us maskulines Genus, darunter auch nicht-lateinische wie Kuskus, Pfiffikus, Linus; und aus solchen quantitativen Verhältnissen kann man durchaus ein Prinzip der Genuszuweisung abstrahieren. Z.B. sagen viele Leute auch der Lackmus, was etymologisch mit Mus zusammenhängt und deswegen eigentlich ein Neutrum sein müßte.

Die Hoch- bzw. Schriftsprache weist oft Eigenschaften auf, die vom Standpunkt des Sprachsystems wenig regelmäßig sind und deren korrekte Handhabung entweder einen wachen Sprachsinn oder ein Maß an Gelehrsamkeit voraussetzt, das z.B. Lateinkenntnisse einschließt, während die Umgangssprache über solche Feinheiten hinweggeht und einfache, allgemeine Prinzipien wie “Substantive auf -us sind maskulin” durchführt. In bezug auf die obigen Beispiele gilt folgendes: Hochsprachlich heißt es das Korpus und das Genus; alles andere ist (derzeit noch) nicht normgemäß. Bei Virus dagegen ist es noch komplizierter. Ein Virus, das ein Wesen ist, welches Lebewesen infiziert, ist schließlich etwas anderes als ein Virus, welcher Computer infiziert. Das Wort hat also zwei Bedeutungen. Es kann ja nicht schaden, diese durch ihr Genus auseinanderzuhalten. So sagen die Mediziner weiterhin das Virus; aber Computermenschen haben noch nie anders als der Virus gesagt. Das ist desto verständlicher, als der Plural ja jedenfalls Viren und nicht etwa Virera lautet.

Dieses Problem unterscheidet sich übrigens von den meisten hier behandelten Problemen dadurch, daß es in erster Linie eine Frage des deutschen Sprachgebrauchs und erst in zweiter Linie ein linguistisches Problem ist. Es wird hier nur behandelt, weil die Argumente, die die Menschen für ihren Sprachgebrauch anführen, manchmal linguistischer Natur sind, so wie eben das eingangs angeführte Prinzip der Genuszuweisung.