Numerus

Die grammatische Kategorie des Numerus ist aus allen europäischen Sprachen geläufig. Ihre kognitive Basis sind der Mengenbegriff und das Zählen. Somit ist der Numerus im Zusammenhang zu sehen mit einigen anderen Kategorien, die mit diesen Begriffen zu tun haben.

Die beiden Numeri der besser bekannten Sprachen, Singular und Plural, basieren auf dem semantischen Unterschied 'einer vs. mehr als einer'. Andere Unterteilungen des Zahlenstranges sind denkbar und kommen vor. U.a. sind die folgenden Numeri bekannt:

Zwischen diesen bestehen klare Implikationsverhältnisse in folgendem Sinne: Wenn eine Sprache einen Trial hat, so hat sie auch einen Dual.

Wenn eine Sprache einen Dual hat, so hat sie auch einen Plural.

Wenn eine Sprache einen Plural hat, so hat sie auch einen Singular.

Über das Verhältnis des Paukals zum Trial ist nichts bekannt. Diesen Implikationen entsprechen die Markiertheitsverhältnisse: Trial ist gegenüber Dual markiert; Dual ist gegenüber Plural markiert; Plural ist gegenüber Singular markiert. B1 zeigt Beispiele aus dem Altgriechischen.

B34. a. Heis kalos anḗr tethnēke.

ein:NOM.SG.M schön:NOM.SG.M Mann:NOM.SG PERF:sterb:3.SG

"Ein schöner Mann ist tot."

b. Duo kalō andre tethnaton.

zwei:NOM.DU.M schön:NOM.DU.M Mann:NOM.DU PERF:sterb:3.DU/

"Zwei schöne Männer sind tot."

c. Duo kalō andre tethnasin.

zwei:NOM.DU.M schön:NOM.DU.M Mann:NOM.DU PERF:sterb:3.PL

"Zwei schöne Männer sind tot."

d. Treis kaloi andres tethnasin.

drei:NOM.PL.M schön:NOM.PL.M Mann:NOM.PL PERF:sterb:3.PL

"Drei schöne Männer sind tot."

Wie man sieht, kongruiert das Verb mit dem Subjekt im Numerus. Bei dualischem Subjekt kann das Verb allerdings im Plural stehen; d.h. die Opposition zwischen Plural und Dual wird zugunsten des ersteren neutralisiert. Für die Markiertheit des Plurals gegenüber dem Singular ist B1 ein Beispiel.

B35. a. To teknon tethnēke.

DEF:NOM.SG.N Kind:NOM.SG.N. PERF:sterb:3.SG

"Das Kind ist tot."

b. Ta tekna tethnēke.

DEF:NOM.PL.N Kind:NOM.PL.N PERF:sterb:3.PL

"Die Kinder sind tot."

Wenn das pluralische Subjekt Neutrum ist, steht das Verb nicht im Plural, sondern, wie B?.b zeigt, im Singular. Diese Neutralisation der Numerusopposition zugunsten des unmarkierten Singulars gibt es auch im Deutschen; man kann z.B. sagen zwei Glas Bier, aber nicht ein Gläser Bier.

Das letzte Beispiel zeigt auch, daß Plural gerade nach Zahlwörtern oft überflüssig ist. Ein nochmaliger Blick auf B1 lehrt, daß dort in der Tat kein Pluralzeichen steht. Auch in B1 könnte, bei größeren Zahlen, kein Plural stehen. Ferner hängt die Numerusmarkierung mit der lexikalischen Kategorie des betreffenden Nominalbegriffs zusammen. Am üblichsten ist sie bei Personen, danach bei Tieren, am unüblichsten bei Sachen. Im Chinesischen z.B. gibt es ein Pluralmorphem men, das jedoch nur nach menschlichen Substantiven stehen kann. Vgl. damit das Fehlen der pluralischen Kongruenz gerade nach neutrischem Subjekt im Griechischen.

Kollektion und Messen

Von dem Paar 'Singular vs. Plural' ist die Opposition 'Singulativ vs. Kollektiv' zu unterscheiden. Ein Kollektivum (Kollektivsubstantiv) bezeichnet eine Menge von Gegenständen, die als nicht differenziertes Ganzes genommen werden.

B36. a. Berg - Gebirge

b. Wolke - Gewölk

c. Mensch - Menschheit

Die Beispiele in B1 zeigen, daß es im Deutschen Mittel zur Derivation von Kollektiva aus Individualsubstantiven gibt. Aber auch das Umgekehrte, die Bildung eines Singulativums aus einem elementaren Kollektivum, kommt vor:

B37. a. Polizei - Polizist

b. Eltern - Elternteil

c. Regierung - Regierungsmitglied

d. Vieh - Stück Vieh

Die bunte Mischung von Ausdrucksmitteln in B1 und B1 zeigt, daß diese Kategorien im Deutschen nicht grammatikalisiert sind. Dagegen sind sie z.B. in keltischen Sprachen Flexionskategorien des Substantivs.

Man kann unterscheiden zwischen homogenen und heterogenen Kollektiven nach dem Kriterium, ob alle Mitglieder des Kollektivs unter denselben Individualbegriff fallen. Nach diesem Kriterium ist sind die Beispiele in a homogene Kollektive (jedes Mitglied einer bestimmten Herde ist z.B. ein Schaf), die in b dagegen heterogen (einige Mitglieder eines Bestecks sind Gabeln, andere Messer ...).

a. Herde, Schwarm ...

b. Besteck, Geschirr ...

Zu Beginn von Kap.3.2.3 war gesagt worden, daß der Numerus der Individuation dient. Dies zeigt sich auch an numeruslosen Substantiven wie denen in B1.a.

B38. a. Schmuck, Rauch, Schach, Brei, Fleisch

b. ein Schmuckstück, zwei Rauchschwaden, drei Schachspiele, vier Schüsseln Brei, fünf Stücke Fleisch/Fleischstücke

Diese gehören in die in Kap.2.1.3 erwähnte Kategorie der nicht-zählbaren Substantive oder Massensubstantive und bezeichnen nicht-individuierte Begriffe. Bevor sie gezählt werden können, müssen sie individuiert werden, z.B. wie in B1.b. Zeichen wie Stück, Schüssel, die Maßeinheiten im weitesten Sinne bezeichnen und in der Kombination mit einem Massensubstantiv dieses zählbar machen, heißen Mensurative (Maßwörter). Es ist kein Zufall, daß einige Mensurative wie Stück sich auch unter den Ausdrucksmitteln zur Bildung von Singulativa aus Kollektiva wiederfinden.

Individualsubstantive sind zählbar, können also unmittelbar mit Zahlwörtern und dem indefiniten Artikel kombiniert werden. Werden sie dennoch ohne Artikel oder mit einem Mensurativ gebraucht, so werden sie dadurch deindividuiert ("vermasst"), wie etwa in B1.

B39. a. Wollen Sie noch mehr Auto?

b. Fünf Meter Auto genügt.

c. Hier sind zwei Schüsseln (geriebener) Apfel.

Wichtig hieran ist folgendes: Kognitive Kategorien (wie etwa die der Masse oder des Individuums) können sich zwar in grammatischen Kategorien wie Massensubstantiv und Individualsubstantiv niederschlagen. Aber das heißt nicht, daß man innerhalb der betreffenden Sprache nicht mehr von diesen grammatischen Kategorien loskommt. Die kognitiven Kategorien bleiben als solche virulent, denn man hat grammatische Operationen, durch die die grammatischen Kategorien erzeugt oder geändert werden können.

Numerus und Kollektiv/Singulativ sind in erster Linie nominale Kategorien; d.h. sie treten morphologisch an nominalen Syntagmen auf. Genauer: während Kollektiv und Singulativ meistens derivative Kategorien von Substantiven sind, ist Numerus ist am ehesten eine semantosyntaktische Kategorie des Nominals, wie man an B1 sieht.

B40. a. Eine Reihe von Studenten haben das behauptet.

b. Eine Million Bundesbürger glauben an den Weihnachtsmann.

Die syntaktischen Nuklei der SubjektsNSen in B1, nämlich Reihe bzw. Million, stehen klärlich im Singular. Die NSen als ganze sind jedoch pluralisch, wie die verbale Kongruenz erweist. Da es keine syntaktische Regel gibt, die das Verb mit einem Genitivattribut (a) bzw. einer Apposition (b) des Subjekts kongruieren läßt, muß man annehmen, daß der Numerus einem Nominal als ganzem erst zugewiesen wird, wenn es fertig expandiert ist.

Am Verb tritt der Numerus einerseits durch Kongruenz auf. Allerdings ist er bereits hier nicht gänzlich vom nominalen Numerus abhängig. Man hat z.B. Fälle wie B1, wo (im Unterschied zu B1) das SubjektsNS keine grammatischen Mehrzahleigenschaften aufweist und das Verb allein die Pluralität des Subjekts ausdrückt.

B41. The committee meet this afternoon.

Andererseits gibt es aber auch genuin verbale Pluralität, d.h. lexikalische oder morphologische Mittel, die am Verb eine Pluralität des ausgedrückten Vorgangs bezeichnen.

B42. a. schwärmen, wimmeln, umzingeln

b. hoppeln, flattern, gackern

Mit dem grammatischen Plural des Verbs in B1 vergleichbar ist ein lexikalisches Merkmal der Verben in B1.a, welches ein pluralisches Subjekt erfordert (vgl. *Ich umzingele dich). Die Verben in B1.b bezeichnen sich gleichförmig wiederholende Handlungen, deren elementare Handlungseinheit man normalerweise nicht bloß einmal ausführt (vgl. ?Der Hase hoppelte mit einem Satz auf den Stuhl). Hier liegt also die Pluralität in der Wiederholung. Dieselben Verben werden uns im Kap.3.2.5.1 als Iterativa wiederbegegnen.

Zum Abschluß des Kap.3.2.3 ist darauf aufmerksam zu machen, daß die grammatischen Kategorien, die der Klassifikation dienen, vielfältige morphologische Beziehungen haben zu denen, die der Zählbarmachung dienen. Z.B. werden in den indogermanischen Sprachen Genus und Numerus in einem einzigen Nominalsuffix ausgedrückt; und in den Bantusprachen werden Nominalklasse und Numerus in einem einzigen Präfix ausgedrückt.

Übungsaufgabe: Massen- und Individualsubstantive