Die Romania

Protoromanisch war, nach der inschriftlichen und sonstigen Evidenz zu schließen, bis ins 6. Jh. ziemlich homogen.

1. Überblick über die romanischen Sprachen

Die einzelnen rom. Sprachen sind sehr verschieden früh bezeugt, am frühesten Italien. und Franz. seit ca. 800. Die unten als älteste angeführten Dokumente sind jeweils vollständige rom. Texte, die in der Absicht abgefaßt wurden, im Vernakular zu schreiben. Jeweils etwa ein Jahrhundert früher gibt es meist schon Elemente der rom. Sprachen (Eigennamen, Zitate, Versehen) in fremdsprachigen, meist lat. Texten.

Das Datum dieser frühesten Dokumente betrifft natürlich immer nur das Auftreten der rom. Schriftsprachen. Für ihr Auftreten als gesprochene Sprachen geben sie nur einen - viel zu späten -Terminus post quem. Die Sprache aller dieser Dokumente ist vom Lateinischen so stark verschieden, daß man ermessen kann, wie lange vor ihrem Auftreten schon nicht mehr Latein gesprochen wurde.

Rumänisch

Rumänisch ist heute der einzige Überlebende des Balkanromanischen. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Brief des Bojarden Neacsu di Cimpulung; 1521.
  2. Bibelübersetzungen; Mitte des 16. Jh.

Rumänisch gehört zum Balkansprachbund und hat daher diverse Entlehnungen aus dem Griechischen.

Moldawisch, die Landessprache der Republik Moldawien, wird als rumänischer Dialekt behandelt. Daneben gibt es drei kleinere Dialekte, nämlich Arumänisch (in Griechenland), Istro-Rumänisch (in Istrien) und Megleno-Rumänisch (in Albanien).

Dalmatisch

Dalmatisch wurde an den Ostgestaden der Adria, von Venetien im Nordwesten bis nach Antìvari im Süden gesprochen. Es bildet den Übergang vom Italoromanischen zum Balkanromanischen. Es wird im 12. Jh. als eigene romanische Varietät erwähnt. Die ältesten Dokumente sind:

  1. Briefe von Zadar; 1325, 1397.

Dalmatisch wurde von allen Seiten, durch Venetisch, Kroatisch und Albanisch, bedrängt. Der letzte Sprecher starb 1898 auf der Insel Krk.

Italienisch

Italienisch existierte als solches zunächst nicht. Stattdessen wurden (und werden bis heute) auf der Halbinsel eine große Zahl romanischer Idiome und Dialekte gesprochen, über die erst im 19. Jh. das Italienische als Hochsprache gestülpt wurde. Italienisch wird außerdem in der Südschweiz (Tessin), auf Korsika und in den an Venetien angrenzenden Teilen Kroatiens gesprochen. Die ältesten Dokumente sind:

  1. Graffito an einem Fresko in der Commodilla-Katakombe; ca. 830.
  2. Rätsel von Verona [aber mit lat. Elementen]; 9. Jh.
  3. Eidesformeln von Montecassino; 960-963.

Erster klar italienischer Text: Ein Eid im Placito Capuano (960).

Sardisch

Sardisch (oder Sardinisch) ist die Sprache von Sardinien und in mancher Hinsicht die altertümlichste romanische Sprache. Die ältesten Dokumente sind:

  1. Logudoresisches Privileg, 1080-1085, und andere juristische Texte.
  2. Charta der Kirche von S. Saturnino, Cagliari; um 1100.

Sardinisch besteht in Form von drei Dialekten, Nuoresisch, Logudoresisch und Campidanesisch.

Rätoromanisch

Rätoromanisch ist ein in den Zentralalpen gesprochenes Dialektkontinuum. Der wissenschaftliche Terminus ‘Rätoromanisch’ hebt auf das präsumptive rätische Substrat ab, das jedoch sprachlich nicht faßbar ist und ohnehin nur im Westen des rätoromanischen Sprachgebiets vorhanden war; der Osten des Sprachgebiets ist auf dem Boden des antiken Noricum und Friaul. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Pseudoaugustinische Predigt, Graubünden; Anfang des 12. Jh.
  2. Bürgerliste von Udine; um 1300.

Rätoromanisch besteht in Form von drei geographisch getrennten Dialekten, Romansch (gesprochen im Schweizer Kanton Graubünden), Ladinisch i.e.S. (in den italienischen Dolomiten) und Friulisch (in der italienischen Provinz Friaul), deren Sprecher sich nicht als eine Sprachgemeinschaft empfinden. Auch Rätoromanisch als Ganzes wird als Ladino bezeichnet. Das Wort Ladino ist ein direkter Fortsetzer von Latino. Somit ist dieser Dialekt, neben dem Judenspanischen, das sich ebenfalls so nennt, das romanische Idiom, welches nominell das Lateinische fortsetzt.

Französisch

Französisch wird heute in Europa hauptsächlich in Frankreich, im wallonischen Teil Belgiens, in Luxemburg und in der Westschweiz gesprochen. Das ist ziemlich genau der Raum, der zuvor gallisch war. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Reichenauer Glossen:1 Erläuterungen zur Vulgata in latinisiertem Franz. und Deutsch; Ende des 8. Jh.
  2. Straßburger Eide: Vertrag zwischen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen; 842.
  3. Sequenz von St. Eulalia, Gedicht; 880-890.

Franko-Provenzalisch

Frankoprovenzalisch wird in den nordwestlichen Alpen (nördlich des Genfer Sees) gesprochen, also etwa in einem Dreieck ‘Lyon - Grenoble - Genf’ (anders gesagt: in der französischsprachigen Schweiz, im Aostatal, im Dauphiné und einem Teil der Franche-Comté). Es ist eine zwischen dem Französischen und dem Italienischen stehende Dialektgruppe, die von G.I. Ascoli so genannt wurde. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Alexandergedicht des Alberich von Besançon; 11. Jh.
  2. Vasallenliste eines Fürsten; Mitte des 13. Jh.

Frankoprovenzalisch hat sich nie gegen das Französische durchgesetzt und auch ihm gegenüber nie eine Literatursprache entwickelt. Die meisten Varietäten sind um 2000 ausgestorben; ein paar existieren noch als ländliche, nur gesprochene Sprache.

Provenzalisch

Provenzalisch wird etwa in der Provence (Südfrankreich bis nach Piemont im Osten) gesprochen. Die Sprache heißt auch Okzitanisch (< frz. ‘langue d'oc’).2 Aus dem Ende des 10. Jh. stammen die ersten Dokumente, die provenzalische Eide enthalten. Die ältesten kompletten Sprachdenkmäler sind:

  1. Boecis, d.h. Gedicht über Boethius; um 1050.
  2. Vermächtnis des Ademars Odt; 1102.

Im 12. Jh. bildete sich eine Literatursprache aus, in der die höfische Poesie der Troubadoure abgefaßt war. Okzitanisch hatte bis Ende des 13. Jh. den Status einer Schriftsprache, existiert jedoch derzeit nur in Form ziemlich verschiedener Dialekte.

Gaskognisch

Gaskognisch wird in der Gaskogne (Südwestfrankreich, von der Garonne bis zu den Pyrenäen) gesprochen und bildet gemeinsam mit dem Katalanischen den Übergang vom Galloromanischen zum Iberoromanischen. Die ältesten Texte sind:

  1. Gaskognische Strophe im descort des Raimbaut de Vaqueiras; Ende des 12. Jh.
  2. Akten der Kommanderie des Tempels von Montsaunès; seit 1179.

Katalanisch

Katalanisch ist ein Dialektkontinuum, das von Roussillon (Ostpyrenäen) über Andorra, die spanische Mittelmeerküste bis etwa Valencia reicht und die Balearen einschließt (→ Mallorquinisch). Katalanisch steht in mancher Beziehung zwischen Okzitanisch und Kastilisch. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Homilienbuch der Kirche von Organyà; um 1200.
  2. Poesie und Prosa des Ramon Llull (1235-1315).

Katalanisch hatte im Mittelalter den Status einer offiziellen Sprache, wurde in der Neuzeit stark vom Kastilischen überlagert.

Spanisch

Spanisch hat (wie Italienisch) zunächst nicht existiert. Stattdessen entstanden auf dem Boden der iberischen Halbinsel eine Reihe von romanischen Varietäten und Dialekten, über die seit der Reconquista bis heute graduell das Kastilische (später in ‘Spanisch’ umbenannt) gestülpt wurde. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Emilianische Glossen. Das sind spanische (neben lateinischen und baskischen) Glossen zu dem lateinischen Códice Emilianense 60, Kloster S. Millan de la Cogolla; Mitte des 10. Jh.
  2. Silensische Glossen, Kloster S. Domingo de Silos; Mitte des 10. Jh.

Portugiesisch/Galizisch

Portugiesisch wird in Europa nur in Portugal, Galizisch in Galizien (Nordwestspanien) gesprochen. Sie waren bis ins hohe Mittelalter eine einzige Sprache. Die ältesten Sprachdenkmäler sind:

  1. Testament der Elvira Sanchez; 1193.
  2. Poesie des Königs Dom Denis (1279-1323).

Portugiesisch wird heute in Portugal, Brasilien, Angola und Mosambik gesprochen, mit teilweise erheblichen Dialektunterschieden.

Mittel- und Neulatein

Das Lateinische ist in gewissem Sinne eine der romanischen Sprachen. Der Vatikan gibt 1998 ein Neues Latein-Lexikon heraus. Es übersetzt 15.000 moderne Wörter aus Wissenschaft, Technik, Politik, Sport und Alltagsleben. Beispiele:

2. Textproben

Teutpertus (= Notar des Vertrages), Vertrag zwischen Astruda und Gudolus (Lucca, 804). Pulgram L73 (Ergänzungen: Barsocchini CCCXVIII). Die jeweils erste Zeile enthält den Originaltext, die zweite und dritte Zeile eine neuitalienische und lateinische Fassung nach Pulgram.

(... : quidem et vobis reddere debeamus per singulos annos medietatem auvalis, quas de ipsa res Dominus donare dignatus fuerit, ...)

(1)... et per omnes vendemia reddere debeamusmedio porco ualente
 e con ogni vendemmiadobbiamo rendereun mezzo porco valente
 et pro omnibus vindemiis dedere debemusmedium porcum
 “und bei jeder Weinlese müssen wir euch ein halbes Schwein geben im Wert”
(2)dinari sexet tres pani boni mundiet duo casii mediogrii;
 sei dinarie tre pani buoni purie due formaggi mezzani;
 sex denariumet tres panes bonos mundoset duo caseos mediae magnitudinis;
 “ von sechs Denaren, drei gute, reine Brote und zwei mittelgroße Käse;”
(3)seu et dua fila fica sicche boneet inter cici, farro et linticle
 e anche due fili di buoni fichi secchie con questo ceci, farro e lenticchie
 etiam duo fila ficorum siccorum bonorum,item cicerorum, farris et lenti(cular)um
 “außerdem zwei Schnüre guter trockener Feigen und dabei einen Sack Kichererbsen, Spelt und Linsen,”
(4)sistario uno,et per singulos annosvobis reddere debeamustres
 uno sistario, e ogni annoa voi rendere dobbiamotre
 unum sistarium,et per singulos annosvobis dedere debemustres
 “und jedes Jahr müssen wir euch drei”
(5)pulli cum quindecim ovas, ...
 polli con quindici uova
 pullos cum quindecim ovis
 “Hühner mit 15 Eiern geben.”

(... angaria vero per singulos annos vobis facere debeamus ebdomatas quinque in suprascripto loco Feruniano, sive et in Corsanico, adque vobis inibi autilitas fuerit.)


Formula di Confessione Umbra, (Kloster Sant'Eustizio in Campi, Norcia, Umbrien, ca. 1090)

(50 Zeilen: Z.1-30: Beichte, Z.31-45: Worte des Priesters, Z.46ff.: Absolution (lat.)).

Zeilen 10-12. Pulgram I4.4. Die jeweils erste Zeile enthält den Originaltext, welcher stark abgekürzt ist. Die jeweils zweite Zeile bietet eine von Philologen erstellte Fassung mit Auflösung dieser Abkürzungen, die dritte Zeile eine neuitalienische Fassung von Pulgram.

(10)m acc delugenito
 ... Miserere. Accusome delu genitore
 Abbi pietà! mi accuso del mio genitore
 “Erbarme dich! Ich klage mich an wegen meines Vaters,”
(11)re meu & dela genitce mia de lipximi mi kece
 meu et de la genitrice mia et deli proximi mei, ke ce
 e della mia genitrice e dei miei <parenti> prossimi perchè
 “meiner Mutter und meiner nächsten Verwandten, daß”
(12)nabbi qulladilectioe ke me seniõ ddeu comandao...
 non abbi quella dilectione ke mesenior Dominideu commandao.
 non ci ebbi quello affetto che il Signore Dio comandò.
 “ich für sie nicht die Liebe hatte, die mein Herrgott befohlen hat.”

Text: 10 Miserere. Accusome Pulgram, m' accuso Flechia. delu Pulgram, de lu Flechia, Castellani
11 deli Pulgram, de li Flechia, Castellani
12 mesenior Pulgram, me senior Castellani, me seniore Flechia; Dominideu Pulgram, domini deu Flechia.

3. Genetisch-areale Gliederung der Romania

Die romanischen Sprachen werden nach verschiedenen Kriterien gruppiert, die hier dargestellt sind. Die Gliederung in Zentral- vs. Randromanisch ergibt sich vor allem daraus, daß die Randzonen in mancher Beziehung konservativer waren als das Zentrum. Daher sind im Iberoromanischen (ebenso wie im Rumänischen) nicht selten Archaismen oder jedenfalls relativ alte Zustände erhalten. Das gilt z.B. auch für magis im Gegensatz zu plus zur Bildung des Komparativs: Das Vulgärlateinische hatte den synthetischen Komparativ durch die erstere Partikel erneuert; die zentralromanischen Sprachen neuerten noch einmal durch Verwendung der letzteren. Mehr Beispiele in Penny 1991:8f.


1 Glossen sind Randbemerkungen in einem Manuskript, die es verständlich machen sollen. Die frühromanischen Glossen sollen unverständliche lateinische Wörter erklären, durch romanische oder ggf. germanische.

2 In der französischen Wissenschaft hat man bereits im 13. Jh. die in Frankreich gesprochenen Varietäten eingeteilt nach dem Kriterium, wie man dort ‘ja’ sagt: in der langue d'oil (i.e. Französisch) sagt man oui; in der langue d'oc sagt man oc.