Die einer Typologie zugrundegelegten Eigenschaften sollen, wie gesagt, wesentlich sein. Da die Sprache eine systematische Tätigkeit ist, sind Sprachtypologien Typologien von Sprachsystemen. Sprachtypologie ist also eine Disziplin der Systemlinguistik. Selbstverständlich könnte man Sprachen auch danach typisieren, ob sie in heißen oder kalten Gegenden gesprochen werden oder – dieses wird tatsächlich gemacht – danach, ob sie bloß gesprochene Sprachen sind oder auch eine Schriftkultur haben. Solche Kriterien treffen aber nach linguistischem Verständnis nicht das Wesen der Sprache.

Die Kriterien einer Sprachtypologie sollen

  1. wesentlich für Sprache (‘langage’) sein,
  2. wesentlich für die typologisierten Sprachen (‘langues’) sein,
  3. Sprachen maximal voneinander unterscheiden,
  4. regelhaft sein.

Ad 1: Da es das Wesen der Sprache ist, Ausdruck mit Inhalt zu verknüpfen, ist dies Erfordernis so zu interpretieren, daß die Kriterien die Assoziation von Ausdruck und Inhalt betreffen sollen. Daraus folgt, daß solche linguistischen Typologien, die auf Eigenschaften der Grammatik und des Lexikons beruhen, größere Chancen haben, das Wesentliche zu treffen, als solche Typologien, die auf rein phonologischen oder rein semantischen Merkmalen beruhen.

Ad 2: Als Kriterium dafür, was für eine gegebene Sprache wesentlich ist, kann gelten, daß es nicht bzw. in vergleichsweise geringem Maße der Variation unterliegt, daß es also stabil bleibt. In diesem Zusammenhang wird im allgemeinen die diachrone Variation herangezogen. Es wird daher gefordert, daß die Merkmale, auf denen die Typologie basiert, diachron stabil seien. Dies wird im Kapitel über diachrone Typologie ausführlicher besprochen. Hier kann vorweggenommen werden, daß damit ein hoher Anspruch an die Sprachtypologie formuliert ist, den sie bisher nicht hat einlösen können.

Ad 3: Allen Sprachen liegt eine gemeinsame Substanz zugrunde, nämlich der Inbegriff des Artikulier- und Hörbaren als Ausdruckssubstanz, der Inbegriff des Denk- und Kommunizierbaren als Inhaltssubstanz. Diese Substanz wird in der Phonologie einerseits und der Semantik andererseits sprachlich geformt (s. ‘Form vs. Substanz in der Sprache’). Diese phonologischen und semantischen Formen – auch Significantia und Significata genannt – werden in jeder Sprache auf eigene Weise miteinander assoziiert. Die Assoziation selbst ist also dasjenige, was am weitesten von der gemeinsamen Substanz entfernt ist, worin sich also die Sprachen am stärksten unterscheiden. Auch dieses Erfordernis verweist (wie das erste) phonologische und semantische Typologie gegenüber grammatischer und lexikalischer Typologie auf den zweiten Rang.

In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, daß Sprachen sich nicht wesentlich darin unterscheiden, was sie ausdrücken können, sondern was sie ausdrücken müssen.1 Dies ist durch die Grammatik geregelt. Hieraus ergibt sich, daß grammatische vor lexikalischer Typologie den Vorrang hat. Der Zwang, etwas auszudrücken, steigt mit dem Grad der Grammatikalisierung einer Kategorie. Die Morphologie ist stärker grammatikalisiert als die Syntax. Hieraus ergibt sich, daß die morphologische Typologie im Zentrum der Sprachtypologie steht.

Ad 4: Die Regelhaftigkeit der zu untersuchenden Merkmale ergibt sich einerseits aus dem Wesen der Sprache als systematischer Tätigkeit, andererseits aber auch aus dem methodischen Erfordernis, daß Generalisierungen aufgestellt und Zusammenhänge aufgedeckt werden sollen. Auch dieses Erfordernis engt den infrage kommenden Bereich auf die Grammatik ein und schließt das Lexikon aus. Genau genommen schließt es das aus, was am Lexikon idiosynkratisch ist, während die im Lexikon kodierten grammatischen Eigenschaften durchaus bedeutsam sein können.

Das Fazit dieser Überlegungen ist, daß im Zentrum der Sprachtypologie die Grammatik steht, und zwar genauer, nach Kriterium #3, die Morphologie. Diese letztere Festlegung hat in der Sprachtypologie des 19. Jh. tatsächlich überwogen, während sie im 20. Jh. schrittweise fallengelassen wurde.


1

Thus the true difference between languages is not in what may or may not be expressed but in what must or must not be conveyed by the speakers. (Jakobson 1959:142)