‘Verwandtschaft zwischen Sprachen’ ist jedenfalls eine Metapher, denn sie entsteht nicht auf dieselbe (biologische oder soziale) Weise wie bei Lebewesen. Wir fragen daher besser, was für Arten von Beziehungen zwischen Sprachen bestehen können. Wie zwischen allen historischen Objekten, sind sie grundsätzlich von zweierlei Art: Beziehungen der Kontiguität und Beziehungen der Similarität.

Natürlich kann Kontiguität zu verschiedenen Arten von Ähnlichkeit führen. Dann entsteht das methodische Problem, ob eine Ähnlichkeit, die sich aus dem Vergleich ergibt, bloß eine typologische Ähnlichkeit oder Folge einer historischen Kontiguität ist. Von diesem Standpunkt betrachtet, sind die Entsprechungen zwischen zwei Sprachen, die auf historischen Kontakt zurückgehen, eine Teilmenge aller zwischen ihnen bestehenden Ähnlichkeiten; und das methodische Problem besteht darin, diese Teilmenge zu identifizieren.

Historische Beziehungen zwischen Sprachen werden weiter unterteilt in genetische Verwandtschaft und Kontakt- oder Lehnverwandtschaft. Wenn man sie auf die Zeitachse projiziert, ist eine genetische Beziehung eine der Divergenz einer anfangs einheitlichen Sprache, während eine Kontaktbeziehung eine der Konvergenz zwischen zwei ursprünglich getrennten Sprachen ist. Wenn man die Geschichte der beteiligten Sprachen kennt, sind die beiden Beziehungen leicht zu unterscheiden. Ein methodologisches Problem entsteht, wenn die Entsprechung im frühesten belegten Stadium oder sogar in vorgeschichtlichen Stadien der betreffenden Sprachen beobachtet bzw. angesetzt wird, denn das Unterscheidungskriterium – Konvergenz vs. Divergenz – liegt ex hypothesi vor diesem Punkt und ist dann nicht historisch kontrollierbar.

Als vorläufiges Beispiel für die Interpretation von Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen betrachten wir eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen. Es ist das schon zuvor behandelte pränominale possessive Attribut im Dativ, wie in B1 und B2.

B1.azorvos-nakamunká-ja
UngDEFArzt-DATDEFArbeit-POSS.3.SG
“die Arbeit des Arztes”
B2.dem Arzt seine Arbeit

Pränominale possessive Attribute nebst Possessivpronomen bzw. Possessivsuffix am Possessum kommen auch sonst vor, z.B. im Türkischen. Was Türkisch und Deutsch angeht, handelt es sich gewiß nur um eine typologische Ähnlichkeit, denn die dauerhaften historischen Kontakte zwischen den beiden Sprachen begannen erst in den sechziger Jahren des 20 Jh. Zwischen Deutsch und Ungarisch aber gibt es jahrhundertealte historische Kontiguität. Diese Konstruktion kann also theoretisch aus einer beiden gemeinsamen Ursprache ererbt oder von der einen in die andere Sprache entlehnt sein. (Letzteres ist tatsächlich der Fall.)