Sprachgeschichte hat faktische und theoretische Voraussetzungen. Die faktische Voraussetzung besteht i.w. darin, daß es Daten gibt. Das sind Dokumente, und zwar für alle Sprachstadien, die vor 1877 (Erfindung des Phonographen) liegen, notwendigerweise schriftliche Dokumente.

Hieraus folgt, daß Sprachgeschichte in erster Linie die Geschichte einer geschriebenen Sprache ist. Jede natürliche Sprache ist aber in erster Linie gesprochene Sprache. Die Schriftsprache ist erstens in systematischer Hinsicht von der gesprochenen abgeleitet, zweitens quantitativ in der Kommunikation der Sprachgemeinschaft nachrangig und drittens in wesentlichen Hinsichten weniger vielfältig. Der zweite und dritte Unterschied sind besonders gravierend im Falle von antiken und mittelalterlichen Sprachen, weil in jenen Epochen nur ein kleiner Prozentsatz der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft literat war (lesen und schreiben konnte).

Es ergibt sich ein gravierendes Problem der Repräsentativität der Daten. Erst im 20. Jh. sind praktisch alle Arten von Kommunikationsereignissen (kurz: Textsorten) schriftlich oder technisch aufgezeichnet worden, so daß die Dokumentation repräsentativ sein kann. Im Altertum und Mittelalter sind nur ausgewählte Textsorten überhaupt geschrieben worden, und von diesen sind uns wiederum nur einige überliefert worden. Die uns verfügbaren Dokumente für Sprachen wie Latein und Altfranzösisch sind ganz sicher nicht repräsentativ für diese Sprachen. Man kann aus ihnen die betreffenden Schriftsprachen zu einem gewissen Grade rekonstruieren. Die mündliche Sprache ist dagegen selbst gar nicht belegt. Man kann sie nur mit Methoden, die Abweichungen vom schriftlichen Standard erkennen und interpretieren, zu einem gewissen Grade rekonstruieren.

Die wichtigste theoretische Voraussetzung der Geschichte einer Sprache ist ihre Identität. Für deren Konzeption müßte es im Prinzip rein linguistische Kriterien geben. Immer angeführt wird das pragmalinguistische Kriterium wechselseitiger Verständlichkeit:

Zwei Idiome sind – synchrone oder diachrone – Varietäten – also Stadien oder Dialekte/Soziolekte – einer Sprache, wenn sie wechselseitig verständlich sind.

Das Kriterium ist theoretisch wohlbegründet, aber in der Praxis sehr schwer zu operationalisieren, weil es von einer Fülle für das Problem irrelevanter Faktoren abhängt, ob zwei Personen sich verstehen. Es ist auch in der Empirie häufig nicht ausschlaggebend. Z.B. sind mehrere deutsche Dialekte wie Hochdeutsch und Niederdeutsch nicht wechselseitig verständlich und gehören doch zu einer Sprache; und andererseits sind einige romanische Sprachen, wie etwa Katalanisch und Provenzalisch, ganz gut wechselseitig verständlich, aber eben verschiedene Sprachen.

Das in der Praxis ausschlaggebende Kriterium der Identität einer Sprache ist das kulturell-politisch motivierte, geschichtlich gewachsene Bewußtsein ihrer Sprachgemeinschaft.

Bereits diese Feststellung beweist, daß eine Sprache (‘langue’) eine historische Entität (und nicht lediglich, im Sinne der Strukturalisten, ein System) ist. Daher wird innerhalb der Sprachgeschichte folgender Unterschied gemacht: