Angenommen eine begriffliche Unterscheidung zwischen Grammatik1 als Teil einer Sprache und Grammatik2 als linguistische Beschreibung davon, so ist eine generative Grammatik eine Grammatik2, welche die Grammatik1 einer Sprache dadurch beschreibt, daß sie deren (“grammatische”) Sätze “aufzählt”. Die Grammatik2 ist ein Algorithmus, der die Sätze der Sprache zusammen mit einer Strukturbeschreibung generiert (erzeugt). Wendet man den Algorithmus unendlich oft an, erzeugt er die unendliche Menge der Sätze einer Sprache. Wenn die so erzeugte Menge alle und nur die grammatischen Sätze der Sprache enthält, ist die Grammatik2 ein korrektes Modell der Grammatik1. Der Begriff der generativen Grammatik steht damit in unmittelbarem Gegensatz zur Erkennungsgrammatik, die vorgegebene Sätze analysiert und ihnen eine Strukturbeschreibung zuordnet.

Die erste generative Grammatik, welche in der Linguistik weithin Fuß faßte, wurde Ende der 1950er Jahre von Noam Chomsky (Cambridge, Massachusetts Institute of Technology) konzipiert und in dem Buch Aspects of the theory of syntax (1965) als linguistisches Modell etabliert. Seitdem bezeichnet der Ausdruck generative Grammatik das Grammatikmodell, welches auf Chomsky zurückgeht und seitdem von ihm und seinen Anhängern weiterentwickelt worden ist. Es hat im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche durchgreifende Änderungen der formalen Theorie gegeben, von denen die meisten auf Chomsky zurückgehen. Er hat auch der Theorie immer neue Namen gegeben: Extended Standard Theory, Government and Binding, Principles and Parameters, Minimalist Program, Theoretical Linguistics.

Eine Reihe von Grundannahmen sind bei allen Änderungen der formalen Aspekte über die Jahrzehnte konstant geblieben:

  1. Die Syntax ist der zentrale Teil des Sprachsystems. Sie ist autonom, d.h. ihre Regularitäten hängen nicht von anderen Komponenten des Sprachsystems, insbesondere nicht von der Semantik ab. Sie kann daher vollständig durch ein mathematisches Modell (eine Art von Algebra) beschrieben werden.
  2. Die Grammatik1 einer Sprache ist ein Modul im Geist eines idealen Sprecher-Hörers, seine Sprachkompetenz. Wirkliche Sprecher-Hörer haben Instanzen dieses Moduls im Kopf, welche sie benutzen, wenn sie – in der Performanz – sprechen und verstehen.
  3. Für die Grammatik1 = Sprachkompetenz gibt es eine genetische Grundlage, die “universale Grammatik”. Sie befähigt ein Kleinkind, innerhalb kurzer Zeit eine Sprache zu lernen, was es allein aufgrund von Induktion und Abduktion aus den ihm von seinen Bezugspersonen gebotenen Daten niemals könnte. In dieser Funktion ist die ‘universale Grammatik’ ein Spracherwerbsmechanismus (engl. language acquisition device).
  4. Universale Eigenschaften der Grammatiken der Sprachen der Welt spielen eine große Rolle in dem Modell. Im Einklang mit Postulat #1 werden sie jedoch nicht funktional, also nicht unter Bezug auf die Bedingungen, unter denen menschliche Sprachtätigkeit stattfindet, erklärt, sondern sie werden dem menschlichen Genom zugeschrieben.
  5. Das Modell sieht völlig ab von der tatsächlich in der Sprache bestehenden Variation. Im Zentrum des Interesses des Forschers steht die Grammatik, genauer die Kompetenz des Sprechers i.S.v. #2; Sprache ist ein “Epiphänomen” davon.
  6. Da die generative Grammatik die Kompetenz eines idealen Sprecher-Hörers modelliert, ist sie nicht unmittelbar durch das, was tatsächliche Sprecher-Hörer tun und wissen, also z.B. durch in Corpora vorkommende Sprachdaten, falsifizierbar. Ebensowenig gibt es wissenschaftliche Methoden, die zur Gewinnung relevanter Hypothesen führen könnten. Eine Grammatik2 ist die Theorie einer Sprache, und sie entsteht dadurch, daß sie postuliert wird.

Die meisten dieser Grundannahmen stehen in der Tradition des amerikanischen Strukturalismus, insbesondere des Distributionalismus, der 1930er bis 1960er Jahre. Der wesentlichste Unterschied der generativen Grammatik zu diesem besteht darin, daß letzterer grammatische Beschreibung in erster Linie als eine methodische Frage aufzog, während Chomsky gerade die These #6 dagegen setzte.

Solche Grundannahmen schienen in den 1960er Jahren der Linguistik neue Horizonte zu eröffnen. In Wahrheit jedoch implizieren sie Beschränkungen der generativen Grammatik, welche ihre Reichweite innerhalb des gesamten Spektrums der Linguistik auf einen relativ kleinen Bereich reduzieren:

  1. Das Modell erfaßt nicht nur die psychischen/kognitiven, sozialen/kommunikativen, kulturellen und historischen Aspekte der Sprache nicht, sondern es ist auch nicht an benachbarte linguistische Theorien, die sich eben diesen Aspekten der Sprache widmen, anschließbar.
  2. Dies liegt wesentlich daran, daß es den Gegenstand der Linguistik, nämlich die Sprache, fehlkonzipiert. Sprache ist Verständigung. Ihr System mit seiner Struktur ist kein Selbstzweck oder gar zweckfrei vorgegeben, sondern ist Mittel zum Zweck der gemeinsamen Erzeugung von Sinn. Eine wissenschaftliche Theorie kann die Sprache daher nur erfassen, wenn sie der Semantik eine zentrale Position einräumt und jederzeit systematisch auf die außersprachlichen Bedingungen der Sprachtätigkeit Bezug nehmen kann. Deshalb bietet die generative Grammatik nicht einmal für den Gegenstand der allgemeinen und deskriptiven Sprachwissenschaft eine hinreichende Theorie (insofern ist die Autodenomination ‘Theoretische Linguistik’ realitätsfremd).
  3. Nicht zuletzt ist das Modell von keinerlei praktischer Relevanz, d.h. es lassen sich daraus keine Anwendungen wie etwa Grammatiken für den Sprachunterricht oder Computerprogramme zur Sprachverarbeitung ableiten, und es leistet keinen Beitrag zu dem einzigen dringenden Problem der Linguistik, der Dokumentation aussterbender Sprachen. M.a.W., das Modell ist unfruchtbar.
  4. Das vielleicht entscheidende Manko ist – als Folge von These #6 – das völlige Fehlen von Methoden; ohne Methoden aber gibt es keine Wissenschaft.

Anfang der 1970er Jahre wurden diese Eigenschaften der generativen Grammatik so offenbar, daß die neu entstandenen Kapazitäten der Linguistik überwiegend anderen Zielen und Zweigen der Wissenschaft gewidmet wurden. Strömungen wie die Psycholinguistik, Soziolinguistik und – innerhalb der allgemeinen Sprachwissenschaft selbst – die funktionale Linguistik, Sprachtypologie und Dokumentation von Minderheitssprachen bekamen Auftrieb und kamen ohne generative Grammatik aus.