Definition

Possession (lat., “Besitz(verhältnis)”) ist innerhalb der Linguistik die Bezeichnung sowohl für eine Relation als auch für eine funktionale Domäne, die sich um diese Relation kristallisiert. Die possessive Relation ist als prototypischer Begriff wie folgt konzipiert:

  1. Es ist eine binäre Relation R zwischen den Entitäten (Referenten) X, dem Possessor, und Y, dem Possessum.
  2. Die Relation (s. zur Relationenlogik) ist asymmetrisch und typischerweise ein-mehrdeutig. Sie ist nicht prinzipiell katenativ, kann es aber in bestimmten Fällen sein und kann dann (bes. als Teil-Ganzes-Relation) auch transitiv sein.
  3. X ist typischwerweise hoch empathisch und folglich individuiert und nicht-relational.
  4. Y hat typischerweise niedrigere Empathie als X, ist aber ebenfalls ein konkreter Gegenstand (unter Ausschluß noch niedrigerer Stufen der Empathiehierarchie).
  5. Im unmarkierten Falle ist Y relational.
  6. Abgesehen von der durch Bedingung #5 gegebenen Intension ist die Intension von R typischerweise leer, d.h. über sie wird außerhalb von X und Y nichts gesagt.

Wenn Bedingungen #3 und #4 erfüllt sind, dann kontrolliert X typischerweise Y.

Eine possessive Konstruktion ist eine Konstruktion, die von einer possessiven Relation konstituiert wird.

Nach dieser Definition ist eine fokale Instanz einer possessiven Konstruktion:

.meine Hand (Possessor: ich; Possessum: Hand)
.Ernas Mutter (Possessor: Erna; Possessum: Mutter)
.der Grund des Meeres (Possessor: Meer; Possessum: Grund).

dagegen erfüllt Bedingung #4 nicht; erfüllt Bedingung #3 nicht. Da sie jedoch nur eine von insgesamt sechs Bedingungen nicht erfüllen, sind es auch possessive Konstruktionen.

Die Kriterien der Prototypizität haben vor allem mit der strukturellen Komplexität der Konstruktionen zu tun, die Possession kodieren. Allgemein ist festzustellen, daß eine Konstruktion, die prototypische Verhältnisse wiedergibt, strukturell relativ einfach ist, während eine Konstruktion, deren Bedeutung vom Prototyp abweicht, strukturell aufwendiger ist. Man sieht dies bereits im Vergleich von mit und : Der Possessor in ist maximal prototypisch. Das Possessivpronomen kodiert daher nur den Possessor und die possessive Relation; weiter wird nichts benötigt. Ähnlich steht der immer noch ziemlich prototypische Possessor von einfach im Genitiv, ohne weitere Zutat. Bei dem untypischen Possessor von hingegen ist nur eine postnominale Konstruktion möglich; und sie erfordert zusätzlich zum Genitiv, daß das Possessumnominal vom definiten Artikel begleitet sei.

Abgrenzung

Angesichts der Beispiele könnte man als deutscher Leser wähnen, Possession wäre bloß ein neuer Name für Genitivattribution. Das ist in zweierlei Hinsicht nicht so:

  1. Genitivattribution kodiert auch viele Verhältnisse, die nach der Definition nicht possessiv sind.
  2. Unter Possession fallen noch eine Reihe weiterer Konstruktionen.

Ad #1: Ausdrücke wie Not des Augenblicks, Mann von Welt, Beginn des Vortrags und viele andere weisen Genitivattribution auf, sind aber nach der Definition nicht oder bestenfalls marginal possessiv. Ausgeschlossen sind insbesondere die Konstruktionen aus einem nominalisierten Verb und seinen Dependenten (Genitivus subjectivus und objectivus), wie in die Entdeckung des Columbus, die Entdeckung Amerikas, der Entdecker Amerikas.

Ad #2: Die Definition sagt nichts über die Struktur possessiver Konstruktionen. Es können nominale, aber auch verbale Konstruktionen sein. Und im Kern der Konstruktion kann das Possessum stehen, wie in , aber auch der Possessor.

Diese mehrdeutige Zuordnung von Funktionen und Strukturen ist gerade mit Beispielen aus der Possession auf der Seite über Onomasiologie und Semasiologie illustriert.

Da Possession “Besitz” bedeutet, liegt auch der Gedanke nahe, Konstruktionen wie f müßten typische possessive Konstruktionen sein:

.Ernas Kugelschreiber
.die Grundstücke der Nachbarn

Hier wird in der Tat ein Besitzverhältnis im juristischen Sinne ausgedrückt. Dies ist eine zwar mögliche und in bestimmten Sprachen häufige, jedoch nicht definitorische semantische Ausprägung des possessiven Verhältnisses. Bedingung #5 ist nicht erfüllt, und entgegen Bedingung #6 ist die Relation semantisch spezifisch, da sie ja gerade mit Eigentum zu tun hat.

Possession als funktionale Domäne der Sprache ist eine kognitive Domäne, die sich um die possessive Relation kristallisiert und nach den im folgenden zu besprechenden Parametern ausdifferenziert ist.

Possession in der Referenz und der Prädikation

Ein possessives Verhältnis zwischen X und Y kann vorausgesetzt oder ausgesagt werden.

Dabei ist zu beachten, daß ein possessives Verhältnis, das Bedingung #5 erfüllt, dem Possessum inhäriert, zwar nicht in dem Sinne, daß dem Y die Beziehung zu einem bestimmten X inhärierte, wohl aber so, daß ihm die Beziehung zu überhaupt einem X inhäriert. Daher ist es semantisch auffällig, einem solchen X ein possessives Verhältnis zuzuschreiben. Vgl. - .

Possession in der Referenz

Die Referenz wird geleistet durch ein referierendes Nominalsyntagma. Dieses kann Y identifizieren als das Possessum von X. Falls zum Ausdruck der Relation ein Kasusrelator eingesetzt wird, ist es typischerweise der Genitiv oder eine Adposition gleicher Funktion (dt. von), die an dem X (den Possessor) repräsentierenden NS auftreten. Die allgemeine Struktur dieser Konstruktion ist mithin die folgende:

[ [ X ]NS-Gen [ Y ]Nom ]NS

Die Wortstellung ist nicht abgebildet. ist ein Beispiel.

.Bübchens Baseballmütze

Oder ein solches referentielles NS kann X identifizieren als den Possessor von Y. Falls hierfür wieder ein Kasusrelator verwendet wird, kodiert er eine Relation, die zu der vom Genitiv ausgedrückten Relation konvers ist. Ein Kasus, der dies leistet, heißt Proprietiv. Wenn eine Sprache nicht einen solchen dedizierten Kasus hat, dient auch eine soziative oder komitative Adposition (dt. mit). Der Relator tritt jedenfalls an dem NS auf, welches Y (das Possessum) repräsentiert. ist ein Beispiel:

.das Bübchen mit der Baseballmütze

Wie man sieht, ist die Konstruktion von aufwendiger als die von . Die letztere ist auch in Texten ungleich häufiger und für das System zentraler. Man kann daher die Hypothese wagen, daß wenn eine Sprache einen Proprietiv hat, sie auch einen Genitiv hat. Diese Asymmetrie geht unmittelbar auf die Asymmetrie der possessiven Relation zurück und insbesondere auf deren Eigenschaft #2, ein-mehrdeutig zu sein.

Die interlingual häufigste Alternative zum Genitiv ist das Possessivpronomen oder -affix, welches zusätzlich zum nominalen Possessor auftritt und mit diesem kongruiert. Diese Konstruktion hat folgende allgemeine Struktur:

[ [ Xi ]NS [ Poss.proni [ Y ]Nom ]NS ]NS

Der Index i bezieht sich auf die Kategorien des Possessors, welche das Possessivpronomen aufnimmt. ist ein Beispiel:

.ux-ba'yHwaan
Yuk[ POSS.3F-Koffer ]Hans
“Hans' Koffer”

Diese Konstruktion existiert auch im deutschen Substandard (Hans sein Koffer). In der Konstruktion mit Genitiv () wird die possessive Relation dezentral, nämlich am Dependenten, markiert. In der Konstruktion mit kongruierendem Possessivpronomen () wird sie dagegen zentral, nämlich am Kern, markiert. Diese beiden Konstruktionen instantiieren daher den exzentrischen gegenüber dem konzentrischen Konstruktionstyp.

Possession in der Prädikation

Eine possessive Prädikation nimmt einen der beiden Terme der Relation zum Ausgangspunkt – in vielen Sprachen einschließlich Deutsch zum Subjekt – und prädiziert darüber die Relation zu dem anderen. Wenn Y das Subjekt ist, so prädiziert man darüber seine Zugehörigkeit zu X. Für die Zugehörigkeitsprädikation kann es ein besonderes Verb geben, wie das deutsche gehören in .a. Andernfalls genügt auch die Bildung eines possessiven Nominalsyntagmas mit anaphorisch-leerem Possessum, welches dem Subjekt mithilfe der Kopula zugeschrieben wird, wie in .b. In anderen Sprachen wie Yukatekisch wird in diesem Falle ein Dummy-Possessum (ti'a'l “besessenes Ding”) benötigt, wie in .

.a.Die Zigarette gehört dem Mädelchen.
b.Die Zigarette ist Ernas.
c.Die Zigarette ist dem Mädelchen.
.Ati'a'llenah-a'hosehwáahuti'a'lleti' ?
[ POSS.2Besitz ]DEFHaus-D1Josefoder[ [ POSS.3Besitz ]er ]
“Gehört dieses Haus dir, Josef, oder ihm?” (BVS 05.01.20)

In vielen Sprachen steht der Possessor in einer Zugehörigkeitsprädikation im Dativ und wird mithilfe der Kopula zum Subjekt in Beziehung gesetzt. Im Deutschen gibt es das nur in Dialekten bzw. im Substandard, wie in .c.

Wenn hingegen X das Subjekt einer possessiven Prädikation ist, so schreibt man diesem den Besitz von Y zu. Für die Besitzzuschreibung gibt es in mehreren Sprachen ein besonderes Verb, nämlich ‘haben’, wie in .

.Das Mädelchen hat Zigaretten.

Ebenso wie die beiden nominalen possessiven Konstruktionen und somit die in ihnen auftretenden Relatoren zueinander konvers sind, sind auch die in und auftretenden Verben ‘sein’ und ‘haben’ zueinander konvers. Und ähnlich wie dort der Kasus ist hier dasjenige Verb, welches das Possessum zum Subjekt nimmt, fundamental. Die meisten Sprachen kommen ohne ein Verb ‘haben’ aus und machen die Besitzzuschreibung mit Konstruktionen, die buchstäblich mit (bei) dem Mädelchen sind Zigaretten, des Mädelchens Zigaretten existieren (vgl. die so strukturierten Beispiele .a und b aus dem Yukatekischen) oder das Mädelchen ist mit Zigaretten wiederzugeben wären. Hier wird also die Relation mit Strukturmitteln kodiert, die wir zum Teil schon in einfacheren Konstruktionen gesehen haben.

.a.yaanteentsíimin
YukEXISTichPferd
“ich habe ein Pferd/Pferde”
.b.yaanintsíimin
EXIST[ POSS.1.SGPferd ]
“ich habe ein Pferd/Pferde”

Die Verben, die in possessiven Prädikationen die Beziehung zwischen X und Y herstellen, unterliegen der Bedingung #6 der Definition. In der Tat sind haben und sein reine Funktionswörter. Gehören ist semantisch nur wenig spezifischer, wie wir noch in §5 sehen werden. Daneben gibt es auch lexikalische Verben, die Besitz ausdrücken, z.B. besitzen, innehaben, eignen; bekommen, verlieren usw. Die genannten haben ihre Zweistelligkeit miteinander gemeinsam, sie setzen also lediglich Possessor und Possessum zueinander in Beziehung. Außerdem gibt es auch mehrstellige Verben wie geben, nehmen, kaufen, verkaufen usw., in deren lexikalischer Dekomposition u.a. eine possessive Relation auftritt, die aber Situationen mit mehr Partizipanten, z.B. kausative Situationen, bezeichnen.

Empathie des Possessors

Gemäß Bedingung #3 in der Eingangsdefinition ist der Possessor im einfachsten Falle hochempathisch. Für diesen Fall haben sehr viele Sprachen ein eigenes Strukturmittel, nämlich das Possessivpronomen, welches bereits zeigte und welches als morphologische Fusion des Possessors (der sonst als Personalpronomen erschiene) mit dem Kasusrelator analysiert werden kann. Das Resultat ist folglich geringere strukturelle Komplexität als bei weniger empathischen Possessoren. Aber auch wenn der Possessor durch ein Substantiv kodiert wird, ist die Konstruktion in manchen Sprachen einfacher, wenn er in der Empathiehierarchie über dem Possessum steht, als wenn das nicht der Fall ist.

.a.Tu'xyaanux-ba'yHwaan?
YukwoEXIST[ [ POSS.3F-Koffer ]Hans ]
“Wo ist Hans' Koffer?”
 b.Tu'xyaanux-ba'y-ilinnook'?
 woEXIST[ [ POSS.3F-Koffer-REL ][ POSS.1.SGKleid ] ]
“Wo ist der Koffer für meine Kleider?”

In .a ist der Possessor ein Mensch, in .b ist es ein Gegenstand. Folglich steht in #a der Possessor höher in der Empathiehierarchie als das Possessum, in #b dagegen nicht. Folglich liegt gemäß definitorischen Bedingungen #3 und #4 in #a der prototypische Fall vor, während #b davon abweicht. Eben dies wird durch das Relationalitätssuffix -il markiert, welches in #b am Possessum erscheint. Die possessive Relation wird durch dieses Suffix eigens hergestellt, da die anderen in der Konstruktion vorhandenen Komponenten dafür nicht ausreichen. Das Beispiel .b ist nur noch marginal possessiv und fällt teilweise schon in die benachbarte funktionale Domäne der Begriffsmodifikation.

Relationalität des Possessums

Allgemeines

Die Klasse der elementaren Substantive, die in den Sprachen der Welt üblicherweise grammatische Relationalität aufweisen, ist semantisch heterogen. Sie umfaßt nämlich mindestens die folgenden Teilklassen:

Relationale Substantive
FeldBeispiele
VerwandteMutter, Sohn, Nichte ...
KörperteileKopf, Nase, Hand ...
RaumregionenSeite, Spitze, Grund ...

Dazu kommen, in weniger systematischer Weise, noch andere wie z.B. ‘Stimme’, ‘Name’. Die bezeichneten Begriffe sind jedenfalls primär relational; d.h. sie als absolut zu behandeln erfordert eine besondere Operation. Raumregionen bezeichnende Substantive werden in vielen Sprachen von Körperteilsubstantiven abgeleitet, so daß sie insofern zusammengruppiert werden können, während Verwandtschaftsbegriffe jedenfalls völlig anderer Natur sind. Tatsächlich aber sind die Begriffe von Raumregionen kognitiv am schwersten zu derelationieren; eine Rückseite, die von nichts die Rückseite ist, kann man nur unter besonderen Bedingungen konzipieren. Raumregionen sind daher in mancher Beziehung der harte Kern der primär relationalen Begriffe.

Gemäß Bedingung #5 der Eingangsdefinition ist Y im einfachsten Falle relational. In diesem Falle setzen viele Sprachen kein besonderes Ausdrucksmittel der Possession ein. Das Koreanische z.B. hat einen Genitiv. Dieser ist in nicht-prototypischen possessiven Konstruktionen, wie in , obligatorisch. Ist das Possessum Teil eines Ganzen, wie in , ist er optional. Ist es eine Raumregion, wie in , erscheint er nicht, d.h. die Konstruktion ist bloße Juxtaposition von Possessor und Possessum.

.hankuk-ʉimunhwa
KorKorea-GENKultur
“Koreas Kultur”
.cip(-ʉi)cipung
KorD2Haus(-GEN)Dach
“Dach des Hauses”
.ciptwi
KorD3HausRückseite
“Rückseite des Hauses”

Im koreanischen Nominalsyntagma mit possessivem Attribut erweist sich also die Raumregion als grammatisch relational, der Teil des Ganzen auch noch, andere Begriffe, darunter auch die Verwandten, dagegen nicht.

Neben solchen strukturellen Korrelaten semantischer Relationalität gibt es ein rein semantisches Kriterium, an dem man die Inhärenz der possessiven Relation im Possessum erkennen kann:

.Ernas Haus
.Ernas Mutter

“Haus” ist ein nicht-relationaler Begriff. Daher kann bedeuten “Haus, das Erna besitzt”, aber in verschiedenen Sprechsituationen u.a. auch “Haus, das Erna gemalt hat / das Erna inspiziert hat / das Erna sich wünscht” usw. “Mutter” dagegen ist ein relationaler Begriff. Daher kann normalerweise und über verschiedene Sprechsituationen hinweg nur bedeuten: “dasjenige X, welches zu Y = Erna die Relation Mutter(X,Y) hat”, wobei diese Relation als eine spezifische biosoziale Relation definiert ist. Andere Interpretationen des Typs “Mutter, die Erna sich wünscht / die Erna sich geliehen hat” sind sehr bemüht und würden in vielen Sprachen eine vorgängige Operation der Derelationierung von ‘Mutter’ voraussetzen (s.u.).

Alienabilität

Viele Sprachen haben zwei Konstruktionen des Nominalsyntagmas mit possessivem Attribut, die man alienabel (lat., “veräußerlich”) und inalienabel (“unveräußerlich”) nennt:

Oft sind bereits die Substantive, die als Possessum fungieren können, in zwei grammatische Klassen eingeteilt, eben die alienablen und die inalienablen Substantive. Das strukturelle Kriterium der Unterscheidung ist im Prinzip – mit Abwandlungen zwischen verschiedenen Sprachen – der Gebrauch des Substantivs in possessiven vs. nicht-possessiven Konstruktionen. Am wichtigsten ist die in §3.1 formalisierte Konstruktion eines possedierten NSs:

Im Yukatekischen fallen die Substantive in mehrere possessive Klassen, deren Details hier übergangen werden. Alienable Substantive sind z.B. nah “Haus” in und tsíimin “Pferd” in . In diesen Beispielsätzen sind sie Kopf eines nicht-possessiven NSs und werden für diesen Gebrauch nicht besonders morphologisch zugerüstet. Nah als Possessum dagegen benötigt das Relationalitätssuffix (nah-il “besessenes Haus”), tsíimin benötigt zwar nicht, aber akzeptiert doch einen Possessivklassifikator (s.u.). Substantive, die Raumregionen, Verwandte und bestimmte Körperteile bedeuten, sind inalienabel.

Zu den inalienablen Körperteilen gehört k'ab “Hand”. Das Substantiv kann nur als Possessum in einem possedierten NS gebraucht werden. In dem Kontext von ist kein Possessor vorhanden und wird keiner benötigt. Daher tritt Hand in der deutschen Übersetzung in einer nicht-possessiven Konstruktion auf. Dies ist für k'ab nicht möglich. Daher die Umschreibung “zwei Hände eines Menschen”.

.bèeybinka'-p'éeluk'abmáakbints'alk'abt-e'.
YuksoQUOT[ zwei-KL.BEL[ POSS.3HandPerson ] ]QUOTdrück:Hand:TRR-D3
“Es war wie zwei Hände, die jemand dort abgedrückt hatte.” (HAPAIKAN_047)

Ein Verwandtschaftsterminus wie suku'n “älterer Bruder” fungiert üblicherweise als Possessum in einem possedierten NS, wie im zweiten Teil von . Im ersten Teil wird der Possessor jedoch nicht erwähnt. Zu diesem Zweck wird das Substantiv mithilfe eines Absolutivsuffixes derelationiert. Y-tsil besagt soviel wie “nicht besessenes Y, niemandes Y, Y ohne identifizierten Possessor”.

.káak'uchlesuku'n-tsil-e'unohochsuku'n
YukKONJankomm(KMPL.ABS.3.SG)DEFälter.Bruder-ABSOL-D3[ POSS.3großälter.Bruder ]
“als der ältere Bruder kam, sein großer Bruder” (HIJO_142)

Diese grammatischen Klassen erweisen sich in vielen Konstruktionen als wirksam. Wenn man z.B. im Deutschen einem Körperteil Eigenschaften zuschreibt, so macht man das typischerweise mit einer Besitzzuschreibung wie in der Übersetzung von .

.chowak-takumúuk'yooklex-ch'uppaal-e'
Yuklang-ADJ.PL[ [ POSS.3KraftFuß ][ DEFF-Mädchen-D3 ] ]
“das Mädchen hat lange Beine”

‘Bein’ ist im Yukatekischen aber inalienabel, so daß eine solche Konstruktion nicht möglich ist. Stattdessen wird die Eigenschaft über das possedierte NS als Subjekt prädiziert, wie in . Nebenbei bemerkt ist diese Konstruktion auch dem Gemeinten näher (also ikonischer) als die deutsche, denn man will ja eigentlich nicht sagen, daß das Mädchen Beine hat, sondern daß sie lang sind.

Syntaktische Korrelate der Relationalität

Wie man an den deutschen Beispielen und Übersetzungen sieht, gibt es im deutschen keine morphologischen Klassen von alienablen vs. inalienablen Substantiven. Auch semantisch relationale Substantive treten freizügig in nicht-possessiven Kontexten auf. Freilich wird dann, je nach Sprechsituation, ein Possessor inferiert. Wenn ich z.B., auf ein Foto zeigend, sage das ist die Tante, so ist jedenfalls die Tante einer Person gemeint, von der gerade die Rede ist. Dieser Effekt tritt bei nicht-relationalen Substantiven nicht auf. Wenn ich sage das ist der Tischler, so meine ich damit einen im Redeuniversum eingeführten Tischler, gebe aber nicht zu verstehen, daß es der Tischler von jemandem oder etwas ist.

Semantische Relationalität macht sich im Deutschen und anderen Sprache ohne Alienabilitätsmorphologie aber auch in syntaktischen Konstruktionen bemerkbar. Zwei seien hier genannt:

Zuschreibung von alienablem und inalienablem Besitz

Possessive Prädikationen wie die in §3.2 gesehenen sind nur mit nicht-relationalen Possessa unauffällig. Denn bei einem relationalen Begriff wird die possessive Beziehung immer schon vorausgesetzt, so daß es merkwürdig ist, sie zu prädizieren. Die Übersetzung von ist unauffällig gerade deswegen, weil man dort nicht den Besitz von Beinen über das Mädchen, sondern die Eigenschaft der Länge über die Beine prädiziert. Läßt man das Eigenschaftswort weg, resultiert .

.Das Mädchen hat Beine.

Dieser Satz wiederum bedarf besonderen interpretatorischen Aufwandes. Es kann sein, daß man sich unter Beinamputierten befindet oder daß Plastikbeine verteilt werden. Interessant ist auch die (in der Orthographie mit Ausrufezeichen zu versehende) Interpretation, daß das Mädchen ungewöhnliche Beine hat; denn sie ist eigentlich eine Variante von . Ausgeschlossen ist lediglich die unemphatische Zuschreibung der anatomisch vorgegebenen Beine als Besitz an das Mädchen, analog etwa zu das Mädchen hat Strümpfe.

.Die Beine gehören dem Mädchen.

Noch enger sind die Verwendungsbedingungen für . Hier fällt auch die emphatisch bewundernde Variante von weg. Zwanglos wäre hier nur eine Interpretation, wo die Beine nicht auf des Mädchens intrinsische Beine referiert. Die Möglichkeit, daß man über bisher nicht zugeordnete gewöhnliche Beine spricht, deren Zuordnung einem plötzlich klar wird, setzt noch hergesuchtere Kontextbedingungen voraus. Hier zeigt sich, daß die Bedeutung von gehören noch etwas spezifischer ist als die der rein grammatischen possessiven Verben haben und sein.

Externer Possessor

Ein anderes syntaktisches Korrelat der semantischen Relationalität von Körperteilsubstantiven zeigt sich in der Konstruktion des externen Possessors.

.a.Ich wusch mir die Hände.
b.Ich wusch mein Auto.
.a.Ich brach dir den Arm.
b.Ich zerbrach deine Vase.
.a.Ich sah Erna in die Augen.
b.Ich sah in Ernas Schubladen.

In ist der Referent des direkten oder präpositionalen Objekts das Possessum eines Possessors, welcher in den b-Sätzen als Genitivattribut konstruiert ist. In den a-Sätzen dagegen erscheint er im Dativ als Dependent des Hauptverbs. Dieser Gebrauch des Dativs heißt traditionell possessiver Dativ oder sympathetischer Dativ. Seit einiger Zeit spricht man vom externen Possessor im Vergleich dieser Konstruktion mit der Konstruktion der b-Sätze: In diesen befindet sich das auf den Possessor referierende NS in dem auf das Possessum referierenden NS, in den a-Sätzen jedoch außerhalb desselben.

Untersucht man die semantische Klasse der Possessa in den Beispielen, stellt man fest, daß die Possessa der a-Sätze relational – und zwar Körperteile – sind, die der b-Sätze nicht. Vertauscht man in jedem Beispiel die Konstruktionen von #a und #b – also ich wusch meine Hände – ich wusch mir das Auto usw. – stellt man folgendes fest:

In einer kontrastiven linguistischen Untersuchung würde man übrigens feststellen, daß Sprachen wie Englisch nicht über die Konstruktion des externen Possessors verfügen und deshalb genau das Gegenstück der Konstruktion verwenden, welche im Deutschen unnatürlich klingt (I washed my hands / broke your arm / looked into Linda's eyes).

Indem wir Details übergehen, können wir sagen, daß im Deutschen – wie in mehreren anderen europäischen Sprachen einschließlich der romanischen und slavischen – der Possessor als unmittelbarer Dependent des Hauptverbs analog zu einem indirekten Objekt konstruiert wird, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

  1. Der Possessor ist hochempathisch.
  2. Das Possessum ist ein Körperteil und fungiert in der bezeichneten Situation als Undergoer.

Mit der zweiten Bedingung ist gegeben, daß das Verb eine Handlung oder einen Vorgang bezeichnet, die das Possessum affizieren. Die Bedingungen gelten für den prototypischen Fall. Verschiedene Sprachen gehen verschieden weit in ihrer Aufweichung. Im (literarischen) Portugiesischen sagt man sogar descobri-lhe os defeitos “ich entdeckte ihr die Schwächen” i.S.v. “ich entdeckte ihre Schwächen”. Jedenfalls ist klar, daß die Bedingungen gerade die prototypische possessive Situation i.S.v. §1 oben identifizieren. Es ist bemerkenswert, daß gerade in diesem Falle die possessive Relation eigentlich nicht ausgedrückt wird. Sie wird vielmehr aufgrund der semantischen Relationalität des Possessums inferiert.

Wenn ein Körperteil von X affiziert wird, wird auch X affiziert. In dieser Rolle heißt X Sympatheticus, wörtlich “der Mitleidende”. Das ist es eben, was seine Konstruktion als unmittelbarer Dependent des Hauptverbs kodiert. Im possedierten NS, welches die in Sprachen wie dem Englischen benutzte Konstruktion ist, wird diese Rolle nicht zum Ausdruck gebracht.

Übrigens ist der sympathetische Dependent weder ein indirektes Objekt noch ein Adjunkt. Ein indirektes Objekt ist er nicht, denn dann müßten die Verben in trivalent sein, und in einem Satz wie ich sah in den Abgrund müßte im Vergleich zu das indirekte Objekt weggelassen worden sein. In diesem Satz ist aber gar kein indirektes Objekt möglich. Ein Adjunkt ist er nicht, denn dann müßte er optional sein, und ein Satz wie ich sah in die Augen müßte unauffällig sein. Da dies alles nicht der Fall ist, läßt sich der sympathetische Dependent weder als Komplement noch als Adjunkt kategorisieren. Er ist, semantisch betrachtet, ein Possessor, welcher, motiviert durch seine sympathetische Funktion, syntaktisch analog zu einem indirekten Objekt konstruiert ist.

Possessivklassifikation

Wie wir oben sahen, gibt es in der prototypischen possessiven Situation außerhalb von Possessor und Possessum keine Information über die Relation. Ist das Possessum nicht-relational, gibt es folglich gar keine Information. Sprachen wie Deutsch überlassen die Spezifikation der possessiven Relation dann der Sprechsituation (inkl. Kontext und Weltwissen); vgl. . Andere Sprachen sehen für diesen Fall eine grammatische Kategorie vor, die Possessivklassifikatoren. Ein Possessivklassifikator ist ein grammatisches Formativ, welches zusammen mit einem alienablen Possessum den Kern eines possedierten NSs bildet und die possessive Relation spezifiziert. gibt Beispiele aus dem Yukatekischen.

.a.awo'chhe'
YukPOSS.2KL.essEi
‘dein Ei’
 b.inmehenarux
POSS.1.SGKL.machKobold
‘mein Kobold’

In dem Maße, in dem sich die Art der possessiven Relation aus der jeweiligen Kombination von diesem Possessum mit diesem Possessor ergibt, ergibt sich auch der für diese Konstellation geeignete Possessivklassifikator. Da das übliche Verhältnis eines Menschen zu einem Ei das Essen ist, ist in .a der Possessivklassifikator wo'ch “zu konsumierendes Possessum” die normale Wahl. Aus diesem Grund heißt diese Formativklasse Possessivklassifikator. In .b hinwiederum gibt es überhaupt keine natürliche Beziehung zwischen dem Possessor und dem Possessum. Erst durch den Possessivklassifikator “hergestelltes Possessum” wird deutlich, daß ich den Kobold gebastelt habe. Der Terminus ‘Possessivklassifikator’ ist grundsätzlich nicht sehr glücklich. Denn wann immer zwischen einem gegebenen Possessor und Possessum mehrere Relationen möglich sind (wie in ), ist zwar ein Possessivklassifikator nötig, aber seine Wahl ist frei. Dies zeigt .

.inwo'ch/ pàay/ ch'a'ha'
YukPOSS.1.SGKL.ess/ KL.schöpf/ KL.holWasser
‘mein Wasser (das ich trinke/schöpfe/hole)’

Strukturell leistet die Possessivklassifikation folgendes: In einer Sprache mit konzentrischem Satzbau werden syntaktische Relationen als Leerstellen am Kern angelegt. Ein alienables Possessum hat keine solche Leerstelle. Ein Possessivklassifikator dagegen ist wie ein inalienables Substantiv. Er kombiniert sich unmittelbar mit dem Possessor, und dieses Syntagma wird appositiv mit dem alienablen Possessum verbunden.

Kontrolle

In der Eingangsdefinition heißt es, daß in der prototypischen possessiven Situation der Possessor das Possessum kontrolliert. Dies erweist auch die Etymologie von Verben der Bedeutung ‘haben’.

Alle drei Ursprungsverben sind typische Kontrollverben. Die in der Possession involvierte Kontrolle gibt die Basis für folgende Analogie ab:

Possessor:Possessum
Actor:Undergoer

Diese wiederum motiviert die Angleichung des Besitzzuschreibungsverbs an die transitiven Verben. Denn wie in §3.2 gesehen, sind possessive Verben zwar notwendigerweise bivalent, deswegen aber noch nicht transitiv.

Körperteilbegriffe sind, wie oben gesehen, relational und werden daher typischerweise als inalienable Substantive versprachlicht. Allerdings kann man nicht alle Körperteile kontrollieren. Seine Hände kann man kontrollieren (die Hand gibt in der Tat den kontrollierbaren Körperteil par excellence ab), aber das Blut z.B. nicht. Solche letzteren Körperteile sind also insofern untypische Possessa. Und weil Körperteile ansonsten im Zentrum der funktionalen Domäne der Possession stehen, ist die Grammatik nicht weniger Sprachen für die Kontrollierbarkeit von Körperteilen sensitiv. Im Yukatekischen fallen die Körperteilsubstantive in zwei grammatische Klassen:

Die folgende Tabelle gibt ein paar Beispiele.

possediert
kontrollierbar ╲
janein
jain k'ab “meine Hand”
in p'ool “mein Kopf”
-
neinin k'i'k'-el “mein Blut”
in tso'ts-el “mein Haar”
le k'i'k'-o' “das Blut”
le tso'ts-o' “das Haar”

Man sollte meinen, daß auch unkontrollierbare Körperteile relational und also in dieser Sprache inalienabel sein müßten. Hier überwiegt in der Grammatik aber offenbar die dazu quer verlaufende Opposition der Kontrollierbarkeit.

Übungsaufgaben

Übungsaufgabe: Possession

Übungsaufgabe: possessiver Dativ

Literatur

Heine, Bernd 1997, Possession. Cognitive sources, forces and grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press.

König, Ekkehard & Haspelmath, Martin 1998, "Les constructions à possesseur externe dans les langues de l'Europe." Feuillet, Jack (ed.), Actance et valence dans les langues de l'Europe. Berlin & New York: Mouton de Gruyter (Empirical Approaches to Language Typology, EUROTYP, 20-2); 525-606.

Lehmann, Christian 2002, Possession in Yucatec Maya. Erfurt: Seminar für Sprachwissenschaft der Universität (ASSidUE, 10) (2nd revised edition).

Seiler, Hansjakob 1983, POSSESSION as an operational dimension of language. Tübingen: G. Narr (Language Universals Series, 2).

Shin, Yong-Min 2004, Possession und Partizipantenrelation. Eine funktional-typologische Studie zur Possession und ihren semantischen Rollen am Beispiel des Deutschen und Koreanischen. Bochum: N. Brockmeyer (Diversitas Linguarum, 5).