Vulgärlatein - Gemeinromanisch

Die romanischen Sprachen, wiewohl auf Italienisch gelegentlich lingue neolatine genannt, gehen nicht auf das klassische Latein, sondern auf ein nicht bezeugtes Gemeinromanisch bzw. das Vulgärlatein zurück.

Die Frage, von wann an nicht mehr Lateinisch, sondern Romanisch gesprochen wurde, läßt sich nicht genau beantworten. Aus theoretischen Gründen nicht, weil der Unterschied nicht definiert ist (da der eine Vergleichspunkt eben nicht das klassische Latein, sondern das nicht genau bekannte Vulgärlatein ist). Und aus empirischen Gründen nicht, weil unsere Quellen schriftlich sind und die Schriftsprache noch lange Latein war, nachdem längst Romanisch gesprochen wurde. Die ersten historischen Zeugnisse der romanischen Sprachen bilden für diesen Wechsel also nur einen Terminus ante quem.

Als Zeugnisse der gesprochenen Sprache haben wir nur einerseits das Vulgärlatein, das sich spätestens seit der Zeitenwende in Schriftdokumenten bemerkbar macht, und andererseits metasprachliche Zeugnisse über das Auseinanderklaffen der gesprochenen und der Schriftsprache. St. Hieronymus sagt im Vorwort zu seiner Bibelübersetzung (Vulgata, 385-404):

Volo pro legentis facilitate abuti sermone vulgato.
“Dem Leser zuliebe will ich die Volkssprache benutzen [was ich nicht sollte].”

Die Vulgata [!] hat in der Tat vulgärlateinische Züge.
St. Augustinus schreibt um dieselbe Zeit (In Psalm. 138, 20):

Melius est nos reprehendant grammatici quam non intellegant populi.
“Es ist besser, daß uns die Grammatiker tadeln, als daß uns die Völker nicht verstehen.”

Dies zeigt, daß Latein nur noch von Klerikern, Juristen und Angehörigen der Oberklasse, die sich eine Erziehung leisten konnten, beherrscht wurde.

In den folgenden Jahrhunderten wurde der Abstand zwischen der Schrift- und der Umgangssprache so groß, daß sie nicht mehr als Varianten einer Sprache empfunden wurden. Aber erst das ökumenische Konzil von Tours erkannte 813 öffentlich an, daß nicht mehr auf Lateinisch gepredigt werden konnte, und wies die Pfarrer an, in den Predigten zu benutzen

rusticam romanam linguam aut theotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur.
“die romanische Umgangssprache bzw. die deutsche Sprache, damit alle das Gesagte leichter verstehen können.”

Seitdem wurde also auf Italienisch, Französisch, Spanisch usw. bzw. auf Deutsch gepredigt.

Die Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen geht evtl. auf lateinische Dialekte, auf verschiedene Substratsprachen und sicher nach dem Zerfall des römischen Reiches seit dem ausgehenden Altertum auf unabhängige Neuerungen in den verschiedenen Gebieten zurück.