Form und Substanz in der Sprache

Sprachen setzen Gedanken in wahrnehmbare Signale um. Sie sind Systeme, welche einen Bezug schaffen zwischen dem Inbegriff des Denkbaren und dem Inbegriff des Artikulierbaren. In bezug auf das Sprachsystem sind sowohl der Gedanke als auch der Laut eine Substanz, welcher erst die einzelne Sprache Form verleiht.

Form und Substanz in der Sprache
Gedanke psychische Repräsentation außersprachlich Substanz
Zeichen Significatum

Significans
sprachlich Form
Laut phonetische Repräsentation außersprachlich Substanz

Die Dichotomie von Form vs. Substanz geht letztlich auf Aristoteles zurück. Sie spielt in der europäischen strukturalen Linguistik seit Ferdinand de Saussure (1916) eine zentrale theoretische Rolle. Bereits W. v. Humboldt hatte dazu gesagt:

"Das in [der] Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, liegende Beständige und Gleichförmige, so vollständig als möglich in seinem Zusammenhange aufgefaßt und systematisch dargestellt, macht die Form der Sprache aus. ... Der Form steht freilich ein Stoff gegenüber; um aber den Stoff der Sprachform zu finden, muß man über die Grenzen der Sprache hinausgehen. ... Der wirkliche Stoff der Sprache ist auf der einen Seite der Laut überhaupt, auf der anderen Seite die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke und selbsttätigen Geistesbewegungen, welche der Bildung des Begriffs mithilfe der Sprache vorausgehen." (Humboldt 1836(1972):419-422)

Die folgenden Abschnitte zeigen, wie Sprachen durch Einziehen kategorialer Unterschiede in kontinuierliche Substanz Form schaffen.

Phonologische Kategorisierung

Bei der Bildung eines Systems von Sprachlauten werden kontinuierliche Unterschiede auf kategoriale zurückgeführt. Ein Beispiel ist die Unterscheidung von stimmhaften versus stimmlosen Verschlußlauten im Deutschen. [b] und [p] unterscheiden sich rein akustisch dadurch, daß die Stimme bei [p] später einsetzt. In beiden Konsonanten gibt es einen Stimmeinsatzverzug (voice onset delay) nach Lösung des Verschlusses; aber wenn er kleiner als 25 ms ist, wird ein [b] gehört, und wenn er größer als 25 ms ist, wird [p] gehört. Deutschsprecher erklären einen Bilabial mit 10 ms Stimmeinsatzverzug konsistent für ein [b] und einen Bilabial mit 40 ms Stimmeinsatzverzug konsistent für ein [p], wo lediglich 30 ms Unterschied besteht. Dagegen erklären sie Bilabiale mit 40 ms und 100 ms Stimmeinsatzverzug beide für [p], obwohl der Unterschied 60 ms beträgt, und können nicht einmal zwischen den beiden Lauten diskriminieren. Dies ist ein deutliches Beispiel dafür, daß das System die Wahrnehmung determiniert (s. Cairns & Cairns 1976). Der Hörer versteht das Signal dadurch, daß er es auf seine sprachlichen Kategorien bezieht.

Das folgende Schaubild vergröbert die Phänomenologie etwas, insofern es für einen stimmlosen Konsonanten wie [p] null Stimmeinsatzverzug annimmt, während gemäß dem soeben Gesagten auch ein Stimmeinsatzverzug von bis zu ca. 20 ms im Deutschen immer noch ein [b] ergibt.

Stimmeinsatzpunkt
Zeit
Verschlußlösung    
Stimmeinsatz      
Stimmhaftigkeit voll
stimmhaft
teilweise
stimmhaft
stimmlos
unaspiriert
stimmlos
aspiriert
bilabiales Beispiel b p
französische Opposition
deutsche Opposition

Lexikalische Kategorisierung

Die perzipierte Welt bietet in vielen Punkten ein Kontinuum. Durch dessen Gliederung werden Kategorien geschaffen. Ein klares Beispiel sind die Farben und die Farbwörter. Das Schaubild zeigt die Bedeutung einiger Farbwörter im Deutschen und Kymrischen:

Deutsche und kymrische Farbadjektive
(Hjelmslev 1974:57)
deutschkymrisch
  grün gwyrdd
 
 glas
 blau
 
 grau
 llwyd
 braun
 

Experimente bestätigen, daß das Behalten von Farbunterschieden leichter fällt, wenn die Muttersprache sie unterscheidet. Dasselbe gilt für alle Begriffe. Die Sprache gibt nicht die Kategorien des Denkens vor, wohl aber die Bahnen, in denen das Denken per Default abläuft.

Syntaktische Kategorisierung: Wortarten

Modi Significandi

Die Wörter jeder Sprache fallen in diverse Klassen, welche Wortarten heißen. Seit dem Altertum erörtern die Grammatiker die Alternative, ob diese Kategorien eine ontologische Grundlage haben, also Kategorien der Welt abbilden, oder ob es reine Strukturklassen sind, die für den Bau sprachlicher Ausdrücke nötig sind. Eine der am besten ausgebauten frühen Theorien der Wortarten lieferte Thomas von Erfurt (ca. 1275-1325). Der zentrale Begriff seines theoretischen Ansatzes ist der modus significandi, wörtlich die Weise des Bezeichnens. Es ist ziemlich genau das, was man heute die Bedeutung einer grammatischen Kategorie oder die Funktion einer grammatischen Operation nennen würde. Z.B. ist die Bedeutung der Wortart 'Substantiv' oder der morphologischen Kategorie 'Numerus' ein modus significandi, und ebenso ist die Funktion der Prädikation ein modus significandi. Dahinter steht die Idee, daß ein Wort ein Ding bezeichnet, z.B. ein weißes Ding, daß es dies aber nicht ohne weiteres tut, sondern nur in einer bestimmten Form. Thomas von Erfurt erklärt dies wie folgt:

§46: ... in una et eadem re possunt reperiri diversae proprietates rei non repugnantes, a quibus sumi possunt diversi modi significandi activi, licet una vox non imponatur ei ut stat sub omnibus illis proprietatibus, sed quandoque imponatur una vox ut stat sub una proprietate, quandoque alia vox ut stat sub alia proprietate. In ein und derselben Sache lassen sich verschiedene, einander nicht widerstreitende Eigenschaften der Sache finden, von denen verschiedene aktive Bezeichnungsweisen genommen werden können; allerdings wird ihr dann nicht ein Ausdruck verliehen mit Bezug auf alle diese Eigenschaften, sondern einmal wird ein Ausdruck zugewiesen mit Bezug auf eine Eigenschaft, ein andermal ein anderer Ausdruck mit Bezug auf eine andere Eigenschaft.
Verbi gratia haec res albedo habet diversas proprietates sub quibus possunt ei imponi diversae voces. Nam si ... consideretur in ea modus entis et cum hoc modus essentiae determinatae, sic significatur voce nominis substantivi, ut albedo. Si autem consideretur in ea modus entis et cum hoc modus inhaerentiae alteri secundum essentiam, sic significatur in voce nominis adiectivi, ut albus. Item si consideretur in ea modus esse, qui est modus fluxus et successionis, et cum hoc modus essentiae distinctae, sic significatur verbaliter, ut dealbo. Z.B. die Sache 'Weiße' hat verschiedene Eigenschaften, mit Bezug auf welche ihr verschiedene Ausdrücke zugewiesen werden können. Denn wenn in ihr die Weise des Seienden und zudem die Weise eines bestimmten Wesens betrachtet wird, so wird sie durch den Ausdruck eines substantivischen Nomens bezeichnet, wie albedo ["Weiße"]. Wenn in ihr jedoch die Weise des Seienden und zudem die Weise der Inhärenz in einer anderen Sache gemäß deren Wesen betrachtet wird, so wird sie im Ausdruck eines adjektivischen Nomens bezeichnet, wie albus ["weiß"]. Ebenso wenn in ihr die Weise des Seins betrachtet wird, was die Weise des Flusses und der Abfolge ist, und zudem die Weise eines distinkten Wesens, so wird sie verbal bezeichnet, wie dealbo ["bin weiß"].

Der Begriff des Dings ist nur als sprachlich geformter, also etwa in einem Substantiv oder einem Verb, gegeben, und diese Form ist eben der modus significandi. Die modi significandi beruhen zwar auf proprietates rei "Eigenschaften der Sache", aber sie sind nicht unmittelbare Abbilder bestimmter modi essendi, sondern durch den Intellekt vermittelte Auffassungsweisen (entia rationis). Die Wortarten müssen also modaliter definiert werden, z.B. nomen significat rem per modum substantiae "ein Nomen bezeichnet eine Sache durch die Weise der Substanz", d.h. in einer Form, in der die bezeichnete Sache als Substanz (selbständige Entität) aufgefaßt wird. Das gilt dann nicht nur für Konkreta, die offensichtlich Substanzen sind, sondern auch für Abstrakta, die zwar keine sind, aber eben auch so aufgefaßt werden.

Das Nomen-Verb-Kontinuum

Ein moderner Versuch, die Wortarten notionell zu begründen, findet sich in diversen Publikationen der funktionalen Typologie des ausgehenden 20. Jh. Die Begriffe, aus denen sich Propositionen zusammensetzen, sind im kognitiven Raum nach verschiedenen Kriterien angeordnet. Im folgenden werden drei Kriterien betrachtet, die für Kognition und Kommunikation eine zentrale Rolle spielen, nämlich die Zeitstabilität eines Konzepts, seine Relationalität und seine primäre propositionale Funktion.

i. Dinge, Eigenschaften und Vorgänge unterscheiden sich in unserer Perzeption und Vorstellung wesentlich dadurch, daß sie unterschiedlich konstant gegenüber dem Verlauf der Zeit bleiben. Typische Gegenstände wie Äpfel und Mädchen bleiben über verhältnismäßig lange Zeit gleich. Typische Eigenschaften wie Röte oder Wärme bleiben über einige Zeit konstant, werden aber als vergänglich, veränderlich begriffen. Vorgänge und Ereignisse dagegen wie Laufen oder Fallen sind völlig zeitgebunden und bestehen manchmal nur einen Moment. Menschliche Konzepte können also auf einer Skala der Zeitstabilität (vgl. Givón 1984, ch. 3.4) angeordnet werden, mit den Gegenstandsbegriffen an einem Pol, den Ereignisbegriffen am anderen und den Eigenschaftsbegriffen dazwischen.

ii. Mit der Zeitstabilität korreliert die Relationalität der Begriffe, also ihre Eigenschaft, Leerstellen für Argumente zu eröffnen.1 Gegenstände sind konstanter als Relationen, denn zwei Gegenstände können eine Relation zwischen ihnen überdauern, aber nicht umgekehrt. Je mehr Argumente eine Relation zueinander in Beziehung setzt, desto hinfälliger ist sie.2 So erklärt es sich, daß prototypische Gegenstandsbegriffe nicht-relational oder auch nullwertig sind, während es andererseits keine nullwertigen Ereignisbegriffe gibt.3 Und wiederum kann ein Gegenstandsbegriff höchstens eine Leerstelle (nämlich eine rektive zu einem Possessor o.ä.) eröffnen, während Eigenschaftsbegriffe mindestens eine Leerstelle (eine modifikative für ihren Bezugspunkt) enthalten. Dreiwertige Begriffe finden sich fast ausschließlich unter den dynamischen; der prototypische dreiwertige Begriff, nämlich `geben', ist ein Ereignisbegriff.

iii. Schließlich korreliert mit dem Grad an Zeitstabilität der Konzepte auch ihre primäre Funktion bei der Bildung von Propositionen. Die beiden grundlegenden Operationen hierbei sind Referenz und Prädikation. Die Referenz setzt das bestehende Redeuniversum voraus und beruft sich darauf; die Prädikation verändert es. Prädikationen sind daher potentiell kontrovers, während Referenzen dem Urteil des Mitunterredners nicht unterworfen sind. Sie können nur gelingen oder mißlingen. Daher benötigt man zur Referenz solche Konzepte, die den Referenten in einer unstrittigen Weise charakterisieren. Das ist am ehesten gewährleistet, wenn das Konzept das Wesen des Referenten trifft. Das tut es dann, wenn es sich auf maximal zeitstabile Züge des Referenten bezieht. So ergibt sich die primäre Funktion der Referenz für Gegenstandsbegriffe.

Das Umgekehrte gilt für die Prädikation. Will man das Redeuniversum verändern, ohne neue Referenten einzuführen, so muß man bestehenden Referenten Prädikate zuschreiben, die sie bisher nicht hatten. Je weniger zeitstabil das zuzuschreibende Prädikat ist, desto größer ist die Chance, daß es bisher nicht für den Referenten galt. So ergibt sich die primäre Funktion der Prädikation für Ereignisbegriffe.

Die Attribution bildet komplexe Begriffe, die dann ihrerseits zur Referenz oder zur Prädikation verwendet werden können. Sie ist also der Referenz und Prädikation untergeordnet und steht insoweit zwischen ihnen. Entsprechend können Begriffe aller Zeitstabilitätsgrade als Attribut dienen. Die primäre Funktion kann dies jedoch nur für Begriffe mittlerer Zeitstabilität sein, die nicht auf eine der primären Funktionen Referenz oder Prädikation festgelegt sind. So ergibt sich die primäre Funktion der Attribution für Eigenschaftsbegriffe.

iv. Die drei Parameter der Zeitstabilität, der Relationalität und der propositionalen Funktion sind logisch unabhängig voneinander. Ihre Korrelation in dem erwähnten Sinne kann daher nur eine tendentielle, keine vollständige sein. Das gilt auch deshalb, weil jeder von ihnen kontinuierlich oder jedenfalls nicht binär ist. Klare kategoriale Zuordnungen können nur an den Polen der Kontinua herrschen; dazwischen sind die Grenzen und mithin die Zuordnungen zwischen Instanzen auf verschiedenen Parametern instabil. Die Untergliederung der Kontinua und die Einrichtung von fokalen Instanzen auf ihnen ist zum großen Teil bereits Sache der Sprache. Grammatische Kategorien ergeben sich auf der Basis solcher Kontinua und ihrer teilweise schon einzelsprachlichen Gliederung durch Bündelung von Ausprägungen über Parameter hinweg. Die vorgeführten Assoziationen von Gegenstand mit Avalenz und Referenz, von Eigenschaft mit Monovalenz und Attribution, von Ereignis mit Plurivalenz und Prädikation werden in der Mehrzahl der Sprachen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, vorgenommen. Es resultieren grammatische Kategorien, nämlich die Hauptwortarten, die man in den meisten Sprachen wiederfindet. Das Schaubild veranschaulicht die drei genannten Kontinua mit den sich nahelegenden Untergliederungen sowie die senkrecht dazu verlaufenden Assoziationen von Ausprägungen mit den Hauptwortarten als Resultat. Mithin ist das Schaubild gleichzeitig eine Darstellung des Nomen-Verb-Kontinuums (vgl. Croft 1984, §2.2; Broschart 1987).

Die Kontinua der Zeitstabilität, der Relationalität und der propositionalen Funktionen sind universal. Die Wortarten sind grammatische Kategorien, die diese universalen Begriffe und Funktionen einzelsprachlich umsetzen, und sind mithin keine sprachlichen Universalien. Sie können als universale Beschreibungsbegriffe (vgl. Coseriu 1974) wie folgt definiert werden:


Strukturklassen

In dem Maße, in dem notionelle Begründungen der Wortarten scheitern, bieten sich strukturelle und insbesondere distributionelle Konzeptionen an. Nach diesen bilden Wortarten nicht irgendwelche Ontologien ab, sondern sind rein semiotisch begründet, weil die Sprachzeichen, um überhaupt zu Nachrichten verbunden werden zu können, in Klassen eingeteilt werden müssen. Analytisch werden diese Klassen festgestellt, indem man die Distribution (“Verteilung”) der Wörter empirisch feststellt. Damit ist ihr Auftreten in verschiedenen sprachlichen Kontexten gemeint. Sonach wäre z.B. ein Adjektiv ein Wort, welches zwischen einem Artikel und einem Substantiv (wie in das alte Haus) stehen kann.

Der distributionelle Ansatz bewährt sich insbesondere bei solchen Wortarten, die oben nicht vorkamen, weil sie hierarchisch nachgeordnet sind. Z.B. sind sowohl Adjektive als auch Adverbien Modifikatoren, wie man in B1 sieht.

B1.a.Erna works diligently. “Erna arbeitet gewissenhaft.”
b.Erna's diligent work - “Ernas gewissenhafte Arbeit”

Begrifflich besteht zwischen diligent und diligently sowie zwischen den beiden Vorkommen von gewissenhaft in B1.a und b kein Unterschied. Daraus folgt, daß die Wortarten ‘Adverb’ und ‘Adjektiv’ nicht auf notioneller Grundlage gegeneinander abzusetzen sind. Sie sind jedoch relativ einfach aufgrund ihrer Distribution zu unterscheiden: ein Adjektiv hängt von einem Substantiv, ein Adverb dagegen von einem Verb ab. Dies sind ihrerseits Wortarten, keine Kategorien der dargestellten Wirklichkeit, so daß solche Definitionen rein strukturell sind.

Insoweit Wortarten nicht ontologische Kategorien abbilden, sondern lediglich Voraussetzung für das syntaktische Funktionieren der Sprache sind, ist ihr System beliebig. In der Tat unterscheiden sich die Wortartsysteme der Sprachen erheblich voneinander. Zahlreiche Sprachen unterscheiden nicht zwischen Adjektiven und Adverbien. Weitere Sprachen haben überhaupt keine Adjektive, sondern legen diese mit den Substantiven oder den Verben zusammen. Noch andere unterscheiden mehrere Klassen von Adjektiven, etwa Eigenschafts- und Zustandswörter.

Morphologische Kategorisierung

Genus und Nominalklassen

An oder in syntaktischer Verbindung mit Substantiven treten in vielen Sprachen grammatische Formative auf, welche die Substantive in Klassen einteilen. Ein naheliegendes Beispiel sind die drei Genera im deutschen und anderen indogermanischen Sprachen:

Solche Beispiele suggerieren, daß die Funktion des Genus sei, die Gegenstände der Welt in männliche, weibliche und geschlechtslose einzuteilen. Freilich lehrt bereits eine alternative Beispielsammlung, daß das nicht so ist: Die von den deutschen Genera gelieferte Einteilung ist offensichtlich weitgehend asemantisch und willkürlich.

Andere Sprachen haben sog. Nominalklassen. Sie sind strukturell den Genera ähnlich, haben aber überhaupt keinen Bezug zu Sexus und liefern oft eine viel feinere Untergliederung. Ein Beispiel ist das Nominalklassensystem des Swahili. Es tritt, wie die folgende Tabelle zeigt, morphologisch in drei Varianten auf, nämlich vor Substantiven (nominal), vor Pronomina und vor Verben.

Nominalklassen des Swahili
Nr.nominalpronominalverbalBedeutung
ni-1. Pers. Sg.
tu-Pl.
u-/ku-2. Pers. Sg.
m-/wa-Pl.
I.m-(j)u-/(j)e-a-/m-(3.) Person, Lebewesen
II.wa-wa-wa-Pl.
III.m-u-u-Körperteil, Pflanze, Insekt, Naturphänomen usw.
IV.mi-i-i-Pl. zu III
V.ji-li-li-Paariges, Gruppen, allerlei
VI.ma-ja-ja-Pl. zu V; Massen, Flüssigkeiten
VII.ki-ki-ki-Gegenstand (bes. Artefakt), Art und Weise
VIII.vi-vi-vi-Pl. zu VII
IX.n-i-i-Tier, Frucht, Gegenstand
X.n-zi-zi-Pl. zu IX und XI
XI.u-/m-u-u-länglicher Körperteil, Ausdehnung
XII.-
XIII.-
XIV.u-Abstraktum, Eigenschaft
XV.ku-Infinitiv
XVI.p-Essiv
XVII.kw-Zirkumferential, Instrumental
XVIII.mw-Inessiv

Die Numerierung der Klassen folgt der Tradition der Bantuistik. Danach ist eine Klasse mit gerader Nummer jeweils der Plural zur vorangehenden Klasse; anders gesagt, die Singular- und Pluralform jeder Klasse werden als zwei separate - im System aufeinanderfolgende - Klassen gezählt. Man sieht, daß einige Klassen einen gewissen semantischen Gehalt haben, andere aber völlig heterogen sind.

Zahlklassifikation

Klassifikatorische Formative treten in vielen Sprachen im Zusammenhang mit Numeralia (Kardinalzahlwörtern) auf. B2 aus dem Indonesischen zeigt drei Nominalsyntagmen, deren Substantive jeweils mit dem Zahlwort für ‘drei’ verbunden werden. Diese syntaktische Verbindung wird im Indonesischen - und allgemein in Zahlklassifikatorsprachen - jedoch nicht unmittelbar hergestellt. Vielmehr wird das Zahlwort mit einem sog. Zahlklassifikator verbunden, d.i. ein Formativ, welches das gezählte Substantiv einer Klasse zuordnet. Entsprechend sind in B2.a, b und c verschiedene Klassifikatoren gewählt.

B2.a.tigabuahrumah
  dreiINANHaus
  “drei Häuser”
b.tigaékorbabi
  dreiANIMALSchwein
  “drei Schweine”
c.tigaorangguru
  dreiHUMLehrer
  “drei Lehrer”

Die indonesischen Zahlklassifikatoren bilden ein Paradigma, welches die Substantive der Sprache so klassifiziert, wie es die folgende Tabelle zeigt:

Zahlklassifikatoren im Indonesischen
KlassifikatorGrundbedeutungKlasse
orangMenschMensch
ékorSchwanzTier
buahFruchtunbelebtes (insbes. rundes) Objekt
batangStammlanges, solides zylindrisches Objekt
helaiBlattflaches, dünnes Objekt
lembarBlattdito
butirKorn, Partikelrundes Objekt
bijiKorn, Kernunbelebtes (insbes. kleines, rundes) Objekt

Die Spalte ‘Grundbedeutung’ erinnert hier daran, daß die Zahlklassifikatoren zwar grammatische Formative sind, aber ihrerseits diachron aus Substantiven bestimmter Bedeutung herstammen.

Zahlklassifikatorsysteme können sehr umfangreich werden. Die folgende Darstellung zeigt dreizehn Zahlklassifikatoren des Japanischen zusammen mit einigen Beispielen.

Paradigma der japanischen Zahlklassifikatoren
KlasseKlassifikatorBeispiel Bedeutung
Hier würden Sie die Klassifikation sehen. go-nin no heesifünf Soldaten
 
 
san-biki no kobutadrei Ferkel
 
 
san-soo no hunedrei Dampfer
siti-dai no zidoosyafünf Autos
huta-tu no madozwei Fenster
go-hon no enpitufünf Stifte
 
san-satu no hondrei Bücher
 
 

Die darüber errichtete linguistische hierarchische Klassifikation sowie ein Vergleich mit den indonesischen Beispielen zeigt, daß die Grundsätze, nach welchen gezählte Objekte durch die Zahlklassifikatoren eingeteilt werden, zwar zwischen Sprachen variieren, aber doch auch Ähnlichkeiten aufweisen.

Metasprachliche Kategorisierung

Vordergründig sehen sprachliche Klassifikationssysteme aus wie Ontologien, wie Gliederungen der Welt. Je stärker sie aber grammatikalisiert (dem grammatischen System der einzelnen Sprache eingepaßt) sind, desto weniger sind die Gegenstände der Klassifikation solche der Welt und desto mehr sind es sprachliche Einheiten. Also sind nicht nur Wortartsysteme Weisen, die Wörter einer Sprache in Strukturklassen einzuteilen, also in Klassen, die das Funktionieren der Syntax ermöglichen. Sondern auch morphologische Kategorien wie insbesondere nominale Klassen haben weniger die Funktion, die Gegenstände der Welt zu klassifizieren, als vielmehr die Funktion, die nominalen Ausdrücke der Sprache zu klassifizieren, vor allem zum Zwecke anaphorischen Bezugs (der Anfang ... er; die Mitte ... sie; das Ende ... es). Insofern der Gegenstand solcher Klassifikationen nicht Außersprachliches, sondern Sprachliches ist, haben sie metasprachliche Funktion.