Ziele der Untersuchung

Im folgenden werden methodische Aspekte einer Untersuchung dargestellt, die den Begriff der linguistischen Begabung zum Gegenstand hat (König 2009). Das oberste Ziel der Untersuchung ist es, linguistische Begabung objektiv feststell- und meßbar zu machen. Dies setzt jedoch voraus, daß der Begriff der linguistischen Begabung explizit ist. Dieses zu erreichen ist folglich ein untergeordnetes, allerdings zuerst zu erreichendes Ziel.

Begriff der linguistischen Begabung

Im ersten Schritt geht es folglich darum, die Intension des Begriffs anzugeben, also die Eigenschaften, über die jemand verfügt, der linguistisch begabt ist. Das Ziel läßt sich wie folgt konkretisieren:

Gesucht ist die Menge der Eigenschaften, die gemeinsam den Begriff der linguistischen Begabung ausmachen.1

Dies ist ein theoretisches Problem. Man müßte es eigentlich durch pure Deduktion lösen können, also durch Analyse der Begriffe ‘Begabung’ und ‘Linguistik’ bzw. ‘Linguist’. Aber wie stets in den Geisteswissenschaften stellt sich heraus, daß die Begriffe nicht feststehen, so daß die Basis für eine solche Deduktion fehlt. An dieser Stelle könnte man die Bedeutung des Begriffs ‘linguistische Begabung’ stipulieren. Ein solches Vorgehen ist bei theoretischen Begriffen weithin üblich. Man läuft damit jedoch Gefahr, an der Realität vorbeizugehen, d.h. das außer Acht zu lassen, was gemeinhin als linguistische Begabung gilt. Man würde also vielleicht einen Begriff definieren, der außerhalb der Wissenschaft zu nichts nütze ist.

Folglich erhebt man empirisch, welche Kriterien mit dem Begriff der linguistischen Begabung verbunden werden. Hierzu gibt es zahlreiche Methoden. Zwei davon sind die folgenden:

Das sind zwei unabhängige Methoden, deren jede zu einem Katalog von Eigenschaften führt. Fallen diese beiden Kataloge i.w. zusammen, so bestätigen die Methoden einander. Tun sie es nicht, so ist mindestens eine der beiden Methoden ungeeignet für diese Fragestellung gewesen.

In diesem Falle bestätigen die beiden Methoden einander. Man kann nun den Begriff der linguistischen Begabung aus einer Menge von Kriterien zusammensetzen. Auch dieser Vorgang ist wieder theoriegeleitet. Z.B. ergeben beide Methoden, daß Umgebungsfaktoren wie ein intellektuell aktives Elternhaus eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung einer Begabung sind. Aber die Frage, ob sie Bestandteile der Begabung sind, kann man nur auf theoretischer Basis beantworten; und entsprechend wird man solche Faktoren dann nicht in die Intension des Begriffs aufnehmen.

Operationalisierung des Begriffs

Der zweite Schritt ist nun die Operationalisierung dieses Begriffs. Das Ziel läßt sich wie folgt konkretisieren:

Gesucht ist unter der Gesamtmenge von Personen diejenige Teilmenge, die linguistisch begabt ist.

Es werden also Methoden gesucht, die es gestatten, diese Teilmenge auszugrenzen. Sie involvieren folglich die Operationalisierung des Begriffs bis zu dem Punkte, daß man anhand seiner einen begabten Linguisten identifizieren und ihn von Menschen unterscheiden kann, die nicht für Linguistik begabt sind. Dies Problem ist ähnlich dem anderswo anhand von Leoncavallos Liedern illustrierten: Ein Begriff kann logisch noch so sauber durch Angabe der notwendigen und hinreichenden Bedingungen definiert sein (obiger Schritt 1); immer bleibt die Frage: aber wie stelle ich fest, ob jemand über diese Eigenschaft verfügt? Am Beispiel gesprochen: Eine der konstitutiven Eigenschaften eines begabten Linguisten ist das semantische Differenzierungsvermögen, also die Fähigkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu erkennen und explizit zu machen. Diesen untergeordneten Begriff kann man z.B. durch einen Test operationalisieren, in dem der Proband aus einer Reihe von Paaren bedeutungsähnlicher Wörter dasjenige identifizieren muß, welches synonym ist. Der Leistung des Probanden in diesem Test ordnet man einen Punktwert zu. Die anderen Kriterien linguistischer Begabung operationalisiert man auf ähnliche Weise. An der Summe der vom Probanden erlangten Punkte mißt man dann seine linguistische Begabung. Diese Darstellung ist selbstverständlich stark vereinfacht und verbirgt eine Fülle von Einzelentscheidungen, die man alle plausibilisieren muß.

Man hat also aus dem definierten Begriff der linguistischen Begabung einen Test abgeleitet, der sie im Einzelfall festzustellen bzw. zu messen erlaubt. Angenommen nun erstens, die im ersten Schritt angewandten Methoden zur Auffächerung des Begriffs der linguistischen Begabung buchstabierten genau das in unserer Gesellschaft bestehende Konzept aus, und zweitens, die Deduktion bis hin zur Operationalisierung in Form von Testaufgaben (Schritt 2 bis hierhin) wäre logisch stringent und lückenlos. Dann müßte man sagen, daß dieser Test über die betroffenen Probanden das endgültige Verdikt spricht. Aber ein solcher Fall tritt in Humanwissenschaften normalerweise nicht ein. Entweder die erste oder die zweite Bedingung ist nicht hundertprozentig erfüllt. Folglich sieht man sich nach einer weiteren, unabhängigen Methode um, mit der man die linguistische Begabung der Probanden messen kann. Wenn es z.B. Linguistikstudenten sind, dann könnte diese in der Heranziehung der Noten bestehen, die sie in linguistischen Lehrveranstaltungen erlangt haben. Diese Methode bietet wieder den Vorteil der Rückkoppelung an die Praxis: es scheint sinnvoll, einen Begriff der linguistischen Begabung zu entwickeln, der genau diejenigen für linguistisch begabt erklärt, die auch tatsächlich in der Linguistik Erfolg haben.

Auch hier werden also wieder zwei unabhängige Methoden zur Erreichung des Ziels, die Menge der begabten Linguisten zu identifizieren, angewandt. Wiederum gilt, daß wenn die Ergebnisse der beiden unabhängigen Methoden übereinstimmen, sie einander bestätigen, andernfalls jedoch die Eignung der Methoden überdacht werden muß.

Kombination von Methoden

Das Beispiel zeigt, wie man wissenschaftliche Ergebnisse durch Anwendung unabhängiger Methoden sicherer machen kann. Bis zu diesem Punkte besteht übrigens keine Handhabe zu sagen, daß eine Methode besser als die andere ist. Jede der angeführten Methoden hat offensichtliche Schwächen. Die eine, todsichere Methode gibt es jedoch normalerweise nicht. Daher nähert man Sicherheit durch die Kombination von real existenten Methoden an und nimmt an, daß die Stärken der einen die Schwächen der anderen ausgleichen werden.

Selbstverständlich verfeinert man die Methoden bei wiederholter Anwendung. Dabei kann sich im Laufe der Zeit herausstellen, daß eine davon immer genau das Ergebnis zeitigt, welches dem gesetzten Ziel entspricht (s. zur Validität). Andere Methoden dagegen können sich als weniger zuverlässig herausstellen oder als im Verhältnis zum Ergebnis zu aufwendig. Diese wird man dann auf lange Sicht ad acta legen.2


1 Wir übergehen an dieser Stelle das theoretische Problem, welche innere Struktur der Begriff hat, wie also die Menge der Propositionen, welche die Eigenschaften repräsentieren, logisch aufeinander bezogen sind.

2 Z.B. besteht eine seit langem im Deutschland verwendete Methode, die Eignung einer Person zum Hochschulstudium festzustellen, darin, ihr Abiturzeugnis als einziges Kriterium heranzuziehen. Die Methode hat sich als unzuverlässig erwiesen und hätte daher schon längst ad acta gelegt werden müssen. Dies geschieht deshalb nicht, weil keine wissenschaftlichen, sondern politische Gesichtspunkte walten.