Ziel

1. Entwicklung einer theoretisch basierten allgemeinen Sprachtypologie

2. Charakterisierung von Sprachen auf deren Basis

3. Begründung der malayo-polynesischen [heute: austronesischen] Sprachfamilie, mit Fokus auf dem Altjavanischen = Kavi-Sprache von Java.

Voraussetzungen

Allgemeine Grammatik

Lorenzo Hervás y Panduro

Typologie von F. Schlegel und A.W. Schlegel

Durchführung

Die 1800 – 1801 getriebenen baskischen Studien bilden den Beginn der Befassung mit vergleichender Grammatik. Er erkannte, daß er, um seine Ziele zu erreichen, sich mit möglichst verschiedenartigen Sprachen beschäftigen mußte.

Humboldt erwarb seit 1800 systematisch eine umfangreiche Forschungsbibliothek. Vieles hatte sein Bruder Alexander aus Lateinamerika mitgebracht. Wilhelm ließ Suchanzeigen nach linguistischen Publikationen in aller Welt verbreiten. Preußische und andere Diplomaten aus aller Welt sandten ihm Publikationen, Abschriften und Exzerpte davon und beantworteten ihm Fragen zu einheimischen Sprachen. Am besten unterrichtet war er über amerindische und malayo-polynesische Sprachen.

Humboldt ließ während der Jahre in Rom alle amerikanischen Grammatiken, die Hervás besaß, abschreiben. Der Kopist war meistens ein Angestellter der deutschen Botschaft.

Die verfügbaren Grammatiken lateinamerikanischer Sprachen fußten praktisch alle auf dem Modell der spanischen Grammatik von Nebrija 1492. Humboldt tadelte dieses Korsett wiederholt und versuchte, dahinter den eigentlichen Sprachbau zu entdecken. Dazu benötigte er vor allem Texte der Sprachen. Die jedoch gab es kaum. Allenfalls waren es Übersetzungen christlicher Texte, also von Teilen der Bibel und des Katechismus.

Humboldt stellte ab 1828 Johann Carl Eduard Buschmann als Sekretär und dann Mitarbeiter ein, um sein Projekt voranzubringen.

Schema der allgemein-vergleichenden Grammatik

Humboldt entwirft ein Schema, nach dem er die ihm vorliegenden Grammatiken neufaßt. Drei Beispiele:

Maya-Grammatik Mixteca-Grammatik Totonakische Grammatik
  1. Lautsystem
  2. Nomina
  3. Pronomina
  4. Bau des Verbum im Ganzen, und verschiedene Arten desselben
  5. Tempora, Konjugation
  6. Modi, infinitivus, Gerundia
  7. Unregelmäßige Verbalbildung
  8. Partikeln und Komposition
  9. Syntaxis
  10. Verzeichnis der grammatischen Bildungssilben
  11. Schlußbemerkungen
  1. Lautsystem
  2. Nomina
    • Bildung derselben
    • Ihre grammatische Umformung; Praepositionen
  3. Pronomina
  4. Reverencial
  5. Verba
  6. Derivation und Composition [Partikeln]
  7. Syntaxis
  8. Recapitulation
  1. Lautsystem
  2. Bildung der Nomina
  3. Adiectiua
  4. Declination
  5. Artikel
  6. Zahlwörter
  7. Pronomina
  8. Verba
    • Conjugation im ganzen
    • Andeutung des Objekts im Verbum
    • Unregelmäßige Verba
    • Verbundene Verba
    • Infinitiuus, Gerundia und Participia
  9. Partikeln
  10. Composition
  11. Syntaxis
  12. Prosodie
  13. Dialecte
  14. Verzeichniß der grammatischen Bildungssilben
  15. Schlußbemerkungen. Charakter der Sprache

Dazu hat jeweils eine Textsammlung zu kommen. Der unterschiedliche Detailgrad der Gliederung ist i.w. Resultat des Umfangs der ihm vorliegenden Informationen.

Die Gliederung basiert i.w. auf dem, was Humboldt die “Lautform” der Sprachen nennt, also nicht auf der inneren Form. Sie ist folglich nach heutigem Verständnis semasiologisch, nicht onomasiologisch.

Sprachtheorie

Humboldts philosophische Anthropologie entfaltet sich in seiner Sprachwissenschaft.

Sprachtheorie ist empirisch begründet auf Sprachvergleich. Z.B. basiert die Theorie der dialogischen Struktur der menschlichen Rede auf der Analyse des araukanischen Personalpronomens (1822), wo die Pronomina der 1. und 2. Person gemeinsam mit dem der 3. Person kontrastieren.

1827-9: Die Beziehung zwischen Sprache und Denken wird nicht “allgemein und metaphysisch” gedacht, sondern im Hinblick auf den “wirklich vorhandenen, lebendigen, durch alle die vielfachen örtlichen und geschichtlichen Verhältnisse der Irdischheit enge bedingten” Menschen.

Nachwirkung

Humboldt vermachte seinen Nachlass der Königlichen Bibliothek in Berlin. Diese gab alle Dubletten, d.i. etwa die Hälfte von Humboldts Bibliothek, an die Berliner Universitätsbibliothek weiter. Dieser Teil ist i.w. erhalten, während die Preußische Staatsbibliothek (seit 1918 Erbe der Königlichen Bibliothek) im II. Weltkrieg ausgelagert wurde, wodurch der größte Teil von Humboldts Bibliothek seitdem verschwunden ist.

Ein kleinerer Teil von Humbldts Manuskripten verblieb in Schloß Tegel. Die meisten verwaltete Buschmann. Er übergab einen Teil der Königlichen Bibliothek; den Rest, den er für seine Edition brauchte, behielt er. Buschmanns Nachlass inkl. dieser Humboldtschen Manuskripte gelangte nach seinem Tod ebenfalls in die Königliche Bibliothek. 1944 wurden die Bestände der Preußischen Staatsbibliothek an verschiedene Stellen ausgelagert. Der größte Teil von Humboldts Manuskripten kam nach Schlesien und von dort in die Biblioteka Jagiellońska, d.i. die Universitätsbibliothek Krakau. Dort sind sie bis heute. Mehrere andere Manuskripte sind verbrannt bzw. verschollen.

In Humboldts Nachlass finden sich folgende Arten von Handschriften:

1. Linguistische Abhandlungen

2. Grammatiken zahlreicher Sprachen

3. Arbeitsbücher: Notizen

4. Sammlungen handschriftlicher Grammatiken und Vokabularien anderer Autoren

5. Wissenschaftliche Korrespondenz

6. Sonstiges

Alexander von Humboldt hatte nach Wilhelms Tod mit Buschmann vereinbart, dass dieser den Nachlass publizieren sollte. Dies schaffte Buschmann jedoch nur ansatzweise: er stellte das Kawi-Werk fertig und publizierte es. Alle weiteren linguistischen Werke Humboldts blieben unpublizierte Manuskripte. Bereits Brandes (ed.) 1841-52 enthält von Humboldts linguistischen Werken nur diejenigen, die jener selbst publiziert hatte.

Heymann Steinthal, einer der besten Humboldt-Kenner des 19. Jh., stellte 1883f fest, daß Humboldt fast keinen seiner Zeitgenossen beeinflußt hat. Seit Steinthals Edition (1883f) der “sprachphilosophischen Werke” Humboldts werden diese immer wieder zur Kenntnis genommen. Seine empirische Sprachwissenschaft hingegen blieb unpubliziert und daher unbekannt. Ab Mitte des 19. Jh. wusste praktisch niemand mehr von Humboldts Projekt einer allgemein-vergleichenden Grammatik. Um davon zu erfahren, hätte man die Manuskripte im Nachlaß zur Kenntnis nehmen müssen, was erst Mueller-Vollmer ab 1989 tat.

Bibliographie

Brandes, Carl (ed.) 1841-52, Wilhelm von Humboldt’s gesammelte Werke. 7 Bände. Berlin: G. Reimer.

Hervás y Panduro, Lorenzo 1778-87, Idea dell'universo. 21 vols. in 4°. Cesena: [s.ed.].

Hervás y Panduro, Lorenzo 1800-05, Catálogo de las lenguas de las naciones conocidas, y numeración, división y clase de éstas según la diversitad de sus idiomas y dialectos. Madrid: [s.ed.].

Humboldt, Wilhelm von 1827-29, "Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues." Humboldt, Wilhelm von 1972, Schriften zur Sprachphilosophie [= Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Bd.III]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 144-367.

Lehmann, Christian 2009, "Maya-Grammatik [Edition des Manuskripts von Wilhelm von Humboldt]." Ringmacher, Manfred & Tintemann, Ute (eds.), Wilhelm von Humboldt. Mittelamerikanische Grammatiken. Paderborn etc.: F. Schöningh (Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprachwissenschaft, III, 4); 181-233.

Mueller-Vollmer, Kurt 1993, Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft. Ein kommentiertes Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses. Paderborn etc.: F. Schöningh (Schöningh Wissenschaft).

Nebrija, Antonio de 1492, Gramática de la lengua castellana. Ed. por Antonio Quilis, Madrid: Ed. Nacional, 1980.

Steinthal, Heymann 1883f, Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s von Humboldt. Berlin: Dümmler.