9. Phonologische Merkmale

9.1. Natürliche Klassen

Die bloß phonemische bzw. segmentale Repräsentation von Lauten (durch IPA-Symbole) behandelt die Klasse /a b c/ formal genauso wie die Klasse /b d g/. Tatsächlich aber sind die Mitglieder der letzteren Klasse in vielen Sprachen Gegenstand einer einheitlichen Regularität (z.B.intervokalische Frikativierung im Spanischen), die der ersteren Klasse dagegen in keiner. Die erste Menge von Segmenten ist daher bloß willkürlich zusammengestellt, die zweite dagegen hat einen gemeinsamen Nenner, es ist eine Klasse, deren Intension sich aus dem Verhalten der Segmente im Sprachsystem ergibt. Das betrifft die Distribution dieser Segmente und ihr gemeinsames Fungieren in phonologischen Regeln. Eine Klasse von Lauten, die gemeinsame phonologische Eigenschaften haben, ist eine natürliche Klasse. Beispiele aus dem Englischen:

Weitere natürliche Klassen
Klasse Kriterium
Dt. Obstruenten sind Input für Auslautverhärtung
Romanische vordere Vokale, velare Konsonanten konditionieren bzw. erleiden Palatalisierung
vorspanische stl. Plosive erleiden Assimilation intervokalischer Plosive

Ob man in einem gegebenen Merkmalsystem ein bestimmtes Merkmal braucht, hängt also davon ab, ob es eine entsprechende natürliche Klasse von Lauten gibt, die erfaßt werden muß. Das ist ein phonologischer Gesichtspunkt, der auch dann überwiegt, wenn diese natürliche Klasse keine feststellbaren phonetischen Eigenschaften gemeinsam haben sollte. Z.B. sind /l r w j/ im Englischen die einzigen Konsonanten, die am Silbenanfang nach stimmlosen Plosiven vorkommen; und außerdem ist ihnen eine Tendenz zur Verstimmlosung in diesem Kontext gemeinsam. Aber es gibt kein phonetisches Merkmal, welches sie alle gemeinsam haben. 'Sonorant', 'Konsonant', 'Vokal' sind solche Archi-Klassen, deren phonetisches Gegenstück nicht einfach ist.

9.2. Beziehung von phonologischen zu phonetischen Merkmalen

Wir hatten in Kap. 8.2 gesehen, daß artikulatorische, auditive und akustische Merkmale nicht notwendigerweise reinlich aufeinander abbildbar sind. Nun kommt die Komplikation hinzu, daß auch phonetische und phonologische Merkmale einander nicht präzise entsprechen müssen. Phonologische Merkmale können höchst abstrakt sein. Sie sind auf distributionellen und prozessualen Eigenschaften der Laute basiert. Manches funktionale /w/ ist phonetisch ein [v], z.B. im Sanskrit.1 Häufig korrelieren sie mit orthographischen Eigenschaften, denn ihre zugrundeliegende Realität ist in der Orthographie über phonologische Wandel hinweg konserviert worden; und außerdem ist die Orthographie sowieso immer der Semantik näher als die Phonetik (vgl. Kap. 7.1.1).

Mit Pike (1971) kann man nach ihrem Status und ihrer Abstraktheit eine etische von einer emischen Ebene unterscheiden (Näheres anderswo). Phonetische Einheiten sind der etischen, phonemische Einheiten der emischen Ebene zuzuordnen. Die etische Ebene ist universal, die emische die des einzelsprachlichen Systems. Artikulatorische, akustische und auditive Merkmale können daher universal sein; aber sie müssen nicht unbedingt Klassen von Lauten ergeben, die für das phonologische System der Einzelsprache relevant sind.

Die frühen Strukturalisten, insbesondere die Phonologen N.S. Trubetzkoy und R. Jakobson, hatten angenommen, diese Diskrepanz dadurch lösen zu können, daß jedes Sprachsystem eine Auswahl unter den universal verfügbaren phonetischen Merkmalen trifft (vgl. Kap. 8.3); und dies wären dann ihre phonologischen Merkmale. Wenn das Verhältnis so einfach wäre, wären auch die phonetischen Korrelate natürlicher Klassen gleich mitgegeben. Mittlerweile aber hat sich gezeigt, daß mehrere phonologische Klassen (wie z.B. die am Ende des vorigen Abschnitts genannten) keine klare phonetische Grundlage haben. Das phonetische Korrelat einer phonologischen Klasse kann auch syntagmatisch verschoben sein. Z.B. äußert sich der Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten in Wörtern wie feed vs. feet im australischen Englisch phonetisch am ehesten in der Länge des vorangehenden Segments. Wir sahen bereits in Kap. 5, daß Stimmhaftigkeit eines Konsonanten Länge des vorangehenden Vokals konditionieren kann (traditionell nennt man das “Ersatzdehnung”). In einem zweiten Schritt kann nun die Stimmhaftigkeit dieses Konsonanten aufgegeben werden,2 so daß die bisher konditionierte Vokallänge distinktive Funktion übernimmt. Dies ist in der letzten Spalte der folgenden Tabelle vereinfachend dargestellt.

Bei solchen Diskrepanzen spielt oft Sprachwandel eine Rolle. Z.B. schließt die Klasse der apikalen Konsonanten, die im Arabischen Assimilation des vorangehenden definiten Artikels konditionieren, zwar /ʒ/ ein, aber // aus, weil dieses historisch auf /g/ zurückgeht.

Eine einfache Identifikation phonologischer mit phonetischen Merkmalen ist also nicht möglich. Um die Diskrepanzen aufzulösen, sind verschiedene Wege versucht worden. Eine Möglichkeit sind komplexere Merkmalsysteme wie das von Ladefoged. Eine andere Möglichkeit sind komplexe Regelsysteme wie das von Chomsky & Halle 1968, die Repräsentationen einer abstrakten, morphophonemischen Ebene in Repräsentationen einer phonetischen Ebene überführen. Die endgültige Lösung des Problems ist noch nicht gefunden.

9.3. Merkmalsmatrizen und Diskretheit

Die formale Beziehung zwischen phonologischen und phonetischen Merkmalen fällt im einfachsten Falle so aus, daß ein Merkmal als phonologisches binär, als phonetisches jedoch mehrwertig ist. Dies entspricht dem Grundsatz, daß die einzelne Sprache ihre Kategorien über die universaliter vorgegebenen Kontinua stülpt. Wir sahen in Kap. 8.1.2, daß phonologische Merkmale die phonetische Kontinuität auf Diskretheit reduzieren.

Folgen von Lauten können als Folgen von Merkmalbündeln und somit als zweidimensionale Merkmalsmatrix dargestellt werden, wie in folgendem Beispiel (die Repräsentation ist nicht vollständig, die Merkmale sind z.T. willkürlich gewählt):

Significans als zweidimensionale Matrix (Clark & Yallop 1995:378)
pæn
voice-++
labial+--
stop+--
nasal--+
high---
back---

Diese Repräsentation verdeutlicht, daß die Lautkette nicht aus Segmenten qua aufeinanderfolgenden isolierten Blöcken zusammengesetzt ist, sondern daß der Wert eines bestimmten Merkmals über eine bestimmte Strecke von Segmenten konstant bleibt und dann umspringt. Z.B. ist das Wort pan zunächst stimmlos und wird vom zweiten Segment an bis zum Schluß stimmhaft. Darüber hinaus können die Merkmale auf phonetischer Ebene gegenüber den Segmentgrenzen phasenverschoben sein, so daß die Stimme erst und die Nasalität schon während des zweiten Segments einsetzt.

Deshalb rechnen diverse phonologische Theorien (prosodische und autosegmentale Phonologie) mit einer Schicht von Merkmalen, die erst auf ein segmentales Skelett abgebildet werden. Zwar sind Einheiten des Sprachsystems als solche immer diskret. Unser Bemühen, die gesamte Phonetik auf eine Folge von Segmenten zu reduzieren, mag jedoch auf alphabetischer Voreingenommenheit beruhen.

9.4. Hierarchie von Merkmalen

Die logischen Beziehungen zwischen distinktiven Merkmalen sind von zweierlei Art: sie bilden z.T. eine hierarchische, z.T. eine Kreuzklassifikation (ausführliche Erläuterung anderswo). Z.B. ergeben Lippenrundung und Konfiguration des Larynx eine Kreuzklassifikation, aber Nasalität gibt es nur bei suprapharyngalen Lauten, und offene Vokale sind stimmhaft.

In einer klassischen Merkmalsphonologie bilden die Merkmale eine ungeordnete Menge. Die Repräsentation von Lauten als "Bündel" von Merkmalen ist aber nicht ganz sachangemessen. Erstens bilden die Merkmale Klassen, z.B.:

(bezogen auf das System von Chomsky & Halle 1968) gehören jeweils zusammen.

Eine Regel, die die Artikulationsstelle assimiliert (z.B. von homorganischen Nasalen), betrifft dann nicht mehrere Merkmale einzeln, sondern eine Gruppe von Merkmalen. Solche Fragen sind Gegenstand der Dependenzphonologie und der Merkmalgeometrie.

Zweitens gibt es, entlang der erwähnten Hierarchie, Implikationsbeziehungen zwischen Merkmalen. Z.B. impliziert [+ tief] [+ sth] im selben Segment. Diese Information kann in einer Baumnotation für Merkmalbündel dargestellt werden.

9.5. Merkmalsystem nach Jakobson, Halle und Chomsky

Im folgenden wird i.w. das phonologische Merkmalsystem nach Chomsky & Halle 1968 verwendet, so wie in Clark & Yallop 1990, ch. 5 und Appendix 2.2 dargestellt. Das ältere System von Jakobson & Halle 1956 wird hier inkorporiert, weil seine akustische Konzeption in Chomsky & Halle 1968 nicht angemessen berücksichtigt ist. Einige seit 1968 gemachte Alternativvorschläge sind zwar in Details besser; aber es gibt keine so vollständige Theorie, die die Theorie des Sound pattern of English ersetzen könnte.

Alle diese Merkmale sind binär, nehmen also die Werte ‘+’ und ‘-’ an. Die zugrundeliegenden phonetischen Parameter sind jedoch häufig mehrwertig. Z.B. gibt es in den meisten Sprachen mehr als zwei Vokalhöhen und mehr als zwei Artikulationsstellen. In solchen Fällen reicht ein binäres Merkmal – im Falle der Beispiele etwa [± hoch] und [± hinten] – zur Beschreibung nicht aus. Mehrere der obigen binären Merkmale gehören deshalb zusammen in dem Sinne, daß sie gemeinsam ein Kontinuum unterteilen. Z.B. kann man ein System von drei Vokalhöhen so beschreiben:

hochtief
[i]+-
[e]--
[æ]-+

Allgemein gesagt, kann man ein Kontinuum von n Positionen mit n-1 binären Merkmalen beschreiben, deren jedes das Kontinuum auf andere Weise halbiert. Effizient ist das nicht, denn mit n binären Merkmalen kann man prinzipiell – Kreuzklassifikation vorausgesetzt – 2n Segmente beschreiben. Aber Elemente, die auf einer einzigen Dimension liegen, werden eben nicht kreuzklassifiziert.

Die folgende Tabelle zeigt die Wertespezifikation der Hauptlautklassen nach diesem Merkmalsystem.

9.6. Übungen

Übungen der folgenden Art lassen sich zu zweit machen:

Ferner:

  1. (1 P.) Nennen Sie eine Sprache, in der Stimmhaftigkeit in Affrikaten distinktiv ist.
  2. (1 P.) Welche Kombinationen von Werten der beiden Merkmale [high] und [low] in einem einzigen Segment sind möglich?
  3. (1 P.) Spezifizieren Sie die Werte von drei phonologischen Merkmalen für das deutsche [ŋ].
  4. (1 P.) Welche der folgenden Mengen von Symbolen repräsentiert eine natürliche Klasse des Deutschen:
    a.[ä ö ü]
    b.[s z ʃ]
    c.[a ɐ ɑ ɒ]
  5. (2 P.) Durch welche Merkmalspezifikation wird die Klasse der Liquiden identifiziert?
  6. (2 P.) Bilden Stimmhaftigkeit und Öffnungsgrad bei Vokalen eine hierarchische oder eine Kreuzklassifikation, und wieso?
  7. (3 P.) Stellen Sie das Significans von dt. Spiel als zweidimensionale Merkmalsmatrix dar.

9.7. Literatur

Chomsky & Halle 1968

Hjelmslev, Louis 1953, Prolegomena to a theory of language. Baltimore, MD: Indiana University Publications in Anthropology and Linguistics (International Journal of American Linguistics, 33(3), II/21) (2. ed. (slightly rev.): Madison: Univ. of Wisconsin Press, 1961.

Jakobson, Roman & Halle, Morris 1956, Fundamentals of language. 's-Gravenhage: Mouton & Co (Janua Linguarum, 1).


1 Vgl. Hjelmslev 1953 zu den Kenemen.

2 Der Dialekt von Clark & Yallop wäre dann also eine Variante des Englischen mit Auslautverhärtung.