Die paradigmatischen Relationen zwischen den deutschen Kasus lassen sich bis zu einem gewissen Grade als Markiertheitsverhältnisse verstehen.

  1. (10 P.) Stellen Sie die relative Markiertheit der deutschen Kasus nach folgenden Kriterien fest:
    1. overter Ausdruck,
    2. Neutralisation,
    3. fakultativer Ausdruck der markierten Kategorie,
    4. Kompensationsprinzip,
    5. Textfrequenz.
  2. (5 P.) Skizzieren Sie eine Merkmalshierarchie, deren Wertekombinationen diese Markiertheitsverhältnisse ergeben.



Musterlösung

Frage 1:

1. Overter Ausdruck

Die folgenden Feststellungen gelten für regelmäßige Deklination, also nicht für suppletive Fälle wie bei der, im Singular.

Nach diesem Kriterium ergibt sich die Markiertheitshierarchie: Nominativ < Akkusativ < Dativ < Genitiv.

2. Zusätzliches semantisches Merkmal

Läßt sich bei einem hochgradig grammatikalisierten Kasussystem – pace Jakobson – nicht machen.

3. Neutralisation

Wenn ein Nominalsyntagma ohne Artikel Komplement einer Präposition ist, steht es in keinem Kasus: zu Beginn. Die eintretende Form sieht aus wie der Nominativ.

4. Fakultativer Ausdruck der markierten Kategorie

In einer mit als eingeleiteten Apposition ist der Kasus fakultativ:

Bei Neutralisation tritt der Nominativ ein.

5. Kompensationsprinzip

Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf die schwache Deklination der Adjektive:

Dieser Befund spricht für eine Markiertheitshierarchie ‘Nominativ/Akkusativ < Genitiv/Dativ’.

6. Textfrequenz

Die Textfrequenz der Kasus wird wie folgt bestimmt: Für jedes NS im laufenden Text wird mithilfe seiner syntaktischen Funktion sein Kasus bestimmt. Prädikatsnomen wird gezählt. Präfigiertes pronominales Komplement einer Präposition wird nicht gezählt. Der Kasus wird für ein gegebenes NS nur einmal (also nicht für jedes Wort separat) gezählt.

In den ersten drei Absätzen des Märchens “Der Froschkönig” treten die Kasus mit folgender absoluter Häufigkeit auf:

Folgender Textabschnitt ist aus einer Ankündigung des Seminars “Strukturale Grammatik” entnommen:

In diesem Textabschnitt treten die Kasus mit folgender absoluten Häufigkeit auf:

Beide Zählungen sprechen für eine Markiertheitshierarchie ‘Nominativ < Dativ / Genitiv / Akkusativ’; sowie für Dativ < Genitiv; sie divergieren aber, was die Position des Akkusativs betrifft.

Die Ergebnisse der Anwendung der fünf Kriterien konvergieren also in folgender Markiertheitshierarchie der Kasus:

Nominativ < Akkusativ < Dativ < Genitiv.

Ihr widerspricht nur eine der Textauszählungen zum Teil. Wahrscheinlich ist die relativ niedrige Frequenz des Akkusativs für bestimmte Textsorten charakteristisch.

Frage 2:

Merkmalanalyse des deutschen Kasussystems
MerkmalWert
oblikum
adnominalum
indirektum
Nom.Akk.Dat.Gen.

Hiernach sind Dativ und Genitiv gleich markiert. Die obigen Ergebnisse reichen nicht aus, um eine andere Analyse zu erzwingen.