Sprachgeschichte

1. Synchronie und Diachronie

Vor dem Begriff der Sprachgeschichte ist zunächst das Verhältnis von Synchronie und Diachronie zu klären.


2. Geschichte einer Sprache

2.1. Voraussetzungen der Sprachgeschichte


2.2. Bestandteile der Sprachgeschichte

Die Geschichte einer Sprache ist, im obigen Sinne, nicht lediglich die Betrachtung eines Sprachsystems in diachroner Perspektive. Sie ist vielmehr wie folgt zu gliedern:

Die Sprachgeschichte versucht, zwischen diesen Bereichen einen Zusammenhang herzustellen, also etwa eine Neuerung in einer bestimmten Textsorte dingfest zu machen oder archaische Sprache mit ritueller Kommunikation zu verbinden.


2.3. Quellen (Daten) für die Geschichte der romanischen Sprachen

Die Daten, auf deren Basis man die Geschichte der romanischen Sprachen einschließlich des Lateinischen schreibt, sind für den allergrößten Teil der Geschichte, wie gesagt, schriftliche Zeugnisse. Erst etwa von 1900 an gibt es akustische und optische Aufzeichnungen, die im folgenden unberücksichtigt bleiben. Im übrigen lassen sich die Daten wie folgt klassifizieren:

2.3.1. Objektsprachliche Quellen

Objektsprachliche Quellen sind solche, die in der betreffenden Sprache/Sprachstufe abgefaßt sind und deren Gegenstand nicht wieder die Sprache ist. Nach der Weise der Überlieferung werden sie wie folgt unterteilt:

Das Wesentliche ist hier, daß von primären Quellen im einfachsten Falle das Original des Schreibers erhalten ist, oder sonst jedenfalls eine vertrauenswürdige Kopie. Literaturwerke hingegen sind selten im Original (Autograph) erhalten. Bis zur Erfindung des Buchdrucks mußte ein Werk, das der Nachwelt erhalten werden sollte, immer wieder abgeschrieben werden. Dabei wurde es in vielfacher Weise verändert, sowohl bewußt, in editorischer Absicht, als auch unbewußt, in Form von Schreibversehen oder Verständnisfehlern. Häufig wird die Sprachvarietät hierbei aktualisiert, etwa so, wie z.B. in Deutschland von der Bibel gelegentlich eine aktuelle Übersetzung angefertigt und kaum noch die Lutherbibel benutzt wird. Die Geschichte solcher Verändungen eines Werks nachzuzeichnen (Textedition), ist eine der zentralen Aufgaben der Philologie. Der Autograph ist freilich nur in seltenen Glücksfällen rekonstruierbar. Folglich geben sekundäre Quellen nur bedingt Aufschluß über den Sprachzustand, der bei ihrer Abfassung herrschte.

Primäre Quellen dagegen, z.B. Papyri, Inschriften auf Stein oder Metall und, aus dem späten Mittelalter und der Neuzeit, Urkunden und Briefe, repräsentieren unmittelbar die Schriftsprache ihres Schreibers (und, mit gewissen Abstrichen, ihres Autors). Sie sind daher unmittelbare historische Zeugnisse. Für die Systemlinguistik von besonderem methodischem Interesse sind sprachliche Fehler in solchen Dokumenten, weil man aus ihnen oft schließen kann, inwiefern die vom Autor/Schreiber gesprochene Sprache von der Schriftsprache abwich.


2.3.2. Metasprachliche Quellen

Unter metasprachlichen Quellen für die Geschichte einer Sprache sind zeitgenössische Aussagen über die Sprache zu verstehen. Im Falle des Lateinischen existiert eine native Grammatikographie seit 169 v.Ch., wo sie von den Griechen übernommen wurde. Wichtige lateinische Linguisten waren M. Terentius Varro (-116 bis -27), Aelius Donatus (4. Jh.) und Priscianus (Beginn des 6. Jh.). Sie prägten die lateinische Grammatik bis in die Neuzeit. Auch die lateinische Phonetik und Phonologie ist durch metasprachliche Quellen gut bekannt.


2.3.3. Fremdsprachliche Quellen

Unter fremdsprachlichen Quellen für die Geschichte einer Sprache sind Ausdrücke zu verstehen, welche zwar dieser Sprache entstammen, aber aus Entlehnungen in anderen Sprachen bekannt sind, so wie z.B. der lateinische Name Cicero auf Griechisch /ki'kerōn/ lautet. Insbesondere Eigennamen finden sich oft in anderen Sprachen, und manchmal auch nur dort.

Für das Lateinisch-Romanische sind Daten vorhanden von ca. 6. Jh. v.Ch. bis heute. Wie wir in Kap. 4 sehen werden, wurde Latein bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten nicht mehr gesprochen.


2.4. Rekonstruktion

Ein Sprachstadium, welches selbst nicht durch Dokumente belegt (und insofern prähistorisch) ist, kann man rekonstruieren. Als Grundlage dafür dienen normalerweise Daten aus historischen Sprachen, manchmal aber auch rekonstruierte Sprachen. Durch Rekonstruktion kann man die Geschichte nach rückwärts verlängern. Es gibt zwei Methoden der Rekonstruktion:


2.4.1. Innere Rekonstruktion

Bei der inneren Rekonstruktion einer Vorstufe einer Sprache L bezieht man alle Daten aus L, und zwar vor allem aus der ältesten belegten Stufe von L. Man analysiert die Variation vor allem im Hinblick auf die Spannung zwischen archaischen und modernen Varianten. Dazu gehören die Produktivität und Regelmäßigkeit von Mustern und Erkenntnisse darüber, welche Muster im Schwinden und welche im Ausbau begriffens sind. Die als archaisch erkannten Züge projiziert man in die rekonstruierte Sprachstufe zurück.

Im klassischen Latein lautet z.B. die 3. Ps. Sg. Perf. Konj. Akt. von facio “mache” fecerit. In altlateinischen Texten (sowie in archaisierenden Texten der klassischen Zeit) findet man in derselben Funktion auch die Form faxit. Die Form fecerit ist mit demselben Suffix gebildet wie die entsprechende Form in allen Konjugationen, während die Form faxit nur in einigen Verben der konsonantischen Konjugation ein Gegenstück hat. Auch verliert sich diese Form bald völlig aus dem Sprachgebrauch, und nur fecerit bleibt übrig. Aufgrund solcher Evidenz schließt man, daß es im Vorlateinischen faxit hieß und fecerit auf späterem analogischem Ausgleich beruht.

Hierbei werden die anhand einiger Beispiele rekonstruierbaren früheren Zustände dann auf das gesamte Sprachstadium verallgemeinert. Z.B. findet man in ganz alten Quellen für klass. iurat “er schwört” die Form iouesat. Hieran ist nicht nur der Diphthong /ou/ für späteres /ū/, sondern auch das intervokalische /s/ anstelle von späterem /r/ bemerkenswert. Dieses rekonstruiert man nun auch in Wörtern wie */flōsis/ > /flōris/ “Blume (Gen.Sg.)”, wo es nicht belegt ist.


2.4.2. Historischer Vergleich

Die historisch-vergleichende Methode zieht genetisch verwandte Sprachen heran, um die gemeinsame Ursprache oder die Vorgeschichte einer der beteiligten Sprachen zu rekonstruieren. Man kann die Methode auf die romanischen Sprachen anwenden und aus diesen das Urromanische rekonstruieren; und dieses kann man wieder mit dem belegten Latein vergleichen. Und man kann das Lateinische mit anderen indogermanischen Sprachen vergleichen und so entweder das Urindogermanische oder ein Vorlateinisch, z.B. das Uritalische, rekonstruieren.

Die historisch-vergleichenden Methode rekonstruiert Wörter und Wortformen, also Wortbildungsmechanismen und Flexionsparadigmen, sowie Lautsysteme. Das wesentliche Datum ist die regelmäßige Entsprechung zwischen Zeichen der verwandten Sprachen. Das besagt, daß deren Significata hinreichend ähnlich sind und die Unterschiede in ihren Significantia regelhaft sind. Z.B. hat Spanisch die Gruppen /pl, bl/ dort, wo Portugiesisch die Gruppen /pr, br/ hat, wie in span. plata = port. prata “Silber”, span. blanco = port. branco “weiß”. Wenn solche Entsprechungen für alle Wortformen der betreffenden Sprachen in ein Gesetz gefaßt werden können:

im Kontext ‘• [bilabial] __’ entspricht einem span. /l/ ein port. /r/,
sind es regelmäßige Entsprechungen.

Die theoretische Basis der historisch-vergleichenden Methode ist die Arbitrarietät des Sprachzeichens. Wenn man diese voraussetzt, kann es für regelmäßige Entsprechungen wie die soeben genannte nur eine Erklärung geben, nämlich genetische Verwandtschaft der beiden Sprachen. Auf diese Weise lassen sich Lexikon und Morphologie der beiden gemeinsamen Ursprache rekonstruieren. Aus den romanischen Sprachen rekonstruiert man so das Urromanische, aus den italischen Sprachen inkl. Latein das Uritalische, aus diesem sowie anderen indogermanischen Sprachen das Urindogermanische.