Die allgemein-vergleichende Sprachwissenschaft erreicht einen frühen Höhepunkt im Werk Wilhelm von Humboldts (1767-1835). Er ist der bedeutendste Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, insbesondere sowohl der größte Sprachenkenner als auch der wichtigste Sprachtheoretiker seiner Zeit. Er wird oft für einen Sprachphilosophen gehalten, war aber tatsächlich ein allgemeiner Sprachwissenschaftler im oben definierten Sinne, denn seine Theorie fußte auf der Auswertung und dem Vergleich von Grammatiken zahlreicher Sprachen. Zur Interpretation der humboldtschen Sprachtypologie s. bes. Coseriu 1972. Das folgende ist i.w. aus Humboldt 1836 exzerpiert; die Auffassungen früherer Werke weichen zum Teil davon ab.

§5. Die Sprachwissenschaft hat darzustellen, wie alle Sprachen zur "Idee der Sprachvollendung" beitragen. "Die Erreichung des gelungensten Sprachbaues" nähern die Sprachen allerdings nur in verschiedenem Maße an.

§11: Die Sprachwissenschaft setzt Sprachbau mit Geisteskraft in Beziehung. S. 417: "Dies erfordert noch ein eignes Aufsuchen der gemeinschaftlichen Quellen der einzelnen Eigentümlichkeiten, das Zusammenziehen der zerstreuten Züge in das Bild eines organischen Ganzen. Erst dadurch gewinnt man eine Handhabe, an der man die Einzelheiten festzuhalten vermag. Um daher verschiedene Sprachen in bezug auf ihren charakteristischen Bau fruchtbar miteinander zu vergleichen, muß man der Form einer jeden derselben sorgfältig nachforschen, um sich auf diese Weise zu vergewissern, auf welche Art jede die hauptsächlichen Fragen löst, welche aller Spracherzeugung als Aufgaben vorliegen."

Humboldts Terminus für das, was im 20. Jh. Sprachsystem heißt, ist also ‘Sprachform’.

§12, S. 420: "Die charakteristische Form der Sprachen hängt an jedem einzelnen ihrer kleinsten Elemente; jedes wird durch sie, wie unerklärlich es im einzelnen sei, auf irgendeine Weise bestimmt. Dagegen ist es kaum möglich, Punkte aufzufinden, von denen sich behaupten ließe, daß sie an ihnen, einzeln genommen, entscheidend haftete. Wenn man daher irgendeine gegebene Sprache durchgeht, so findet man vieles, das man sich, dem Wesen ihrer Form unbeschadet, auch wohl anders denken könnte, und wird, um diese rein geschieden zu erblicken, zu dem Gesamteindruck zurückgewiesen."

Humboldt fordert (S. 423), "dass in den Begriff der Form der Sprache keine Einzelheit als isolierte Tatsache, sondern immer nur insofern aufgenommen werden darf, als sich eine Methode der Sprachbildung an ihr entdecken lässt. Man muss durch die Darstellung der Form den spezifischen Weg erkennen, welchen die Sprache und mit ihr die Nation, der sie angehört, zum Gedankenausdruck einschlägt."

Im weiteren konzipiert Humboldt eine Hierarchie der Allgemeinheit vom einzelnen Sprachsystem über den Sprachtyp bis hinauf zur menschlichen Sprache überhaupt: S. 424: "Die Formen mehrerer Sprachen können in einer noch allgemeineren Form zusammenkommen, und die Formen aller tun dies in der Tat, insofern man überall bloß von dem Allgemeinsten ausgeht: von den Verhältnissen und Beziehungen der zur Bezeichnung der Begriffe und der zur Redefügung notwendigen Vorstellungen, von der Gleichheit der Lautorgane, deren Umfang und Natur nur eine bestimmte Zahl artikulierter Laute zulässt, von den Beziehungen endlich, welche zwischen einzelnen Konsonanten- und Vokallauten und gewissen sinnlichen Eindrücken obwalten, woraus dann Gleichheit der Bezeichnung, ohne Stammverwandschaft, entspringt."

Humboldt setzt zunächst, was die Wortstruktur betrifft, drei allgemeine Formen, also Sprachtypen an, den isolierenden, agglutinativen und flektierenden. Die theoretische Grundlage dieser spezifischen Typologie wird wie folgt gelegt:

§26, S. 489: "In allen, hier zusammengefaßten Fällen liegt in der innerlichen Bezeichnung der Wörter ein Doppeltes, dessen ganz verschiedene Natur sorgfältig getrennt werden muß. Es gesellt sich nämlich zu dem Acte der Bezeichnung des Begriffes selbst noch eine eigne, ihn in eine bestimmte Kategorie des Denkens oder Redens versetzende Arbeit des Geistes; und der volle Sinn des Wortes geht zugleich aus jenem Begriffsausdruck und dieser modificirenden Andeutung hervor. Diese beiden Elemente aber liegen in ganz verschiedenen Sphären. Die Bezeichnung des Begriffs gehört dem immer mehr objectiven Verfahren des Sprachsinnes an. Die Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act des sprachlichen Selbstbewußtseins, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesammtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in möglichster Reinheit und Tiefe vollendete, und der Sprache selbst fest einverleibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmelzung und Unterordnung, ihre selbstständige, aus dem Denken entspringende, und ihre mehr den äußeren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit folgende Thätigkeit."

S. 492: Wenn man vom isolierenden Bau absieht, können die grammatischen Kategorien und Relationen auf zwei Weisen am Stamm ausgedrückt werden: "durch innere Veränderung oder äußeren Zuwachs". Der oben dargestellten intellektuellen Operation entspricht die erstere Weise am besten. Fast ebenso wie die innere Veränderung funktioniert die "Anbildung", d.i. die flexivische Abwandlung einer Endung. Allerdings ist sie nicht leicht vom äußeren Zuwachs zu unterscheiden. Dieser jedenfalls ist "Zusammensetzung". Da werden zwei Begriffe bezeichnet, während die Aufgabe doch war, einen in eine bestimmte Kategorie bzw. Relation zu versetzen. Humboldt setzt also den agglutinativen und den flektierenden Bau als die Extreme eines Kontinuums an, dessen Zwischenstufen nicht immer leicht zugeordnet werden können.

S. 498: Dieses Kontinuum ist hinwiederum nur ein Teil eines noch umfassenderen Kontinuums, dessen Anfangspol der isolierende und dessen Endpol der flektierende Bau besetzt. Schematisch läßt sich das wie folgt darstellen:

Dabei wird angenommen, daß die “Kategorie des Denkens oder der Rede” in der isolierenden Konstruktion entweder gänzlich unausgedrückt bleibt oder – wie in dem Schema dargestellt – die Form der Bezeichnung eines weiteren Begriffs annimmt.

Die drei Typen können wie folgt durch Beispiele aus dem Vietnamesischen, Türkischen und Lateinischen illustriert werden.

B1.chįtôiđúǫcthó.
Vietältere.SchwestericherhaltBrief
“meine Schwester erhielt den/einen Brief.” (Kuhn 1989:10)
B2.kız-kardeş-immektub-ual-dı.
TürkMädchen-Bruder-POSS.1.SGBrief-AKKnehm-PRÄT
“meine Schwester bekam den Brief”
B3.sorormeaepistulamaccepit.
LatSchwester.F(NOM.SG)POSS.1.SG:NOM.SG.FBrief.F:AKK.SGbekomm\PERF:3.SG
“meine Schwester erhielt den/einen Brief”

Das Wesentliche an dem Unterschied zwischen dem flektierenden und dem agglutinativen Typ ist nicht, wie im 20. Jh. seit Sapir vermeint wird und wie es auch das Schema vermuten lassen könnte, der Fusionsgrad der betreffenden Morpheme, sondern es ist die morphologische Optionalität der grammatischen Kategorien im agglutinativen Typ:

Humboldts Typologie ist evolutiv konzipiert. D.h. es besteht eine dynamische Beziehung zwischen den Typen, die in einem Übergang von oben nach unten in dem Schema besteht. Z.B. involviert die deutsche Pluralbildung wie in Sohn - Söhne sowohl innere Veränderung des Stamms als auch Anfügung eines Suffixes.

Der Satz besteht aus Wortformen. Hier sieht Humboldt zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten: Entweder fertige Wortformen werden zu einem Satz zusammengesetzt, oder der Satz wird gar nicht erst in einzelne Wortformen zerlegt, sondern besteht nur aus einer einzigen, komplexen Wortform. Die bisher behandelten morphologischen Typen haben alle das erste Verfahren zur Satzbildung gemeinsam, wobei freilich die flektierenden Sprachen wieder die Aufgabe am besten erfüllen, weil sie “schon in die Einheit des Wortes seine Beziehungen zum Satze verflechten” (S. 528). Das zweite Verfahren ist das der Einverleibung (Inkorporation), welches mit B4.a aus dem Aztekischen illustriert wird.

B4.a.ni-naka-kwa
NahSBJ.1.SG-Fleisch-eß
“ich esse Fleisch”
 b.ni-k-kwainnaka-tl
SBJ.1.SG-OBJ.3.SG-eßDEFFleisch-ABSL
“ich esse das Fleisch”

S. 531: "Der Satz soll, seiner Form nach, schon im Verbum abgeschlossen erscheinen und wird [in B4.b] nur nachher, gleichsam durch Apposition, näher bestimmt."
S. 534f: "Die Einverleibungsmethode ... läßt ... aus dem Mittelpunkte des Satzes Kennzeichen, gleichsam wie Spitzen ausgehen, die Richtungen anzuzeigen, in welchen die einzelnen Teile, ihrem Verhältnis zum Satze gemäß, gesucht werden müssen."

Für diese Typologie beansprucht Humboldt Exhaustivität:
S. 529: "Jenes dreifache Verfahren nun, das sorgfältige grammatische Zurichten des Wortes zur Satzverknüpfung [flektierender Typ], die ganz indirekte und größtenteils lautlose Andeutung derselben [isolierender Typ], und das enge Zusammenhalten des ganzen Satzes, soviel es immer möglich ist, in einer zusammen ausgesprochenen Form [einverleibender Typ], erschöpft die Art, wie die Sprachen den Satz aus Wörtern zusammenfügen."

Die zuvor postulierten allgemeineren Sprachformen [Sprachtypen] sind abstrakte Konstrukte:
S. 653f: "Alle Sprachen tragen eine oder mehrere dieser Formen in sich, und es kommt zur Beurteilung ihrer relativen Vorzüge darauf an, wie sie jene abstrakten Formen in ihre konkrete aufgenommen haben oder vielmehr welches das Prinzip dieser Annahme oder Mischung ist. Diese Unterscheidung der abstrakten möglichen Sprachformen von den konkreten wird, wie ich mir schmeichle, schon dazu beitragen, den befremdenden Eindruck des Heraushebens einiger Sprachen als der allein berechtigten, welches die andren eben dadurch zu unvollkommneren stempelt, zu vermindern."

Die Typologie des 19. Jh. wird oft pauschal als “morphologische Typologie” bezeichnet. Das mag für einige Autoren zutreffen, jedoch eindeutig nicht für W.v. Humboldt. Seinen einverleibenden Typ bezeichnet er ausdrücklich als ein Verfahren zur Bildung des Satzes, und die isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Typen bezieht er in die Satzbildungstypologie ausdrücklich ein:

>S. 501: “Flexion, Worteinheit und angemessene Gliederung des Satzes sollten daher in der Betrachtung der Sprache nie getrennt werden.”

Allerdings stellt Humboldt sich vor, daß die Satzbildung auf der Bildung der Wortformen basiert.

Humboldts evolutive Typologie ist eingehender in Lehmann 1989 dargestellt.

Hier ist eine Übungsaufgabe zur typologischen Charakterisierung der türkischen und russischen Deklination.


1 Wiewohl Deutsch keine rein flektierende Sprache in diesem Sinne ist, illustriert doch folgendes Beispiel das Gemeinte: Der Stamm des Verbs sterben ist sterb-. Dieser kommt nicht in Texten als Wortform vor; vorkommen tun nur sterbe, stirbst, starb usw. In einer agglutinativen Sprache dagegen wäre sterb gleichzeitig eine von den Wortformen (z.B. die dritte Person Singular Präsens.)

Literatur

Lehmann, Christian 1989, “Wilhelm von Humboldts Theorie der Sprachevolution”. Erfurt: Seminar für Sprachwissenschaft (CLIPP) (auf dem Web).