Eine Vorstufe einer Sprache Li ist eine Sprache Lj, die mit Li diachron identisch ist, Li jedoch diachron vorangeht.

Eine Ursprache einer Sprache Li ist eine Sprache Lj, die eine Vorstufe von Li ist und die nicht historisch belegt ist.

Zwei elementare Erkenntnisinteressen sind die folgenden:

  1. man will das Wesen von etwas dadurch verstehen, daß man sieht, wie es woraus entstanden ist;
  2. man will Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen bringen, um sie besser erfassen und kontrollieren zu können.

Die beiden Erkenntnisinteressen kombinieren sich im Falle der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft zu dem Ziel, Ursprachen zu konstruieren. Denn diese befriedigen sowohl das Interesse 1, da man die Gestalt einer gegebenen Sprache verstehen kann, indem man sie auf ihre Ursprache zurückführt, als auch das Interesse 2, da alle auf dieselbe Ursprache zurückgehenden Sprachen genetisch verwandt sind. Die Ansetzung einer Ursprache dient also gleichzeitig der (durch Verlängerung nach rückwärts vervollständigten) Geschichte einer Sprache und dem Nachweis ihrer genetischen Verwandtschaft mit anderen Sprachen.

Beispiele für Ursprachen sind Urgermanisch, Urromanisch, Urindogermanisch oder (Ur-)Nostratisch. Dabei weist das Präfix Ur- (griech. Proto-) auf den prähistorischen Status der Sprache hin.1 Auch die Ursprache der Menschheit ist im Prinzip eine Ursprache wie die genannten; allerdings wird sie mit anderen Methoden rekonstruiert (s. den betreffenden Abschnitt).

Ursprachen haben einen komplizierten ontologischen Status. Sie sind ex hypothesi Sprachen ebenso wie die historischen Sprachen, also wie Niederländisch, Französisch usw. Tatsächlich haben sie auch ein Sprachsystem in demselben Sinne wie diese, nämlich ein den Texten zugrundeliegendes System, das virtuell, also selbst nicht als Phänomen beobachtbar, ist und daher von Wissenschaftlern konstruiert wird, m.a.W. ein wissenschaftliches Konstrukt ist. Ursprachen unterscheiden sich von historischen Sprachen jedoch dadurch, daß die Texte, die ihr System aktualisieren, nicht als Daten vorliegen. Daraus folgt, daß Ursprachen insoweit nicht historisch verankert sind. Deshalb ist es meist auch schwierig bis unmöglich, sie raumzeitlich zu verorten und eine Sprachgemeinschaft für sie zu anzugeben. Ursprachen sind also, ontologisch betrachtet, reine Sprachsysteme.

Das System einer Ursprache ist zwar, wie gesagt, ein Sprachsystem wie jedes andere auch (Genaueres hierzu später). Es unterscheidet sich aber von den Systemen historischer Sprachen durch die Methode, durch welche es konstruiert wird. Das System einer historischen Sprache ist sozusagen mit den Daten, aus denen es konstruiert wird, gleichzeitig. Das System einer Ursprache soll das gerade nicht sein; es soll den Daten, aus denen es konstruiert wird, zeitlich vorangehen. Deshalb spricht man hier von Rekonstruktion.


1 Auch das Urromanische ist insofern prähistorisch, als es zwar zu historischer Zeit existiert haben soll, aber selbst nicht historisch belegt ist, sondern den historischen Stufen der romanischen Sprachen vorangeht.