Parameter der Grammatikalisierung

Grammatikalisierung ist die Unterwerfung einer signifikativen Einheit (beliebiger Komplexitätsstufe) unter Regeln der Grammatik. Sie wird dadurch der Freiheit des Sprechers in bezug auf Selektion und Kombination der Einheiten entzogen und stattdessen Beschränkungen unterworfen, ihre Bestandteile verlieren an Autonomie, ihre Bildung wird automatisiert. Der Begriff wird an anderer Stelle eingeführt; die vorliegende Behandlung setzt darauf auf.

Die meisten Schulbeispiele für Grammatikalisierung entstammen der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte. Z.B. gibt es im Lateinischen die Präpositionen “von ... herab” und ad “(hin) zu”. Sie werden zu frz. de GEN und à DAT (ebenso ital. di, a, span. de, a, port. de, a usw.). Die lateinischen Präpositionen hatten konkrete lokale Bedeutungen, die romanischen Präpositionen erfüllen ziemlich abstrakte Funktionen in der Markierung grammatischer Relationen, die im Lateinischen durch die Kasus Genitiv und Dativ erfüllt worden waren.

Im Lateinischen gibt es diverse Demonstrativpronomina, die auch substantivisch gebraucht werden können, wie ille “jener, dér” in .a.

.a.lat.ille venit"dér kommt"
b.span.él viene"er kommt"
c.it.egli viene"er kommt"
d.frz.il vient"er kommt"

In den romanischen Sprachen (.b-d) wird dieses Demonstrativum zum Personalpronomen grammatikalisiert; das im Lateinischen existiert habende Personale der 3. Ps. (is “er”) wird dadurch verdrängt. Die Beispiele illustrieren nur die Subjektsfunktion; andere Formen desselben lateinischen Pronomens geben die romanischen Klitika in direkter und indirekter Objektsfunktion (frz. le, lui usw.) ab.

Die Beispiele zeigen, daß ein grammatikalisiertes Zeichen weniger frei selektiert und kombiniert wird, d.h. daß es auf der paradigmatischen und syntagmatischen Achse an Autonomie verliert. Dieser Vorgang ist anhand der sechs Parameter operationalisierbar, die in der folgenden Tabelle systematisiert sind.

Parameter der Grammatikalisierung
Relationenachse
Autonomieaspekt   ╲
paradigmatischsyntagmatisch
Kohäsion ParadigmatizitätFügungsenge
Variabilität WählbarkeitStellungsfreiheit
Gewicht IntegritätSkopus

Die Paradigmatizität nimmt durch Grammatikalisierung zu. Die beiden lateinischen Präpositionen de und ad gehören einfach der Wortart der Präpositionen an, die allenfalls ein sehr heterogenes Paradigma bilden. In einer romanischen Sprache sind dies jedoch die beiden Präpositionen, welche grammatische Relationen markieren. Im Ausdruck haben sie gemeinsam, daß sie nicht nur einsilbig sind, sondern auch auf Kurzvokal enden. Sie bilden also ein homogenes binäres Paradigma. Entsprechendes gilt für den Eintritt des ehemaligen Demonstrativums ins Paradigma der Personalia.

Die Wählbarkeit nimmt durch Grammatikalisierung ab. Die beiden lateinischen Präpositionen werden nach rein semantischen Rücksichten gewählt und sind unter keinen Umständen obligatorisch. Die entsprechenden romanischen Präpositionen unterliegen vielfachen Beschränkungen, werden z.B. von Verben regiert oder zur Bildung von Attributen benötigt und sind dort obligatorisch. Entsprechendes gilt für das französische Personale im Vergleich zum lateinischen Demonstrativum.

Die Integrität nimmt durch Grammatikalisierung ab. Von beiden lateinischen Präpositionen wird das Significans vereinfacht, und das Significatum verliert ebenfalls diejenigen semantischen Merkmale, die die konkrete lokale Bedeutung ausmachen (s. Bedeutungsverallgemeinerung). Ebenso wird lat. ille auf dem Weg zu den romanischen Personalia kürzer und verliert die semantische Komponente der distalen Deixis.

Die Fügungsenge nimmt durch Grammatikalisierung zu. Die lateinischen Präpositionen sind selbständige Wörter. Die romanischen Präpositionen fusionieren mit dem folgenden definiten, in einigen Sprachen auch mit dem indefiniten Artikel. Ebenso ist lat. ille völlig ungebunden, aber das Personale der dritten Person entwickelt sich, besonders im Französischen, zum Affix des Verbs.

Die Stellungsfreiheit nimmt durch Grammatikalisierung ab. Die lateinischen Präpositionen können vor oder mitten im regierten NS stehen; die romanischen Präpositionen stehen unmittelbar davor. Lat. ille kann jede Stellung im Satz einnehmen. Die romanischen klitischen Personalia haben eine feste Position vor oder nach dem Verb.

Der Skopus nimmt durch Grammatikalisierung ab. Die lateinischen Präpositionen kombinieren sich noch mit infiniten Satzkonstruktionen, die romanischen nur noch mit NSen. Lat. ille referiert ausschließlich aus seinem Satz heraus, während die klitischen Personalia in einigen romanischen Sprachen auf das Subjekt (bzw. Objekt) desselben Satzes referieren können.

Grammatikalisierung von Tempus/Aspekt/Modus

Das deutsche und englische periphrastische Perfekt wird mit dem Hilfsverb haben/have und dem Partizip Perfekt gebildet. Das Hilfsverb ist aus dem Vollverb haben/have “besitzen” grammatikalisiert. Ich habe ein Buch gekauft hat ursprünglich bedeutet “ich habe ein Buch als gekauftes”. Auf die gleiche Weise ist das periphrastische Perfekt in den romanischen Sprachen (mit frz. avoir, span. haber usw.) entstanden.

Das Futur geht oft auf eine Periphrase aus ‘gehen’ plus Infinitiv zurück. So im engl. I am going to X, frz. je vais X, span. voy a X usw. Eine andere Möglichkeit ist die Periphrase mit einem Verb des Wollens, wie im engl. I will X. Ebenso ist das neugriechische Futur entstanden:

Greek periphrastic future (Joseph 2011:197)
stageAncient GreekMiddle GreekModern Greek
formthélō hína X thélō hína X thélei ína X thel(i) na X thenna X thana X tha X
meaningI want that X I will X X will happen
mgr. thélō hína gráphō “ich will schreiben” → ngr. tha (na) grapho “ich werde schreiben”

Das deutsche periphrastische Futur dagegen geht auf eine syntaktische Konstruktion mit dem inchoativen Verb werden plus Partizip Präsens als Prädikatsnomen zurück:

ahd. wird lesende → mhd. wird lesen.

Die gleiche Konstruktion, aber mit dem finiten Verb im Konjunktiv II, ergibt den periphrastischen Konjunktiv II:

ahd. würde lesende → mhd. würde lesen.

Für den progressiven Aspekt wird in zahlreichen Sprachen die Kopula ‘sein’ als Hilfsverb rekrutiert. Seine Entstehung im Umgangsdeutschen ist anderwärts dargestellt.

In allen funktionalen Bereichen kann grammatische Morphologie durch Grammatikalisierung entstehen. Daher kann man für einen gegebenen funktionalen Bereich die Ausdrucksmittel danach ordnen, wie sie durch Grammatikalisierung auseinander entstehen. Es ergeben sich dann Grammatikalisierungskanäle (engl. grammaticalization paths) wie die folgende:

Grammatikalisierungskanal der Tempus/Aspekt/Moduskategorien

Weitere Beispiele von spanischen Aktionsart-Hilfsverben finden sich an anderer Stelle.

Andere funktionale Domänen

In allen funktionalen Domänen ließe sich zeigen, wie grammatische Formative aus lexikalischen Einheiten, wie morphologische Strukturen aus syntaktischen grammatikalisiert werden. Oben war vom Personalpronomen der 3. Ps. die Rede. Dafür läßt sich der folgende Grammatikalisierungskanal aufstellen:

Grammatikalisierung anaphorischer Pronomina
Substantiv>freies
Pers.pron.
>klitisches
Pers.pron.
>agglutinatives
Personalaffix
>flexivisches
Personalaffix
>Verbmarker

Hiervon illustrieren Latein und die romanischen Sprachen mit dem besprochenen Beispiel die zweite und dritte Phase. Die klitischen Pronomina des Französischen sind auf dem Weg zur vierten Phase. Die fünfte Phase ist aus den Personalendungen des Lateinischen und Deutschen wohlbekannt. In der sechsten Phase gehen Subjektsaffixe in Verbmarker und Objektaffixe in Transitivitätsmarker über; so z.B. im Tok Pisin, einem englischbasierten Pidgin im pazifischen Raum um Neuguinea.

Auch die Pronomina der anderen Personen entstehen durch Grammatikalisierung. Im Indonesischen z.B. ist eines der Pronomina für die 1.Ps.Sg. saya, welches aus sahaya “Diener” grammatikalisiert ist. Und eines der Pronomina für die 2.Ps.Sg. ist tuan, welches aus einem arabischen Lehnwort der Bedeutung “Meister” grammatikalisiert ist. Das spanische Pronomen der höflichen Anrede, usted “Sie”, ist aus vuestra merced “Euer Gnaden” grammatikalisiert.

Adpositionen entstehen aus relationalen Substantiven. Z.B. gehen die englischen Präpositionen before und behind auf die syntaktischen Fügungen by (the) fore “an der Vorderseite” und by (the) hind “an der Rückseite” zurück.

Kasussuffixe entstehen aus Postpositionen. Im Türkischen z.B. gibt es eine Postposition ile “mit”, die seit einiger Zeit zum Instrumentalsuffix wird. Während die Postposition ein autonomes Wort ist, unterliegt das Instrumentalsuffix -(i)le/(i)la der Vokalharmonie des Stammes, an dem es hängt. Wir haben somit folgenden Grammatikalisierungskanal:

Grammatikalisierung von Kasusrelatoren
relationales Substantiv
+ Kasusrelator
>Adposition>agglutinatives
Kasusaffix
>fusioniertes
Kasusaffix
>Ø

Davon sind die ersten drei Stufen durch die gegebenen Beispiele illustriert. Für die vierte Stufe kann man die deutschen und lateinischen Kasusendungen anführen. Den Übergang zur letzten Stufe illustriert der Verlust der Kasusflexion vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen und vom Germanischen zum Englischen.

Entstehung, Erneuerung und Verstärkung grammatischer Kategorien

Durch Grammatikalisierung können neue grammatische Kategorien entstehen, die die Sprache zuvor nicht hatte. So entsteht der definite Artikel in den germanischen und romanischen Sprachen durch Grammatikalisierung distaler Demonstrativa; und der indefinite Artikel wird aus dem Zahlwort für ‘eins’ grammatikalisiert. Die Ausgangssprachen – Urgermanisch und Lateinisch – hatten gar keinen Artikel. Hier führt Grammatikalisierung also zu einem weitreichenden grammatischen Wandel. Ähnliches gilt für den progressiven Aspekt – engl. be + V-ing, span. estar + V-ndo, Umgangsdeutsch am + Vinf + sein –, der in den betreffenden germanischen und romanischen Sprachen keine historischen Vorbilder hat (allerdings in wechselseitigem arealen Kontakt entstanden sein kann).

Häufiger noch entstehen durch Grammatikalisierung grammatische Formative in einer Kategorie, die längst in der Sprache besteht. Etwa schon existierende Formen mit denselben Werten werden durch die neuen verdrängt. So jhatten die oben erwähnten Sprachen alle längst ein Futur in der Konjugation. Das neue Futur ersetzt das alte. Dieser Effekt von Grammatikalisierung heißt Erneuerung.

Die Erneuerung einer Flexionskategorie läuft häufig darauf hinaus, daß synthetische durch analytische Flexion ersetzt wird. Hier sind Beispiele aus der Geschichte des Französischen:

Von synthetischer zu analytischer Morphologie
     Synthesegrad
Kategorie     ╲
synthetisch analytisch
Präteritum fit a fait
Futur fera va faire

Wenn dies in einer gegebenen Phase der Sprachgeschichte in systematischer Weise geschieht, resultiert typologischer Wandel, eben vom synthetischen zum analytischen Typ. Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als laufe dieser der Richtung der Grammatikalisierung entgegen. Aber Grammatikalisierung setzt diachrone Identität der betroffenen Einheiten voraus. Die ersetzten synthetischen sind mit den neuen analytischen Konstruktionen gerade nicht diachron identisch. Und diese letzteren entstehen eben genau durch Grammatikalisierung. Daher ist dieser typologische Wandel zwanglos durch Grammatikalisierung erklärbar.

Oft ist die neue Form exakt mit der alten synonym. So sind im heutigen Deutschen läse und würde lesen voll synonyme Varianten. Hier ist Grammatikalisierung also konservativ und dient der Erhaltung des grammatischen Systems. Bemerkenswert ist auch, daß die Funktion der würde-Periphrase eigentlich gerade von dem im Hilfsverb steckenden Konjunktiv II (Umlaut der präteritalen Form), also eben derselben Flexionskategorie erfüllt wird, die durch diese Periphrase verdrängt wird. Die lexikalische Bedeutung von werden dagegen wird völlig irrelevant. Ähnlich ist es mit dem derzeit im Spanischen entstehenden Lokativ. Er wird durch die Präposition en ausgedrückt. Diese geht auf lat. in “in” zurück, welche hinwiederum auf ein indogermanisches Substantiv der Bedeutung “Inneres” im Lokativ zurückgeht.

In Fällen wie dt. würde, wo das alte Formativ als Teil des neuen fortexistiert, spricht man von Verstärkung. Ein klares Beispiel ist die französische Negation mit ne ... pas. Sie ist aus lat. non ... passum “nicht einen Schritt” grammatikalisiert. Diese Wendung enthält den Negator non, der zu ne verkürzt, aber gleichzeitig durch passum verstärkt wird. Im heutigen gesprochenen Französisch wird der ehemalige Negator ganz weggelassen; und was ehemals die Verstärkung war, eben pas, wird neuer Negator.

Phasen der Grammatikalisierung

Die oben besprochenen sechs Parameter der Grammatikalisierung lassen sich zusammenfassend wie folgt dynamisieren:

Allgemeine Grammatikalisierungsskala
   Grammatizitätschwach―→stark  
Parameter     ╲Prozeß
ParadigmatizitätZeichen gehört zu losem WortfeldParadigmatisierungZeichen gehört zu hochintegriertem Paradigma
WählbarkeitZeichen ist nach kommunikativen Absichten frei wählbarObligatorisierungWahl des Zeichens ist beschränkt bzw. obligatorisch
IntegritätBündel semantischer Merkmale; evtl. mehrsilbigErosiongrammatische Merkmale; oligo- oder monosegmental
FügungsengeZeichen ist unabhängig juxtaponiertKoaleszenzZeichen ist Affix oder bloß phonologische Eigenschaft des Träger
StellungsfreiheitZeichen ist frei umstellbarFixierungZeichen besetzt feste Position
SkopusZeichen bezieht sich auf Syntagma beliebiger KomplexitätKondensierungZeichen modifiziert Stamm

Die sechs Parameter korrelieren hochgradig miteinander. Allerdings lassen sich nicht für alle gegebenen Beispiele Veränderungen auf allen sechs Parametern nachweisen. Es gibt aber keinen Fall, wo die Entwicklung auf einem der Parameter gegenläufig wäre.

Die Grammatikalisierung wirkt gleichzeitig auf allen grammatischen Ebenen. Sie erfaßt gleichzeitig die schon bestehende Flexionsmorphologie und die zu ihrem Ersatz gebildeten grammatischen Wörter. Die Frage, ob erst der alte Ausdruck durch Abnutzung verschwindet und dann durch “Rekrutierung” neuer Lexeme für den Verlust Ersatz geschaffen wird (so stellte man sich im 19. Jh. den Eintritt von rom. a und de in die Funktionen der verlorenen lateinischen Kasus Dativ und Genitiv vor) oder ob die Grammatikalisierung der neuen Bildung die alte verdrängt und überflüssig macht (so stellte man sich den Vorgang oft im 20. Jh. vor), ist daher müßig.

Grammatikalisierung schiebt sprachliche Einheiten die Hierarchie der grammatischen Ebenen hinunter. Am Anfang stehen Einheiten auf Textebene, deren Selektion und Kombination nur pragmatischen und semantischen Diskursprinzipien unterliegen. Am Ende stehen mit einem Träger fusionierte grammatische Formative, die vollständig morphologischen Regeln gehorchen. Dieser Weg ist zwar kontinuierlich, aber man kann doch die folgenden Phasen unterscheiden:

Phasen der Grammatikalisierung
EbeneDiskursSyntaxMorphologieMorphophonemik
Technikisolierend>

analytisch>

synthetisch-
agglutinativ
>

synthetisch-
flektierend
>

null
Phase    Syntaktisierung   Morphologisierung   Demorphologisierung      Verlust
Prozess
Grammatikalisierung

Weitere Beispiele aus der lateinisch-romanischen Sprachgeschichte finden sich an anderer Stelle.

Übungsaufgabe: Rezipientenpassiv

Übungsaufgabe: lateinisch-spanische Indefinitheit