Umstrukturierung

Die Struktur des Lexikons besteht in den formalen und semantischen Beziehungen seiner Einträge. Wenn ein Wort Struktur bekommt, nimmt es folglich formale Beziehungen zu anderen Lexikoneinträgen auf; wenn ein Wort Struktur verliert, gehen lexikalische Relationen verloren.

Einführung von Struktur

Reanalyse

Viele Lexikoneinträge haben keine für den Sprachbraucher durchsichtige morphologische Struktur. Das gilt vor allem für monomorphematische Wörter und allgemein für Stämme, die nicht nach den jeweils gültigen Wortbildungsregeln gebildet sind. Es gilt aber auch für Fremdwörter; denn eine fremde Sprache so weit zu beherrschen, daß man Wörter aus ihr entlehnen kann, impliziert nicht, daß man deren morphologische Struktur durchschaut.

In der zweiten Hälfte des 20. Jh. kamen zweiteilige Damenbadeanzüge auf. Sie wurden Bikini genannt, in Anlehnung an das Bikini-Atoll, auf dem die USA Atombombenversuche durchgeführt hatten. (Der Ausdruck mag metonymisch-metaphorisch durch explosive Badefreuden motiviert sein.) Der Ausdruck wurde reinterpretiert (“reanalysiert”) als Bi-kini "Zweiteiler", analog zu Bi-gamie vs. Mono-gamie. Den Vollzug dieser Reanalyse beweist die Benennung des in den sechziger Jahren folgenden Oben-ohne-Einteilers als Monokini.

Die Benennung des belegten Brötchens als Hamburger kam als Fremdwort ins Englische. In ihm wurde das Morphem ham “Schinken” entdeckt; und auf der Basis der so zugewiesenen morphologischen Struktur wurden Varianten des belegten Brötchens cheeseburger, fishburger usw. genannt und schließlich auch das Hyperonym burger “belegtes Brötchen” gebildet.

Volksetymologie

Monomorphematische Wörter sind in den meisten Sprachen nur ein oder zwei Silben lang. Längere Wörter sind dem Anfangsverdacht ausgesetzt, morphologisch komplex zu sein. Ihnen wird dann gelegentlich in Anlehnung an existierende Morpheme eine morphologische Struktur verliehen. Die Tabelle zeigt einige geläufige Beispiele:

Volksetymologie
OriginalVolksetymologie
SpracheAusdruckBedeutungSpracheAusdruckBemerkung
lat.asparagusSpargelengl.sparrow grass
mhd.bīspelBeiredenhd.Beispiel
ahd.(fir-)bliuwanschlagennhd.(ver-)bläuenorthograph. Anpassung von nhd. bleuen
ahd.sinvluotallgemeine Überschwemmungnhd.Sündflutvia mhd. sintfluot
ahd.wansinohne-Sinnnhd.Wahnsinn
fnhd.SeelhundRobbenhd.Seehundmnd. sēl = engl. seal
mhd.moltwerfErdwerfernhd.Maulwurf
ungar.talpasbreitfüßignhd.Tolpatsch
mhd.zier-ôtschmuck-ABSTRnhd.Zierratorthograph. Variante zu Zierat
engl.cake-sKuchen-PLnhd.KeksPluralsuffix inkorporiert.
engl.holisticholistischengl.wholisticgr. holo- und engl. whole “ganz” sind zufällig lautlich ähnlich.
westind.hamacaHängematteniederländ.hangmatvia Spanisch. Das deutsche ist Lehnübersetzung aus dem Niederländischen.

Volksetymologie entspringt einer Bemühung um Motivation von Bezeichnungen. Die Kreativität bei der Umdeutung zu einem durchsichtigen Wort geht in einigen Fällen wie Seehund und Maulwurf so weit, daß die Sprachbenutzer dem Designatum – mangels geeigneten enzyklopädischen Wissens – auf Basis der neuen Bezeichnung sachlich unzutreffende Eigenschaften zuschreiben.

Ausdruckserweiterung

Eine andere Weise, einem Wort zusätzliche Struktur zu verleihen, ist es, dem unanalysablen Stamm Morpheme hinzuzufügen, die ihn wenigstens in ein bekanntes Paradigma einsortieren. Einschlägig ist hier bereits das oben zitierte Beispiel von fnhd. Seelhund, wo der Ausdruck sēl um den Klassifikator hund erweitert wird. Ähnliches findet statt, wenn man Wal zu Walfisch erweitert. Auch sagt man anstelle von oktroyieren “aufzwingen” häufiger aufoktroyieren, was einen morpho-semantischen Anklang schafft und auch die Valenz besser motiviert.

Verlust von Struktur

Das genaue Gegenstück zu den obigen Beispielen von Reanalyse und Volksetymologie bilden Beispiele, in denen die transparente morphologische Struktur eines Stamms opak wird. Es folgen einige Beispiele:

Lexikalisierung
OriginalLexikalisierung
SpracheAusdruckBedeutungSpracheAusdruckBedeutung
ae.hlāf-weardBrothüterne.lordGraf
ae.hūs-wīfHausfraune.hussySchlampe
lat.un-decim, duo-decimelf, zwölffrz.onze, douzeid.
mhd.kinforeKienföhre, i.e. Span-Föhrenhd.Kieferid.
mhd.bire-nBirne-PLfnhd.birnBirne (Pluralsuffix inkorporiert)
mittelengl.cupboardTassenbordne./ˈkʌbəd/Schrank
ahd.hiu taguan diesem Tagenhd.heute
ahd.hiu jāruin diesem Jahrnhd.heuerid.

Wie bereits die letzten beiden Beispiele zeigen, erfaßt Lexikalisierung auch syntaktisch komplexe Einheiten, deren syntaktische Struktur dadurch verloren geht. Im Altkastilischen (z.B. Cid) bestand die Kollokation fijo(s)/fija(s) d(e) algo “Sohn/Tochter von Rang”, jeweils mit innerer Flexion für Genus und Numerus. Davon bleibt im modernen Kastilischen hidalgo, fem. hidalga “Adlige(r)”. Hier ist nicht nur die innere Struktur samt innerer Flexion verschwunden, sondern auf die entstandene, auf -o endende lexikalische Einheit wird nun auch noch, per Analogie, Motion angewandt.

Während in diesen Beispielen die morphologische Struktur i.w. durch Lautwandel und folglich durch phonologische Koaleszenz verloren geht, besteht alternativ die Möglichkeit, einen komplexen Ausdruck zu kürzen. Dies letztere ist ein Wortbildungsprozeß, illustriert durch folgende Beispiele:

Kürzung
VollversionKürzung
AutomobilAuto
OmnibusBus
Emmentaler KäseEmmentaler
ProfessorProf
airplaneplane

Die Kürzung (engl. clipping) unterscheidet sich von der Reduktion auf das Determinatum eines Kompositums (wie in Karte statt Eintrittskarte) darin, daß sie die morphologische Struktur im Prinzip ignoriert (in Auto ist sie nur scheinbar beachtet).

Während die Einführung von Struktur ein kreativer Akt ist (Lehmann 2017) und deshalb nur sporadisch vorkommt – es gibt keinen regelmäßigen Prozeß der Volksetymologie –, ist der Verlust von Struktur ein alltäglicher Entropievorgang, der ohne besonderes Zutun passiert.

Lexikalisierung

Durch die genannten Prozesse verlieren die Wörter die Motivation, die in der regelmäßigen Beziehung zwischen der Struktur des Ausdrucks und der Struktur des Inhalts bestand. Es kann, bei gleichbleibender Bedeutung, bloß die Ausdrucksstruktur kaputtgehen. Oder es kann sich auch, bei intakter Ausdrucksstruktur, die Bedeutung ändern, wie bei den Prozessen semantischen Wandels zu sehen war. Oder es kann natürlich beides gleichzeitig passieren. In jedem Falle sind die Produkte nicht mehr nach Regeln der Wortbildung erzeugbar und gehen ins Inventar über. Diesen Prozeß nennt man Lexikalisierung.

Was ganz genau unter Lexikalisierung zu verstehen ist, ist strittig. Man kann den Begriff auf die Übernahme eines Ausdrucks ins Inventar beschränken. Dann wäre es ein sozio- oder psycholinguistisch faßbarer Prozeß, der dann stattgefunden hat, wenn die Sprecher einen Ausdruck nicht nach Regeln bilden, sondern als Inventarstück behandeln, wenn sie also nicht mehr einen analytischen, sondern einen holistischen Zugriff darauf nehmen. Der Vorgang müßte dann zwar psychische oder soziale Korrelate, brauchte aber nicht notwendigerweise strukturelle oder semantische Korrelate zu haben. Z.B. wäre dann das Kompositum Tischtuch lexikalisiert, einfach weil es Bestandteil des deutschen Inventars ist, obwohl es strukturell regelmäßig und semantisch transparent (“kompositionell”) ist. Der strukturale Linguist hingegen kann Lexikalisierung wohl nur dann konstatieren, wenn entweder das Significans oder das Significatum eines Ausdrucks sich von dem unterscheiden, was nach Regeln des Systems zu erwarten wäre. Auch im Falle von Tischtuch wäre zu sehen, wie weit die semantische Regelmäßigkeit geht. Z.B. ist ein Tischtuch ein Tuch, mit dem ein Tisch gedeckt wird. Dies Paraphrasenschema ist auf Handtuch, Geschirrtuch, Taschentuch nicht anwendbar. Da man Tischtuch nicht verwenden kann mit der Bedeutung “Tuch, mit dem ein Tisch trockengewischt wird” (so wie Geschirrtuch), ist es wohl mindestens in Bezug auf diesen semantischen Aspekt auch für den strukturalen Linguisten feststellbar lexikalisiert.


Literatur

Lehmann, Konrad 2017, Das schöpferische Gehirn. Auf der Suche nach der Kreativität – eine Fahndung in sieben Tagen. Berlin & Heidelberg: Springer.