Begriff

Die applikative Derivation, oder einfach der Applikativ, eines Verbs ist eine Operation, die folgendes leistet:

Als Strukturmittel für die Derivation kommen die üblichen morphologischen Prozesse – sehr häufig Verbaffixe – infrage. Bestimmte Arten von Valenzkonversion leisten i.w. dasselbe und sind daher unter funktionalen Gesichtspunkten mit dem Applikativ zu vergleichen, fallen aber per definitionem (weil Konversion keine Art von Derivation ist) nicht darunter.

Phänomenologie

Applikativ im Deutschen

Im Deutschen wird der Applikativ durch gewisse Verbpräfixe, vor allem be-, aber auch ver-, er- und andere, bezeichnet. In illustriert jeweils die a-Version eine intransitive Basis, die b-Version das applikative Verb:

.a.Paul schimpfte mit seiner Frau.
b.Paul beschimpfte seine Frau.
.a.Paul herrschte über die Teutonen.
b.Paul beherrschte die Teutonen.
.a.Paul antwortet auf die Frage.
b.Paul beantwortet die Frage.
.a.Paul folgte dem Einbrecher.
b.Paul verfolgte den Einbrecher.

Der Applikativ markiert explizit die Transitivität des Verbs. Applikative Verben haben daher typischerweise ein hohes Maß an Effektivität, insbesondere im Vergleich zu ihren Basen. Im Zusammenhang damit unterscheiden sich applikative Verben von ihren Basen nicht nur in ihrer syntaktischen Kombinatorik,1 sondern auch in ihrer Bedeutung. Z.B. ist der zweite Partizipant in .b viel stärker affiziert als in a; und ähnlich ist es in . In besagt die b-Version, daß das Agens den Undergoer mit seinem Akt erledigt, während die a-Version nichts Derartiges impliziert.

Die applikative Derivation wird auch auf bereits transitive Basen angewandt, wie es die Serie zeigt:

.a.Paul schenkte dem Mann ein Buch.
b.Paul beschenkte den Mann mit einem Buch.
.a.Paul stahl dem Mann ein Buch.
b.Paul bestahl den Mann (?um ein Buch).
.a.Paul schmiert Farbe an die Wand.
b.Paul beschmiert die Wand mit Farbe.

Auch hier – besonders deutlich in – ist wieder der promovierte Partizipant in der applikativen Version stärker bzw. total affiziert. Neu ist bei diesen transitiven Basen gegenüber den intransitiven der zuvor gezeigten Beispiele, daß durch die Etablierung einer neuen direkten Objektstelle die bisherige hinfällig wird (weil ein Verb von jeder Art Komplementstelle nur ein Exemplar haben kann). Die letztere wird daher demoviert. Der betreffende Partizipant wird entweder als Adjunkt kodiert – so in und – oder kann überhaupt nicht mehr angeschlossen werden – so in .

Applikativ im Swahili

Der Applikativ ist in den Sprachen der Welt sehr verbreitet. Im Swahili leistet das Verbsuffix -i dieselben Dienste. Die Serie zeigt Applikativa auf intransitiver Basis.

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Swah
a.ni-li-pik-a-ni-li-m-pik-i-a
 SBJ.1.SG-PRÄT-koch-IND-SBJ.1.SG-PRÄT-OBJ.KL1-koch-APPL-IND
“ich kochte (es)”-“ich bekochte ihn”
b.ni-li-lil-a-ni-li-lil-i-aki-jiko
 SBJ.1.SG-PRÄT-wein-IND-SBJ.1.SG-PRÄT-wein-APPL-INDKL7-Löffel
“ich weinte”-“ich beweinte einen Löffel”
c.ni-li-j-a-ni-li-m-j-i-a
 SBJ.1.SG-PRÄT-komm-IND-SBJ.1.SG-PRÄT-OBJ.KL1-komm-APPL-IND
“ich kam”-“ich kam zu ihm”
d.ni-li-l-akw-aki-jiko-
 SBJ.1.SG-PRÄT-ess-INDKL17-ASSKL7-Löffel-
“ich aß (es) mit einem Löffel”-
 ni-li-l-i-aki-jiko
 SBJ.1.SG-PRÄT-ess-APPL-INDKL7-Löffel
 “ich aß mit einem Löffel”
e.ni-li-ib-a-ni-li-mw-ib-i-a
 SBJ.1.SG-PRÄT-stehl-IND-SBJ.1.SG-PRÄT-OBJ.KL1-stehl-APPL-IND
“ich stahl (es)”-“ich bestahl / stahl für ihn”

In .a - c und e wird eine direkte Objektstelle eingerichtet für einen Partizipanten, der an die Basis gar nicht angeschlossen wurde, während .d die Promotion eines Instruments zum direkten Objekt zeigt.

Wiederum ist die applikative Derivation auch von transitiven Basen möglich. zeigt eine typische benefaktive Situation, wo das Agens ein effiziertes Objekt für den Benefiziär produziert.

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Swah
a.ni-me-lim-ashambakw-aajiliy-aMusa
SBJ.1.SG-PERF-cultivate-INDplantationKL17-ASS(KL9)sakeKL9-ASS(KL1)Musa
“I have cultivated a plantation for (the sake of) Musa”
b.ni-me-m-lim-i-aMusashamba
SBJ.1.SG-PERF-OBJ.KL1-cultivate-APPL-IND(KL1)Musaplantation
“I have cultivated a plantation for Musa” (Comrie 1985:317)

Der Applikativ promoviert den Benefiziär in die Funktion des direkten Objekts, was im Swahili insbesondere an dem Objektkongruenzpräfix des Verbs zu sehen ist. Das vormalige direkte Objekt dagegen wird in die Position eines – schlecht definierten – “sekundären Objekts” demoviert. Es ist ein bzgl. seiner Kasusfunktion unmarkierter Dependent, der jedoch keine Verbkongruenz auslöst und nicht durch Passivierung Subjekt werden kann.

Applikativ im Indonesischen und Inuqtitut

Auch im Indonesischen gibt es ein Applikativsuffix, -kan, das ganz ähnlich wie im Swahili funktioniert:

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Ind
a.Sayaakanmem-belibukuuntukorangitu.
 ichFUTAKT-kaufBuchfürPersonDEF
 “Ich werde ein Buch für den Mann kaufen.”
b.Sayaakanmem-beli-kanorangitubuku.
 ichFUTAKT-kauf-APPLPersonDEFBuch
 “Ich werde dem Mann ein Buch kaufen.”

Auch in wird durch den Applikativ ein zuvor durch Präposition angeschlossener Benefiziär direktes Objekt, während das vormalige direkte Objekt zum sekundären Objekt demoviert wird.

Das Verb ‘geben’ nimmt in dieser Sprache (wie im Deutschen) den Trajektor (das transferierte Objekt) als direktes Objekt, den Rezipienten als präpositionales Komplement (oder als Adjunkt), wie in zu sehen.

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Ind
a.Alimem-beribukuitukepadaSiti
AliAKT-gibBuchDEFzuSiti
 “Ali gibt das Buch Siti”
b.Alimem-beri-kanSitibuku
 AliAKT-gib-APPLSitiBuch
 “Ali gibt Siti ein Buch” (Cartier 1990, ap. Lazard 1994:183)

Hier ist der Applikativ nötig, um den Rezipienten in eine zentralere Position zu bringen.

aus dem Inuqtitut (Eskimo) zeigt die Konverse der deutsch-indonesischen Verhältnisse. Hier nimmt das Basisverb den Rezipienten als direktes Objekt (bzw. Absolutiv), und es bedarf einer applikativen Derivation, um den Trajektor in diese Funktion zu bringen.

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Inuq
a.piniaqtu-piqni-nipitaatta-mituni-va-a-∅
Jäger-ERGSohn-POSS.3.ABSMesser-INSTRgeb-REAL-ERG.3-ABS.3
 “der Jäger bedachte seinen Sohn mit einem Messer”
b.piniaqtu-piqni-miipitaata-qtuni-ip-pa-a-∅
 Jäger-ERGSohn-POSS.3.ALLMesser-ABSgeb-APPL-REAL-ERG.3-ABS.3
 “der Jäger gab seinem Sohn ein Messer ” (Mennecier 1991, ap. Lazard 1994:160f)

Hier wie sonst ist das Passiv der Test auf direkten Objektstatus, wie f noch einmal am Indonesischen illustriert. .b zeigt das Passiv zum Basisverb von .a.

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Ind
a.lakilakiitumem-bawasuratitukepadaAli
 MannD3AKT-bringBriefD3zuAli
 “der Mann brachte den Brief zu Ali”
b.suratitudi-bawakepadaAli(olehlakilakiitu)
 BriefD3PASS-bringzuAlivonMannD3
 “der Brief wurde (von dem Mann) zu Ali gebracht”
a.lakilakiitumem-bawa-kanAlisuratitu
 MannD3AKT-bring-APPLAliBriefD3
 “der Mann brachte Ali den Brief”
b.Alidi-bawa-kansuratitu(olehlakilakiitu)
 AliPASS-bring-APPLBriefD3vonMannD3
 “Ali wurde der Brief (von dem Mann) gebracht”
.
Ind

.b dagegen zeigt das Passiv zum applikativen Verb von .a. Die passivischen Versionen sind nur auf diese Weise den aktivischen zuzuordnen. Das beweist auch, daß in .a surat itu nicht direktes Objekt ist.

Funktion des Applikativs

Die unmittelbare Funktion des Applikativs ist es, einen Partizipanten in direkte Objektsfunktion zu bringen. Der Zweck dieser Operation hat mit den Funktionen des direkten Objekts zu tun:

Folglich wird der Applikativ angewandt, entweder um die totale Betroffenheit eines Partizipanten auszudrücken oder um ihn “thematischer” zu machen, also in einen Kontext einzubauen, der von ihm handelt (wo er also, funktional gesehen, definit ist).

Die allgemeinste Funktion des Applikativs besteht darin, einen Verbstamm transitiv zu machen. Diese Funktion teilt der Applikativ mit dem Kausativ. Die beiden Transitivierungsprozesse unterscheiden sich darin, daß der Applikativ eine Leerstelle für einen Undergoer, der Kausativ dagegen eine Leerstelle für einen Actor hinzufügt. Allerdings kann dieser Unterschied aufgehoben werden. So gibt es im Yukatekischen ein Transitivierungssuffix -t, das meist applikative, gelegentlich aber auch kausative Funktion hat. Z.B. lautet zu dem intransitiven Stamm áalkab “laufen” die Transitivierung áalkab-t. Als Applikativ bedeutet sie “in bezug auf jemanden laufen, d.h. hinter jemandem herlaufen”. Als Kausativ bedeutet sie “jemanden laufen machen”. Das Beispiel kann gleichzeitig als Locus des Übergangs zwischen den beiden Funktionen dienen, denn die beiden Bedeutungen laufen fast auf dasselbe hinaus.


1 In deutschen applikativen Verben ist – im Gegensatz zu den meisten basistransitiven Verben – das direkte Objekt i.a. obligatorisch. Das ist innerhalb des Systems verständlich, denn die applikative Derivation hat man ja gerade zu dem Zweck gemacht, ein direktes Objekt anschließen zu können.

Literatur

Shibatani, Masayoshi 1996, "Applicatives and benefactives: A cognitive account." Shibatani, Masayoshi & Thompson, Sandra A. (eds.), Grammatical constructions. Their form and meaning. Oxford: Clarendon Press; 157-194.