Ein wichtiger Einfluß der Gesellschaft auf die Sprache ist deren Standardisierung und Normierung. An dieser sind manchmal Linguisten beteiligt. Aber Sprachnormierung hat auch in früheren Zeitaltern (z.B. im alten Rom) und in Gesellschaften ohne etablierte Linguistik (z.B. im Finnland des 19. Jh.) stattgefunden. Innerhalb der Linguistik ist die Stellung normativer Linguistik wie folgt zu bestimmen:

Eine deskriptive (beschreibende) Disziplin geht empirisch vor. Sie beobachtet Phänomene ihres Gegenstandsbereichs, beschreibt sie und versucht, die sie strukturierenden Prinzipien aufzudecken und darüber eine Theorie zu machen. Gesetze oder Regeln sind nicht vorgegeben, sondern werden durch Verallgemeinerung über den Beobachtungen festgestellt.

Eine normative (Normen setzende) oder präskriptive (vorschreibende) Disziplin geht von Gesetzen oder Regeln aus, die vorgegeben sind und in der Disziplin tradiert und gepflegt werden. Aufgabe der Disziplin ist es, Aspekte des Verhaltens von Menschen auf Basis der Gesetze zu normieren und Abweichungen davon zu korrigieren.

Disziplinen, die auf moralischen oder ästhetischen Werten basieren, gehen oft normativ vor, denn sie setzen sich zum Ziel, diese Werte zu erhalten. Auch Grammatik begann im Altertum als normative Disziplin. Wo immer Sprachen standardisiert worden sind, gibt es eine normative Grammatik, deren Aufgabe es ist, auf die Pflege des Standards zu achten. Im Abendland ist das seit etwa 2.200 Jahren die Schulgrammatik.

Insoweit Linguistik eine empirische Wissenschaft ist, geht sie deskriptiv, nicht normativ vor. Es gilt, tatsächlich vorkommende (mündliche oder schriftliche) Äußerungen aufzunehmen, zu analysieren und die ihnen zugrundeliegenden sprachlichen Prinzipien, insbesondere die grammatischen Kategorien und Regeln aufzudecken. Diese sind also nicht vorher bekannt, sondern werden festgestellt.

Eine normative Grammatik zu begründen ist in keiner Hinsicht eine triviale Aufgabe. Viele staatlich bestellte oder selbsternannte Normierer (das Internet ist z.B. voll von Sprachberatern, -pflegern und -verbesserern) geben keine Rechenschaft über die Basis der Norm ab, die sie vertreten. Ob es eine rationale Basis für Sprachnormen geben kann, wird hier nicht erörtert. Sicher aber ist, daß eine Aktivität, welche eine bestehende Variation normiert, ohne sie vorher analysiert zu haben, von keinem Interesse ist. Ein Beispiel solcher unbegründeter normativer Aussagen ist die Normierung von dieses Jahres statt diesen Jahres. Eine Normierung wird desto eher den Bedürfnissen der Sprachgemeinschaft gerecht werden und in ihr auf Akzeptanz stoßen, je mehr sie auf empirischer Deskription basiert.

Durch die Normierung entsteht ein Unterschied zwischen Hochsprache und Umgangssprache. Da die Normierung dafür sorgt, daß die Hochsprache konstant bleibt, die (Umgangs-)Sprache sich aber dennoch weiterentwickelt, entsteht auf die Dauer eine Schere zwischen der Hochsprache, welche i.a. auch Schriftsprache ist, und der gesprochenen Sprache. (Die Koexistenz zweier solcher Varietäten in einer Sprache nennt sich Diglossie.) Dieses Spannungsverhältnis bestimmt die Geschichte und die sozialen Verhältnisse vieler Sprachen.