Analogischer Wandel in der Morphologie

Analoger1 paradigmatischer Ausgleich

Vom Mittel- zum Neuhochdeutschen fand folgender Lautwandel statt:

[+ vok]
[- kons]
[+ lang]/__ •
(außer /ə/)

Somit wurden z.B. [ˈfogəl] zu [ˈfo:gəl] (Vogel) und [ˈjugənt] zu [ˈju:gənt] (Jugend), aber z.B. [ˈhɛrtsə] (Herze) blieb unverändert. Das Resultat war, von der sogleich zu besprechenden Ausnahme abgesehen, jeweils die Vokallänge, die auch im Neuhochdeutschen noch gilt. Der Prozeß der Vokaldehnung in offener Silbe ist übrigens im Neuhochdeutschen immer noch wirksam.

Die Formen eines Deklinationsparadigmas unterscheiden sich dadurch, daß einige vokalisch anlautende Endungen haben, andere nicht. Daher waren die Formen eines Deklinationsparadigmas von der Vokaldehnung in offener Silbe in unterschiedlicher Weise betroffen. Hier als Beispiel ein relevanter Teil der Deklination von tag und weg in weiter phonetischer Umschrift:

mhd.fnhd.
taktak
tagəsta:gəs
tagəta:gə
vɛkvɛk
vɛgəsve:gəs
vɛgəve:gə

Solche Deklinationsparadigmen wurden durch den Lautwandel also heterogen. Genauer gesagt: auf einfachen Konsonanten endende substantivische Stämme hatten danach ein kurzvokaliges und ein langvokaliges Allomorph; es herrschte insoweit Stammallomorphie.

Dieser Zustand wurde nicht so belassen; vielmehr wurde die heute noch gültige Form dieser Paradigmen hergestellt, die in der letzten Spalte zu sehen ist:

Sprachstufemhd.fnhd.fnhd. > nhd.
Prozeß
Vokaldehnunganalogischer
Ausgleich
“Tag”taktakta:k
tagesta:gesta:ges
tageta:geta:ge
“Weg”vɛkvɛkve:k
vɛgesve:gesve:ges
vɛgeve:geve:ge

Die Einsetzung eines Langvokals in den endungslosen Formen ist nicht durch Lautwandel zu erklären (es gab und gibt keinen Lautwandel, der einen Vokal in solchen Kontexten dehnt). Vielmehr liegt hier morphologischer Wandel vor: Im gesamten Paradigma wird das langvokalige Allomorph des Stamms durchgeführt. Das Paradigma wird also nach dem Vorbild der vokalisch anlautenden Endungen ausgeglichen.

Eine Analogie ist die Konstruktion einer Proportion nach folgendem Schema:

a1 : a2 = b1 : bx;  x = 2

Es wird also ein bestehendes Verhältnis zum Vorbild für die Gestaltung eines weiteren Verhältnisses genommen. Im vorliegenden Fall also z.B.:

/tajges/ : /tajk/ = /ta:ges/ : x;  x = /ta:k/

In der Morphologie ist die Analogie nur innerhalb von Paradigmen wirksam, wo die von ihr vorausgesetzte Proportion herrscht. Morphologische Formen, die nicht in solchen Proportionen stehen, sind isoliert und können folglich auch nicht paradigmatisch ausgeglichen werden. So gab es seit alters von dem Substantiv weg auch das Adverb weg (beide [vɛk]). Der Nominativ Singular des Substantivs wurde von der Analogie erfaßt, das Adverb nicht. Es lautet daher bis auf den heutigen Tag [vɛk]. (Solche Fossilien spielen übrigens eine wichtige methodische Rolle in der inneren Rekonstruktion.)

Ein weiteres Beispiel bieten die Folgeerscheinungen zum lateinischen Rhotazismus. Vor dem Lautwandel flektierten s-haltige Substantive so wie in der linken Spalte der folgenden Tabelle. Der Rhotazismus führte zu den altlateinischen Paradigmen in der zweiten Spalte.

Analogischer Ausgleich nach Rhotazismus
SprachstufeArch. LateinAltlateinKlass. Latein
Prozeß
Kategorie  ╲
Rhotazismusanalogischer
Ausgleich
Nom.Sg.flosflosflos
Gen.Sg.flosisflorisfloris
Abl.Sg.flosefloreflore
Nom.Sg.laboslaboslabor
Gen.Sg.labosislaborislaboris
Abl.Sg.laboselaborelabore

Auch hier entsteht infolge des Lautwandels Stammalternation. Auch sie wird im Klassischen Latein ausgeglichen (s. letzte Spalte), allerdings nicht in allen Paradigmen, sondern nur in den mehrsilbigen Nicht-Neutra, also unter einer gemischt phonologisch-morphologischen Bedingung.

Dieser analogische Ausgleich wurde dadurch unterstützt, daß es bereits andere Substantive wie soror, rumor gab, deren Stamm und Nominativ Singular seit alters auf /r/ endete. Daher kann dieser paradigmatische Ausgleich sowohl andere Formen eines einzigen Deklinationsparadigmas als auch Deklinationsparadigmen anderer Substantive zum Vorbild haben. Im ersteren Falle wäre die Motivation des Ausgleichs die, daß es pro Morphem bzw. pro Stamm nur ein Allomorph geben sollte.

Analogische Umbildung

Ein bestimmter Fall des analogischen Ausgleichs ist der Übergang eines Wortes von einer Flexionsklasse in eine andere. Dabei wird ein Wort, das bisher nach einer Flexionsklasse flektierte, nach dem Vorbild phonologisch oder semantisch ähnlicher Wörter nach einer anderen Flexionsklasse flektiert. Durch diesen Mechanismus sind in der Sprachgeschichte viele Verben von der starken in die schwache Konjugation übergegangen. Die folgenden Tabellen zeigen links ein paar deutsche, rechts ein paar englische Beispiele:

Übergang in die schwache Konjugation
Phase
OriginalErsatz
TempusVorbildZiel
Präs.webelebewebe
Prät.woblebtewebte
Präs.backehackebacke
Prät.bukhacktebackte
Passage into strong conjugation
  phase
originalsubstitute
tense ╲modeltarget
pres.wearbearwear
pastwearedborewore
pres.tearbeartear
pasttearedboretore

Wenn dieser Prozeß regelhaft wäre, würde die Klasse der starken Verben zu existieren aufhören. Aber die Analogie muß erstens nicht alle einschlägigen Fälle erfassen; es bleiben auch starke Verben unangetastet. Zweitens ist Analogie auch nicht intrinsisch gerichtet. D.h. im Prinzip kann A ebensogut nach dem Vorbild von B umgestaltet werden, wie B nach dem Vorbild von A umgestaltet wird. Das passiert auch wirklich mit den Konjugationsklassen. Die folgenden Tabellen zeigen links ein paar deutsche, rechts ein paar englische Beispiele von Verben, die ehemals schwach flektierten oder wenigstens hätten flektieren müssen, heute jedoch (jedenfalls gelegentlich) stark flektieren.

Übergang in die starke Konjugation
Phase
OriginalErsatz
TempusVorbildZiel
Präs.preiseweisepreise
Prät.preistewiespries
Präs.gleicheweichegleiche
Prät.gleichtewichglich
Präs.ladetragelade
Prät.ladetetruglud
Präs.fragetragefrage
Prät.fragtetrugfrug
Passage into strong conjugation
  phase
originalsubstitute
tense ╲modeltarget
pres.wearbearwear
pastwearedborewore
pres.tearbeartear
pasttearedboretore

Die deutschen Verben sind abgeleitet (von Preis, gleich, Lade und Frage). Abgeleitete Verben flektieren i.a. schwach; vgl. z.B. sinke – sank, aber senke – senkte. Die starke Flexion dieser Verben erklärt sich durch analogische Umgestaltung nach dem Vorbild wichtiger starker Verben.

Es ist also nicht der Fall, daß die starke Konjugation zum Aussterben verurteilt ist. Gerade das Beispiel frage – frug zeigt, daß das Vorbild der starken Verben sehr lebendig ist.

Wir sahen oben, daß Analogie auf einer Proportion

a1 : a2 = b1 : bx;  x = 2

basiert. Die Basis der Analogie ist also eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen a1 und b1. Da a2 eine regelmäßige Ableitungsbeziehung zu a1 aufweist, muß auch bx zu a2 dieselbe Ähnlichkeit haben wie b1 zu a1, bzw. muß bx zu b1 dieselbe Ableitungsbeziehung haben wie a2 zu a1.

Im geläufigsten Fall repräsentiert a1/a2 eine ganze Klasse nach derselben Regel funktionierender Paare; im Extremfall kann es aber auch ein einziges Paar sein. Die Rolle des analogischen Vorbildes ist durchaus nicht immer durch zahlenmäßige Überlegenheit determiniert.

An der Stelle von bx stand zuvor ein by, das nicht ins Schema paßte. Es wird bei der Analogie nicht berücksichtigt, kann aber eine Weile neben b2 fortbestehen. Es ist daher falsch zu sagen, daß by zu b2, also etwa wob zu webte umgestaltet wird. Vielmehr spielt die Existenz der Form wob bei der Bildung von webte nicht die geringste Rolle. Wenn sie dem Sprecher gegenwärtig wäre, würde er webte gar nicht bilden, sondern eben wob verwenden.

Solche Proportionen liegen immer zugrunde, wenn die Zusammensetzung morphologisch komplexer Formen betroffen ist. Wenn Wurzeln oder Stämme aneinander angeglichen werden, liegt keine formale Proportion vor, sondern lediglich eine Similaritätsbeziehung (z.B. [vɛk] > [ve:k] wegen [ve:g-es]) . Diese kann auch eine serielle Beziehung überlagern. Z.B. mußte das lateinische Wort für “fünf” nach regelmäßigem Lautwandel *pinque lauten.2 Es heißt aber quinque, offenbar in Anlehnung an quattuor “vier”. Das Entsprechende passiert im russischen Wort für “neun”, das entstehungsgemäß *nevjat' lauten mußte, aber devjat' lautet in Anlehnung an desjat' “zehn”. Und noch einmal in dem germanischen Wort für “vier”, das entstehungsgemäß (vgl. lat. quattuor) mit /hw/ anlauten mußte, jedoch in Anlehnung an *penkwe “fünf” zu *petwor umgestaltet wurde, was engl. four und dt. vier ergibt.

Analoge Wiederherstellung

Der Rhotazismus findet nicht nach Morphemgrenze statt. Zwar wird archaisch-lateinisch dis-imo (“nehme auseinander”) zu dir-imo; aber arch.-lat. de-sino (“lasse ab”) bleibt de-sino.

Theoretisch ist es möglich, daß der Rhotazismus auch hier zunächst zu derino führte und daß erst der Vergleich mit der Basis sino (“lasse”) zur analogen Wiederherstellung der ursprünglichen Form führte. Wahrscheinlicher aber ist die analogische Erhaltung: die jederzeit gegenwärtige Beziehung zur Basis sowie die Tatsache, daß man im Lateinischen wie in vielen anderen Sprachen zwar im Auslaut von Morphen (wie in dis ~ dir), nicht aber im Anlaut von Stämmen (wie sino) Alternationen hat, wirken dahin, daß derino nie entsteht.

Das heißt: Analogie kann nicht nur "ikonische" morphologische Verhältnisse nach Lautwandel wiederherstellen, sondern den Lautwandel auch verhindern, wenn er die Morphologie undurchsichtig machen würde.

Auf dem Wege vom Indogermanischen zum Altgriechischen tilgte ein Lautwandel intervokalisches /s/ (vermutlich via /h/). Z.B. lautet zwar von limén “Hafen” der Genitiv limén-os; aber von génos “Art” lautet er (*génes-os >) géne-os. Davon war in der Konjugation vor allem das Futur betroffen, das gerade mit einem s-Suffix gebildet wurde. Wo an konsonantisch auslautenden Stamm das Allomorph /s/ trat, z.B. trép-o “wende” – trép-s-o “werde wenden”, geschah nichts. Wo jedoch das Allomorph /es/ lautete, wie in mén-o “bleibe” – *men-és-o > men-é-o “werde bleiben”, schwand das /s/. Das Futur war in solchen Fällen nicht mehr durch /s/, sondern durch das zusätzliche /e/ bezeichnet.

Lautete der Verbstamm auf Vokal aus, so trat direkt das Allomorph /s/ an und hätte durch den Lautwandel schwinden müssen. Also z.B.: lú-o “löse” – lú-s-o > lú-o “werde lösen”, poié-o “mache” – poié-s-o > poié-o “werde machen”. Dadurch hätte das Futur mit dem Präsens gleichgelautet. Daher fand hier der Lautwandel nicht statt; das Futur dieser Verben lautet auf /s/. (Übrigens ist auch hier der konservierende Kontext unmittelbar nach Morphemgrenze.)

Wesen der Analogie

Analogie stellt immer eine Regelmäßigkeit, mindestens eine Subregularität, in der Beziehung 'significatum : significans' her. Sie eliminiert funktionslose Alternationen (wie lat. honos – honoris) und führt andererseits Alternationen zuungunsten unverstandener anderer Beziehungen durch. Sie ist dort am erfolgreichsten, wo das Gedächtnis versagt, also bei den seltensten Formen.

Hat die verdrängte Form eine kompositionelle und eine idiomatische Bedeutung, so übernimmt die innovierte (geneuerte) Form stets die kompositionelle Bedeutung, während die verdrängte Form idiomatisch spezialisiert wird. Das zeigen die folgenden Beispiele:

Kompositionalität analogischer Bildungen
Spracheoriginales Paradigmaanalogisch erneuertes Paradigmafossile FormBedeutung
engl.brotherbrethrenbrotherbrothersbrethrengeistliche Brüder
fnhd.wĕgwēgeswēgwēgeswĕgfort
frz.deuxseconddeuxdeuxièmesecondsekundär
port.melhorótimomelhoro melhorótimosehr gut

Die ersetzte fossile Form wird nicht mehr als Glied des semantisch-formalen Paradigmas empfunden.

Analogie ist einer der ganz wenigen grammatischen Prozesse, die der naive Sprecher explizit machen kann. Wenn er sich dabei auf ein bestimmtes Beispiel als Modell beruft, besagt das allerdings nicht, daß seine Sprachtätigkeit auch darauf beruht; sie kann auf einem Schema beruhen.

Analogie ist ein teils psychologischer, teils linguistischer Begriff. Als linguistischer Begriff setzt er Proportionen auf der paradigmatischen Achse voraus. Als psychologischer Begriff bezeichnet er die Aktivierung solcher Proportionen in Form von Assoziationen, die zur Schaffung neuer Einheiten führt.

Analogischer Wandel in der Syntax

Genitivkomplement im Deutschen

Deutsch verfügt über verschiedene Verbvalenzmuster, von denen allerdings einige dominant, andere rezessiv sind. Verben, die außer dem Subjekt nur ein Genitivobjekt (Genitivkomplement) nehmen, wie entraten (“verzichten”), sind auf dem Rückzug. Dieses Verb z.B. wird spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. überhaupt nicht mehr verwendet. Andere ändern ihr Valenzmuster:

Ersatz des Genitivkomplements
OriginalErsatz
des Bäumchens pflegendas Bäumchen pflegen
eines Flecks gewahreneinen Fleck gewahren
sich des Tags erinnernsich an den Tag erinnern / den Tag erinnern

Statt im Genitiv wird das Komplement als direktes Objekt oder als präpositionales Objekt angeschlossen. Dies geschieht in Analogie zur Mehrheit der bivalenten Verben. Gleichzeitig wird dadurch der Genitiv auf adnominale Verwendung eingeschränkt und sein Gebrauch insoweit regularisiert.

Wortstellungswandel

Hilfsverb – Vollverb im Englischen

Im Altenglischen konnte das Hilfsverb dem Hauptverb folgen oder von ihm gesperrt sein:

oð hīe ... ʒeʒān hæfdon “till they had gone”

we habban nū æʒÞer forlæten, ʒē ðone welan ʒē ðone wisdom “we now have left both, goodness and wisdom.”

Im elementaren Falle, also im selbständigen Aussagesatz ohne oblique Komplemente des Verbs, standen Aux und Vinf stets in dieser Reihenfolge nebeneinander. Dieser Fall wurde in Haupt- und Nebensätzen verallgemeinert:

altengl. (Aux) X Vinf (Aux)  →  Aux Vinf X

Gleichzeitig wird [Aux Vinf] zu einer komplexen, aus zwei Wörtern bestehenden, aber kontinuierlichen Verbform – kurz: zu einer periphrastischen Verbform –, die zu ihren Dependenten dieselben Stellungen einnimmt wie eine einfache finite Verbform.

Verbzweitstellung im Deutschen

In den südmitteldeutschen Dialekten, aus denen das Jiddische stammt, herrscht wie im Hochdeutschen im Nebensatz Verbendstellung. Im jiddischen Nebensatz wird in Analogie zu den Hauptsätzen Verbzweitstellung eingeführt (wobei die Konjunktion nicht als Konstituente zählt):

dt. [[X]V ...]S – jidd. [SVX]S

dt. weil ich nicht zu ihm gekommen bin : jidd. wal ix bin nit gekommen zin im

dt. der Freund, der ihm damals geschrieben hat : jidd. der chawer, wos er hot im demelt gešriben.

Dasselbe geschieht übrigens auch in hochdeutscher Umgangssprache nach einigen Konjunktionen wie weil und obwohl.

Subjektstellung im Altenglischen

Im Altenglischen herrschte im selbständigen Aussagesatz Verbzweitstellung (wie im Deutschen):

Aefter Þam bæd Aelfsige “after that Alfsig bade”

Þonne gebygcge he “then he may / is to buy” (Earl Ælfred's will)

Þa spæc ic “there I spoke”

Þa wæs dæt swa “there that was so.”

Im elementaren Falle war die dem Hauptverb vorangehende Konstituente das Subjekt. Dieser Fall wurde verallgemeinert, so daß die Folge SV unabhängig davon, ob am Satzanfang noch etwas anderes steht, durchgeführt wurde:

altengl. ##[X]V  →  ##(X)SV

Übungsaufgabe: Grammatischer Wandel I

Übungsaufgabe: Grammatischer Wandel II


1 Analog und analogisch ist ziemlich dasselbe.

2 Vgl. agr. pente “fünf” (wie in Pentagon und Pentagramm).