Historische Verwandtschaft zwischen Sprachen beruht, wie oben gesehen, auf historischer Kontiguität, und die kann entweder konvergent oder divergent sein. Im ersteren Falle spricht man von Lehnverwandtschaft, im zweiten von genetischer (oder genealogischer) Verwandtschaft. Z.B. beruhen weitgehende Ähnlichkeiten zwischen Spanisch und yukatekischem Maya auf Lehnverwandtschaft, denn die beiden Sprachen waren getrennt entstanden und kamen erstmals durch die spanische Conquista Lateinamerikas in Kontakt. Die weitgehenden Ähnlichkeiten zwischen Spanisch und Rumänisch dagegen beruhen auf genetischer Verwandtschaft, denn beide sind aus dem Vulgärlatein hervorgegangen.

Stammbaumtheorie

Die Beziehungen zwischen genetisch verwandten Sprachen werden oft in Form eines Stammbaums dargestellt. Er hat folgende logische Form:

Ebenen genetischer Verwandtschaft

Ebenen genetischer Verwandtschaft

Dieses Modell der Ebenen genetischer Verwandtschaft enthält als Beispiel einen Auszug aus dem am besten etablierten Stammbaum, dem der indogermanischen Sprachen. Das graphische Schema als solches symbolisiert nur Grade der Ähnlichkeit zwischen Sprachen in folgendem Sinne: Gegeben drei Sprachen L1, L2 und L3 in einem Stammbaum. Wenn L1 durch weniger Knoten von L2 als von L3 getrennt ist, so ist L1 L2 ähnlicher als L3. Im gegebenen Beispiel ist Oberdeutsch von Niederdeutsch durch einen Knoten, von Englisch jedoch durch zwei Knoten getrennt. (Mit dieser Interpretation ist der Stammbaum auch schon zur Darstellung typologischer Ähnlichkeit verwendet worden.)

In der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft jedoch symbolisiert der Stammbaum genetische Verwandtschaft, d.h. Abstammungsverhältnisse (so 1853 von August Schleicher eingeführt). Ähnlich wie bei der typologischen Verwandtschaft können im genetischen Stammbaum die Knoten mit Sprachfamilien besetzt sein (so wie im obigen Schema). Eine solche Familie ist dann, logisch betrachtet, der gemeinsame Nenner der Ähnlichkeiten zwischen den von dem Knoten verzweigenden Sprachen. Anders als bei der typologischen Verwandtschaft können im genetischen Stammbaum die Knoten allerdings auch mit Sprachen besetzt sein. Das bedeutet dann, daß die dem Knoten untergeordneten Sprachen Tochtersprachen der den Knoten besetzenden Sprache, also aus dieser hervorgegangen sind.1 Ein bekannter Fall ist das Verhältnis der romanischen Sprachen zum Vulgärlateinischen, aber auch des Afrikaans zum Niederländischen. Logisch genauso liegt der Fall, wenn die Ursprache rekonstruiert ist, wie etwa das Urgermanische als Mutter der germanischen Sprachen. Methodisch betrachtet ist hier freilich die Ursprache eine Hypostase der Sprachfamilie.

Das Vorbild dieser genetischen Verwandtschaft ist ganz offensichtlich die Evolution der Arten im biologischen Sinne. Hier ist es so, daß wenn eine Art sich erst einmal in zwei weitere aufgespalten hat, diese nie mehr fusionieren können. Es ist also ein Modell, das Sprachverwandtschaft als stufenweise Spaltung konzipiert. Der Fall ist am klarsten verwirklicht, wenn eine Sprachgemeinschaft sich teilt, die Teile nach verschiedenen Seiten abwandern, sich in einiger Entfernung voneinander niederlassen, nie mehr miteinander zu tun bekommen und fortan ihre Sprache getrennt weiterentwickeln. Der Fall dürfte in der Menschheitsgeschichte gelegentlich vorgekommen sein. Er liegt z.B. vor, wenn Nomaden in alle Himmelsrichtungen ziehen, dann aber am Ziel seßhaft werden, wie es mindestens teilweise die Indogermanen gemacht haben. Häufig aber halten die verschiedenen Gruppen doch kommunikativen Kontakt miteinander, so wie es z.B. in der Romania nach Auflösung des Lateinischen und in der Slavia nach Auflösung des Urslavischen gewesen ist. Solange ein Volk nomadisch ist, hat es ständig wechselnden Kontakt mit anderen Völkern und, was die Sache besonders kompliziert, gelegentlich nach langer Zeit noch einmal Kontakt mit demselben Volk. Unter solchen Umständen können die Sprachen nachträglich einander ähnlicher werden. Dies kann das Stammbaummodell nicht beschreiben.

Wellentheorie

Dem Stammbaummodell wird (1856 von Johannes Schmidt) die Wellentheorie gegenübergestellt. Es wird ein Areal vorausgesetzt, das sprachlich homogen oder schlimmstenfalls von wechselseitig verständlichen Varietäten – im einfachsten Falle Dialekten – besetzt ist.2 An einer Stelle wird eine sprachliche Neuerung (gleich welcher Art) eingeführt. Sie breitet sich nach allen Richtungen aus und erreicht irgendwo den Rand ihres Wirkungsgebiets, ähnlich wie ein ins Wasser geworfener Stein Wellen in konzentrischen Kreisen erzeugt, die in der Entfernung verebben.

Durch jeden solchen Vorgang entsteht eine kreisförmige Linie in der Sprachlandschaft dergestalt, daß ein bestimmtes sprachliches Merkmal auf ihrer einen Seite auf eine Weise, auf ihrer anderen Seite auf andere Weise ausgeprägt ist. Eine solche Linie ist eine Isoglosse. Als relevante sprachliche Merkmale kommen Erscheinungen auf allen sprachlichen Ebenen in Betracht. Es gibt z.B. eine quer durch den deutschen Sprachraum verlaufende Isoglosse, nördlich deren man Mostrich, südlich jedoch Senf sagt. Eine andere, weit bekanntere Isoglosse ist die Benrather Linie, nördlich deren man maken, südlich jedoch machen sagt. Diese Isoglosse wird oft stellvertretend für die Ausdehnung der hochdeutschen Lautverschiebung und also die Unterscheidung zwischen Niederdeutsch und Mittel-/Oberdeutsch genommen. Aber der Unterschied zwischen /k/ und /x/ ist ein sprachliches Merkmal, und der zwischen /p/ und /f/ oder zwischen /t/ und /s/ ist ein anderes. Für jedes gibt es eine Isoglosse. Manche Isoglossen verlaufen in konzentrischen Kreisen, manche koinzidieren bzw. bündeln sich. In solchen Fällen prägen sich Unterschiede zwischen sprachlichen Varietäten aus. Neuerungen können jedoch auch an verschiedenen Orten im Sprachgebiet aufkommen und sich über verschiedene Teile davon verbreiten. Im Ergebnis kann ein Dialekt (und in der Folge dann vielleicht eine Sprache) eine Neuerung mit einem zweiten, eine andere Neuerung jedoch mit einem dritten Dialekt teilen. Das folgende Schema stellt dies stark vereinfacht dar.

Gliederung der Romania nach der Wellentheorie

Das Schema kann als eine Darstellung der inneren Gliederung der romanischen Sprachen gelten. Es zeigt, daß es drei Herde für Neuerungen gab, nämlich im Westen, im Zentrum und im Osten. Dies führt zu zwei einander überlappenden Einteilungen:

Es resultieren vier Untergruppen (in Klammern annähernde geographische Entsprechungen):

  1. West-Rand-Romanisch (Iberoromanisch)
  2. West-Zentral-Romanisch (Galloromanisch)
  3. Ost-Zentral-Romanisch (Italoromanisch)
  4. Ost-Rand-Romanisch (Balkanromanisch)

Die Pointe ist, daß Randromanisch Gemeinsamkeiten aufweist, die nicht durch gemeinsame Neuerungen entstanden sind (was angesichts geographischer Isolierung auch schwerlich möglich wäre). Vielmehr rühren sie daher, daß die Randgebiete die Neuerungen des Zentralromanischen nicht mitgemacht, also gemeinsame Archaismen bewahrt haben.

Übungsaufgabe: Objektkongruenz im Baskischen


1 Das ist stark vereinfacht, denn Dialekte gehen oft nicht diachron als Töchter aus einer Sprache hervor, sondern sind synchrone Varietäten einer Sprache (die gar keine andere Existenz führt als eben die Menge dieser Varietäten zu sein).

2 Wellen des Sprachwandels können also über Dialektgrenzen hinweggehen, verebben aber spätestens an den Grenzen einer Sprachgemeinschaft.