Lexikalischer Wandel ist die Veränderung des lexikalischen Bestandes durch Neuaufnahme, Verlust oder Umstrukturierung von Lexemen. Dabei wird das Lexem als Einheit aus Ausdruck und Inhalt betrachtet. Ändert sich nur der Inhalt, ist es semantischer Wandel.

Neuaufnahme

Die Einführung von neuen Wörtern ins Lexikon heißt Neologie; ein in diesem Sinne neues Wort ist ein Neologismus. Z.B. war Natodoppelbeschluß im Jahre 1979 ein Neologismus; heute ist es einfach ein Eintrag im deutschen Lexikon (der auch wieder in Vergessenheit geraten kann).

Es gibt drei Weisen, auf die ein Neologismus ins System kommen kann:

  1. aus dem Lexikon der betreffenden Sprache: Wortbildung,
  2. aus dem Lexikon einer anderen Sprache: Entlehnung.
  3. ohne identifizierbare Quelle: Urschöpfung.

Wortbildung

Wortbildung – genauer Stammbildung – ist Teil der Morphologie – und zwar überwiegend der lexikalischen Morphologie – und insofern ein Teil jedes Sprachsystems. Als solcher wird sie auch in synchronen Studien der Morphologie und/oder des Lexikons berücksichtigt.

Bis zur Mitte des 20. Jh. war es üblich, die Wortbildung nicht in synchronen, sondern nur in diachronen Sprachbeschreibungen zu behandeln. Dies deshalb, weil, wie eingangs gesagt, durch Wortbildung der lexikalische Bestand einer Sprache erweitert und insoweit das Sprachsystem verändert werden kann. Diese Einschätzung ist jedoch nicht ganz sachgerecht. Man kann auf die Wortbildung so wie auf alle Teile des Sprachsystems die synchrone und die diachrone Perspektive nehmen. In der Wortbildung werden komplexe Zeichen nach Regeln geschaffen ganz ebenso wie in der Flexionsmorphologie und der Syntax. Allerdings können die Produkte der Wortbildung ins Inventar eingehen, während das mit den Produkten der anderen Teile des Sprachsystems – insbesondere der Flexionsmorphologie und der Syntax – i.a. nicht geschieht. Dieser Vorgang heißt Lexikalisierung und wird unten behandelt.

Wortbildung kann entweder spontan oder in Nachahmung eines fremdsprachlichen Vorbilds vor sich gehen. Spontane Wortbildung hat solche deutschen Wörter wie verunmöglichen, kriminalisieren, Raumsonde und ARD erzeugt. Wortbildung in Nachahmung eines fremdsprachlichen Vorbildes ist Lehnübersetzung (frz. calque). Dabei wird die morphologische Zusammensetzung eines Wortes einer anderen Sprache zum Vorbild genommen und mit den Mitteln der eigenen Sprache nachvollzogen. Die Tabelle gibt ein paar bekannte Beispiele.

Lehnübersetzung
OriginalZiel
SpracheWortSpracheWort
griech.poió-tēslat.quali-tas
griech.a-tom-onlat.in-dividu-um
griech.pros-od-ialat.ac-cent-us
griech.ev-angelionae.god-spell (> gospel)
lat.per-donaredt.ver-geben
lat.con-scientiadt.Ge-wissen
vlat.mal-tractaredt.miß-handeln
vlat.manu-teneredt.hand-haben
frz.bel espritdt.Schön-geist
frz./engl.tele-visiondt.Fern-sehen
engl.sky-scraperdt.Wolken-kratzer
dt.Ablautgriech.apo-phonía

Wie man sieht, setzt Lehnübersetzung eine gewisse Analogie in den Wortbildungsmitteln der beteiligten Sprachen voraus.

Entlehnung

Die Übernahme eines Elements einer Sprache in eine andere heißt Entlehnung. Dabei kann es sich im Prinzip um sprachliche Einheiten aller Art handeln; hier jedoch interessieren nur Wörter. Ein Lehnwort (engl. loan (word)) (i.w.S.) ist ein aus einer anderen Sprache entlehntes Wort. Z.B. sind die deutschen Wörter Kommissar und Professor aus dem Lateinischen, Philosophie und Rhapsodie aus dem (Alt-)Griechischen, Computer und Starlet aus dem Englischen, Balkon und reüssieren aus dem Französischen entlehnt. Solche Wörter einer Sprache, die nicht entlehnt sind (soweit die Wissenschaft in der Sprachgeschichte zurückblicken kann), heißen Erbwörter.

In manchen Sprachen, insbesondere dem Deutschen, lassen sich mehrere Schichten von Lehnwörtern unterscheiden nach dem Kriterium, wie gut sie in das System der aufnehmenden Sprache eingegliedert sind. Ein Lehnwort kann, vor allem wenn es lange in einer Sprache ist, in lautlicher und grammatischer Hinsicht vollständig den Erbwörtern angepaßt werden, so daß nur noch der Linguist seine fremde Herkunft feststellen kann. Bei solchen Wörtern wie Computer oder Derivation sieht bzw. hört jeder sofort, daß es keine deutschen Erbwörter sein können. Daß aber Wörter wie Ziegel, Pforte, Karte (zu antiken Zeiten) aus dem Lateinischen entlehnt sind, kann man nur wissen, wenn man deren Geschichte linguistisch untersucht.

Ein entlehntes Wort, das der Zielsprache angepaßt ist (wie die letzteren Beispiele), heißt Lehnwort (i.e.S.). Ein entlehntes Wort, das – in lautlicher oder grammatischer Hinsicht – ein Fremdkörper in der Zielsprache ist, heißt Fremdwort. Der Unterschied ist nicht immer so klar und wird in vielen Sprachen gar nicht gemacht. Im Deutschen ist es vor allem die zweite Lautverschiebung, welche nach der antiken Entlehnung aus dem Lateinischen (aber natürlich vor den modernen Entlehnungen) stattgefunden hat, die es erleichtert, Lehn- und Fremdwörter zu unterscheiden. Es gibt im Deutschen sogar einige “Dubletten” von Lehn- und Fremdwörtern, die auf dasselbe lateinische Wort zurückgehen:

Lehn- und Fremdwörter
LateinBedeutungLehnwortFremdwort
censusEinkommensschätzungZinsZensur
teg-
tegula
decken
Ziegel

Ziegel
tektieren
chartaPapierKarteCharta
portaTürPfortePortal

Neben echten Entlehnungen gibt es auch Scheinentlehnungen, d.s. Ausdrücke der Zielsprache, die den Eindruck erwecken, als seien sie einer anderen Sprache entlehnt. Im Deutschen der Wende zum 21. Jh. sind dies insbesondere Scheinanglizismen.

Urschöpfung

Gelegentlich werden neue Wörter eingeführt, ohne daß eines der beiden vorgenannten Verfahren angewandt worden wäre. Geläufige Beispiele sind Wörter wie Gas und Kodak (die höchstens ein paar hundert Jahre alt sind). Bei solchen Wörtern ist die Weise ihrer Bildung nicht nachvollziehbar; man spricht hier von Urschöpfung. Der Vorgang ist bei Warenbezeichnungen relativ häufig. Die Definition der Urschöpfung nimmt jedoch eigentlich auf ein methodisches Problem Bezug; daß solche Benennungen tatsächlich unmotiviert sind, läßt sich natürlich ebensowenig feststellen, wie sich negative Existenzaussagen überhaupt beweisen lassen.

Jede Sprache hat einen Vorrat von mindestens einigen Tausend Wurzeln, die z.T. onomatopoetisch oder lautsymbolisch motiviert sein mögen, die aber zum größten Teil unmotiviert sind. Man kann annehmen, daß es in der Ursprache der Menschheit ebenso gewesen ist. Bevor man neue Wörter durch Wortbildung oder Entlehnung schaffen konnte, mußten erst einmal Wurzeln und Stämme vorhanden sein; und diese konnten nur durch Urschöpfung gebildet werden. Der Terminus ‘Urschöpfung’ bezieht sich auf diese Sachlage. Lange meinte man, in den ausgebildeten Sprachen (also nach der Glottogonie) gebe es keine Urschöpfung mehr. Dies kann jedoch als unzutreffend gelten, solange moderne Prägungen wie die genannten nicht motiviert werden können.