Begriff der Eigenschaft

Der Begriff ‘Eigenschaft’ wird hier nicht definiert, sondern nur charakterisiert. Im Gegensatz zu einem Gegenstand ist eine Eigenschaft etwas mental Unselbständiges (erst durch Abstraktion werden Eigenschaften verselbständigt). D.h. ein Gegenstand existiert für sich, kann isoliert konzipiert werden. Eine Eigenschaft tritt an einem Gegenstand auf. Der Gegenstand ist auch nicht aus den Eigenschaften zusammengesetzt (er ist aus seinen materiellen Teilen zusammengesetzt), sondern diese Eigenschaften kommen ihm zu.1

Eine Eigenschaft wird einem Gegenstand (oder eine Klasse von Gegenständen) zugeschrieben, d.h. sie wird, semiotisch-logisch betrachtet, durch ein einwertiges Prädikat repräsentiert. Dies unterscheidet eine Eigenschaft

Generische und spezifische Eigenschaften

Man kann unterscheiden zwischen generischen und spezifischen Eigenschaften.

Eine generische Eigenschaft tritt also in Gestalt von einzelnen, einander ausschließenden Ausprägungen auf. Diese können Werte auf einem Kontinuum sein, wie im Fall der Farbe, oder es können Alternativen sein, wie im Falle des Geschlechts. Das Verhältnis zwischen generischen und spezifischen Eigenschaften wird oft formalisiert in einem Parameter-Werte-Modell. Eine Variante davon sind die hier zu behandelnden Merkmale und ihre Werte.

Merkmale

Es kann eine Eigenschaft eines Individuums sein, z.B. ein Schmiß an der rechten Wange; oder es kann eine Eigenschaft einer Klasse sein, z.B. Kraushaarigkeit.

Angenommen, wir haben eine Menge von Elementen, die sich in mehreren Eigenschaften voneinander unterscheiden, wie in folgendem Schaubild.

Schraubensortiment

Dann können wir jedes Element der Menge dadurch identifizieren, daß wir seine Merkmale angeben. Z.B. ist Nr.10 in dem Sortiment durch die Merkmale lang, rundköpfig, spitz und blau identifiziert, d.h. von allen anderen Elementen der Menge verschieden. Wenn ein Feld so regelmäßig strukturiert ist, können wir sogar Lücken identifizieren und sagen, wie die Elemente in Position 15 und 16 aussehen müßten (lang, rundköpfig, stumpf, blau; kurz, flachköpfig, spitz, blau). Diese einfache Idee liegt jeder Theorie von distinktiven Merkmalen zugrunde.

Der Unterschied zwischen generischer und spezifischer Eigenschaft kann auch bei Merkmalen gemacht werden. Die folgenden beiden Notationen meinen dasselbe.

generischspezifisch
Länge lang
kurz
~
generischspezifisch
± kurz - kurz
+ kurz

In der ersten ist ‘kurz’ ein spezifisches Merkmal, in der zweiten ist es ein zweiwertiges generisches Merkmal. Hier entspricht der Wert ‘+ kurz’ dem Wert ‘kurz’ in der ersten Notation. Folglich muß in einem Merkmalssystem jeweils festgesetzt werden, ob mit einem Merkmal eine spezifische Eigenschaft (ein Wert eines Parameters), so wie ‘kurz’ im linken Modell, oder ob damit eine generische Eigenschaft, so wie ‘± kurz’ im rechten Modell, gemeint ist. Man spricht im ersteren Fall auch von unären (einwertigen), im zweiten von n-ären (hier: binären) (mehrwertigen, hier: zweiwertigen) Merkmalen.

Sprachliche Merkmale

In der Wissenschaft ist ein Merkmal jedenfalls eine Eigenschaft, die ein Kriterium in der begrifflichen Systematik darstellt. Ein sprachliches Merkmal ist ein Merkmal eines Elements des Sprachsystems. Einheiten verschiedener Ebenen des Sprachsystems werden mit Merkmalen analysiert:

In allen Disziplinen braucht man Merkmale, um die Gegenstände des Objektbereichs zu klassifizieren. Sie dienen dort als Kriterien, um die Klassen, in die die Gegenstände fallen, voneinander zu unterscheiden und die Gegenstände zu definieren. Weiteres hierzu auf den Seiten über Klassifikation und Definition.

Jegliche Rede von sprachlichen Einheiten bezieht sich auf die beiden fundamentalen Achsen der paradigmatischen und syntagmatischen Relationen. Die klassifikatorische Funktion erfüllen die sprachlichen Merkmale auf der paradigmatischen Achse, denn da geht es darum, in welche Klassen die Elemente fallen und welche Paradigmen sie bilden. Nur der Sprache (und folglich der Linguistik) eigen ist die syntagmatische Achse. Auf ihr werden sprachliche Einheiten zu größeren miteinander kombiniert. Ob zwei Einheiten miteinander kombinierbar sind, hängt von ihrer Merkmalszusammensetzung ab. Anders gesagt: Die Berücksichtigung der paradigmatischen Relationen gestattet es, die Elemente mithilfe von Merkmalen in Klassen und Paradigmen einzuteilen. In dieser Funktion drücken die sprachlichen Merkmale aus, wie in dieser Sprache die Welt kategorisiert wird. Aber die hauptsächliche raison d'être dieser sprachlichen Klassen und Paradigmen besteht eben darin, daß sie die Kombination der Elemente in der Rede regeln.

Wir betrachten zuerst ein Beispiel aus der Phonologie. Die deutsche Auslautverhärtung führt dazu, daß Obstruenten in der Coda einer Silbe allesamt stimmlos werden. Anders gesagt, sie haben alle den Wert ‘-’ für das Merkmal [ ± stimmhaft ]. Die Regel über die Kombination der Segmente nimmt also auf dieses Merkmal Bezug und verlangt Übereinstimmung in seinem Wert.

Deutsche Nomina sind für das dreiwertige grammatische Merkmal ‘Genus’ spezifiziert. In einer Parameter-Wert-Notation kann man das wie folgt angeben:

Soll nun ein Adjektiv als Attribut mit einem Substantiv kombiniert werden, so gibt es eine syntaktische Regel (die Kongruenzregel), die die grammatischen Merkmale, u.a. das Genus, der beiden Komponenten betrifft und verlangt, daß sie in diesem Merkmal denselben Wert haben. Daher ist z.B. dummer Politikerin ungrammatisch.

Die Funktion von semantischen Merkmalen in der Kombination von Wörtern zu Syntagmen ist ganz ähnlich. Nomina, die sich auf Lebewesen beziehen, können z.B. für den Parameter ‘Alter’ spezifiziert sein, etwa wie folgt:

Soll nun ein Adjektiv als Attribut mit einem Substantiv kombiniert werden, wie in greises Baby, so werden die Merkmalspezifikationen von beiden miteinander kombiniert. Für den Referenten dieses Ausdrucks würde also gelten, daß sein Alter am Minimum und am Maximum der Skala ist, was ein logischer Widerspruch ist. Auch semantische Merkmale dienen also nicht nur dazu, Lexeme semantisch zu klassifizieren – hier z.B. belebte Nomina nach dem Alter –, sondern auch dazu, ihre Kombinatorik zu beschränken.

Fazit

Sinn der wissenschaftlichen Analyse ist es, den Gegenstand in seine kleinsten Bestandteile zu zergliedern, um festzustellen, woraus er letztlich zusammengesetzt ist. Die sprachlichen Merkmale haben in der Linguistik den theoretischen Status von kleinsten Elementen. Man spricht deswegen, besonders in der Semantik, mit Bezug auf Merkmale auch von Primitiva (engl. primitives). Damit sind die fundamentalen, atomischen Einheiten gemeint, aus denen alle anderen sich zusammensetzen.

Das theoretische Fazit ist, daß Merkmale in der Linguistik die beiden Funktionen haben,

Das methodische Fazit ist ein mehrfaches:


1 Oben hieß es, ein Gegenstand bestehe nicht aus seinen Merkmalen, sondern er habe sie. Außerhalb der Linguistik ist das unproblematisch. In der Linguistik besteht das Problem, daß viele der Entitäten, denen man Merkmale zuschreibt – insbesondere Significantia und Significata von Sprachzeichen – selber schon kognitiv unselbständig, also weniger gegenständlich als eigenschaftsartig sind. Deshalb hat sich in der Linguistik vielerorts doch die Rede eingebürgert, daß z.B. ein Phonem aus phonologischen Merkmalen oder eine lexikalische Bedeutung aus semantischen Merkmalen zusammengesetzt sei.