Herausbildung

Kastilisch ist ursprünglich ein um Burgos und Santander zentrierter nordspanischer (überwiegend kantabrischer) Dialekt, der im Rest Spaniens sekundär ist. Es entwickelte sich also im äußersten Norden und Nordwesten (bes. Kantabrien) und somit in dem Teil der Halbinsel, der relativ spät und unvollständig romanisiert worden war. Es war daher im Vergleich zu den anderen iberoromanischen und überhaupt romanischen Sprachen relativ marginal und wies Besonderheiten auf.

Da die Kastilier in der Reconquista führend waren, setzte sich seit Mitte des 11. Jh. das Kastilische gegenüber den anderen iberoromanischen Varianten durch. Sowie ab 1035 (Ferdinand I.) Kastilien seine Macht ausdehnt, absorbiert Kastilisch einerseits Leonesisch-Asturisch und andererseits Aragonesisch weitgehend und macht erst vor Galizisch-Portugiesisch einerseits und Katalanisch andererseits Halt. Leonesisch hat ursprünglich zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Galizisch bewahrt, wird ab dem 13. Jh. jedoch total vom Kastilischen überlagert. Bei Vollendung der Reconquista waren nur Portugiesisch, Galizisch und Katalanisch (inkl. Valencia und Balearen) außerhalb des kastilischen Einflusses. In einigen ländlichen Gebieten überleben der asturische und leonesische Dialekt bis heute.

Seit etwa 1000 rückt die Reconquista der Goten gen Süden vor; seit 1031 zerfällt das Kalifat. Im 11. Jh. spielt dabei Rodrigo Díaz, genannt El Cid, eine wesentliche Rolle. Die Kastilier nehmen 1085 Toledo ein, so daß sie in den Besitz des symbolischen Zentrums des spanischen Reiches kommen. Dies trägt zur Aufwertung des Kastilischen bei. 1469 werden die Königreiche von Kastilien und Aragon vereinigt. 1492 ist die Reconquista mit der Flucht des letzten Maurenherrschers über Gibraltar abgeschlossen.

Durch die vereinigte Wirkung von (maurischer) Conquista und (kastilischer) Reconquista wird die iberoromanische Sprachen- und Dialektlandschaft total verändert. Die südspanischen Varianten, ehemals repräsentiert durch das Mozarabische, kamen unter der Maurenherrschaft nie zur Blüte, d.h. zur Herausbildung einer Literatur, und wurden durch die Reconquista weitgehend vom Kastilischen verdrängt.

Durch das Vordringen des Kastilischen wie ein Keil in Iberien wird die Sprachlandschaft zerklüftet. Hätte es die Conquista (Überrennung des lateinisch gebildeten Südens) und Reconquista (Verbreitung des stark vom Substrat beeinflußten Romanischen des Nordens) nicht gegeben, so wäre Iberoromanisch in sich einheitlicher und dem restlichen Romanischen ähnlicher.

Älteste Dokumente

Das älteste Dokument der spanischen Sprache sind die emilianischen und silensischen Glossen. Sie geben Dialekte des Spanischen wieder, die im 10. oder 11. Jh. in Rioja und Kastilien gesprochen wurden. Die Orthographie ist noch nicht normiert. In einigen Punkten ist sie sicher bereits konservativer als die tatsächliche Aussprache. Z.B. ist aus Inschriften bekannt, daß das in Gloss. Emil. 1 erscheinende finale <t> in der 3.Ps. längst nicht mehr gesprochen wurde.

Einige Merkmale sind gemeiniberoromanisch, so etwa die Erneuerung der Demonstrative in Gloss. Sil. 213 und 300, das Wort vez für “mal” (Gloss. Emil. 73), die Enklise der Formen von haber (Gloss. Emil. 109).

Andere Merkmale sind bereits kastilisch, so etwa die Diphthongierung von ehemaligen /ɛ/ und /ɔ/ (Gloss. Emil. 2, 58).

Noch andere Züge sind typisch für andere iberoromanische Sprachen, nicht aber das Kastilische, so etwa die Enklise von Reflexivum plus Form von haber in Gloss. Emil. 109, der Schwund des anlautendes /l/ des definiten Artikels in Gloss. Sil. 65 und schlichtes statt des kastilischen palatalisierten /l/ in Gloss. Sil. 300, 351.

Entstehung der Literatursprache

Seit diesen ältesten Texten wird Kastilisch zunächst zögernd, dann immer mehr als Schriftsprache verwendet. Im 12. Jh. gibt es erste örtliche Gesetzessammlungen. Da jegliche Normierung fehlt, reflektieren die schriftlichen Quellen bis Mitte des 13. Jh. den jeweiligen regionalen kastilischen Dialekt. 1252 - 1284 ist Alfons X (der Weise) König von Kastilien und León. Er schreibt viel auf Kastilisch und betreibt dabei die Standardisierung der Sprache. Die zugrundegelegte Varietät stammt ursprünglich aus Burgos, ist aber zur Zeit ihrer Kodifikation im wesentlichen die ‘norma culta’ von Toledo, die ‘norma toledana’. Kastilisch wird, insbesondere zuungunsten von Latein, in allen offiziellen Dokumenten verwendet. Es wird lexikalisch stark angereichert durch Entlehnung aus Lateinisch und Arabisch.

Seit Alfons dem Weisen wird Kastilisch Literatursprache. Bei Vereinigung der Königreiche von Kastilien und Aragón (1469) wird Kastilisch zur nationalen Schriftsprache. Eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung der Literatursprache spielt das Poema de Mío Cid.

Die Sprache des Epos wird durch diese Perikope veranschaulicht. Sie wird im folgenden gelegentlich als Beispielquelle verwendet.

Entstehung des Sprachsystems

4.1. Phonologie

Kastilisch ist phonologisch progressiv. Einige der kastilischen Eigenheiten (Fünfvokalsystem, Fusion stimmhafter in stimmlose Obstruenten) sind wohl vom Baskischen beeinflußt. Die sprachlichen Neuerungen gehen im 10. und 11. Jh. von Burgos aus.


Transposition

Transposition ist die Versetzung eines Segments auf der syntagmatischen Achse. Häufig ist die Transposition einer Liquida über einen Vokal oder einen Konsonanten hinweg.

Die letzten vier Beispiele zeigen altspanische Transpositionen, die im Mittelspanischen wieder rückgängig gemacht wurden, wie z.B. in Cid 274. Das letzte Beispiel ist das einzige, wo eine Nicht-Liquida - aber immer noch ein Sonorant - transponiert wird.

Metathese

Metathese ist der Austausch zweier Segmente derselben Klasse auf der syntagmatischen Achse. Im allgemeinen haben die beiden Segmente analoge Positionen in benachbarten Silben. Die folgende Tabelle zeigt einige iberoromanische Beispiele.

Metathese im Iberoromanischen
OriginalZielBedeutung
SpracheBeispielSpracheBeispiel
lat.periculoGefahr
ital.
frz.
port.
pericolo
péril
perigo
altspan.periglospan.peligro
lat.
ital.
frz.
miraculo
miracolo
miracle
port. milagreWunder
altspan.miraglospan.milagro
lat.parabolaWort
altspan.parablaspan.palabra
lat.praesepespan.pesebreKrippe
lat.lugubrespan.lóbregodüster
?Algeriaspan.ArgeliaAlgerien

Aus der Tabelle gehen zwei Beobachtungen hervor:

Beides zeigt, daß Metathese nicht, wie die meisten anderen phonologischen Prozesse, ein regelmäßiger, d.h. alle Wörter, welche die phonologischen Bedingungen erfüllen, erfassender Prozeß ist.

Zu altkastilischer Zeit werden die meisten romanischen /f/ zu /h/:

/f//h//__V

Dies geschieht nur im Kastilischen, nicht im Portugiesischen, Galizischen, Katalanischen, Leonesischen, Aragonesischen und Judenspanischen. Der Wandel erscheint noch nicht in den Emilianischen Glossen 4 und auch noch nicht im Cid 262, 264 et pass.; dort wird noch <f> geschrieben. Alle (heutigen) spanischen /f/ vor Vokal sind durch Entlehnung wiedereingeführt.

Um 1600 werden alle Sibilanten einschließlich der Affrikaten stimmlos, wodurch die ehemalige Opposition zwischen stimmlosen und stimmhaften dephonologisiert wird. Abgesehen von denjenigen Frikativen, welche Allophone von Okklusiven sind, überleben die stimmhaften Frikative nur in bestimmten Kontexten als Allophone der stimmlosen.

In der ersten Hälfte des 17. Jh. wird, wieder ausschließlich im Kastilischen, das Produkt der ehemaligen dentalen Affrikaten nach vorn verschoben, also zu θ ; und der verbleibende palatale Sibilant wird nach hinten geschoben, also zu χ.

4.2. Morphologie

In der Deklination wird die romanische Opposition zwischen Casus rectus und Casus obliquus früh aufgegeben, und bereits Altspanisch hat von ihr - außer im Pronomen - keine Spur.

Bei Substantiven, die nicht auf /o/ oder /a/ enden, ist das Genus nicht markiert und schwankt daher auch manchmal. In solchen Fällen wird gelegentlich, durch Übercharakterisierung, der Stammvokal entsprechend dem Genus angefügt. Z.B. wird im Altspanischen aus la seniore la señora, und aus passare “Vogel” wird pájaro.

Das Entsprechende wird viel systematischer bei Adjektiven durchgeführt. Zu altspanischer Zeit wird für die genuslosen Adjektive auf -(d)or (traidor), -ón (ladrón) und -és (francés) eine feminine Form auf -a eingeführt.

In der Konjugation findet manch analogischer Ausgleich statt. Z.B. macht die Palatalisierung viele Paradigmen heterogen, etwa:

LateinKastil.Aussprache
dic-odigodig-o
dic-isdicesdiθ-es
dic-itdicediθ-e

Solche Stammallomorphie wird bei vielen Verben ausgeglichen. Z.B. müßte sie aus phonologischen Gründen im Präsens der a- und e-Konjugation zwischen Indikativ und Konjunktiv auftreten. Es wird jedoch im Konjunktiv der Konsonantismus des Indikativs durchgeführt:

LateinKastil.Aussprache
plic-asllegasʎeg-as
plic-eslleguesʎeg-es

Das neue analytische Perfekt ist fertig. Allerdings kann das Hilfsverb noch in alle Tempora gehen, wie in Cid 266. Bei fortschreitender Grammatikalisierung wird das auf Präsens und Imperfekt des Hilfsverbs beschränkt.

Das neue synthetische Futur ist fertig, wie in Cid 282. Daneben existiert aber noch seine analytische Vorstufe, wie in Cid 281.

Der Progressiv besteht noch nicht, sondern nur Vorstufen mit wechselndem Auxiliar (Cid 262) oder mit einem Verbalabstraktum, wie in Cid 272.

4.3. Syntax

Die Wortstellung des Altkastilischen ist im Vergleich mit der lateinischen relativ fest, im Vergleich mit der modernen kastilischen noch relativ frei. Z.B. kann das Subjekt dem finiten Verb folgen, wie in Cid 275.

Nominalsyntax:

Die Stellung des Adjektivattributs war im Lateinischen völlig frei; es gab eine Tendenz zur pränominalen Stellung evaluativer Attribute und postnominalen Stellung diskriminativer und komplexer Attribute. Das gilt so auch noch im Altspanischen:

Jedoch Nachstellung eines Evaluativums: Cid 266, 286.

Definiter und indefiniter Artikel werden weiter grammatikalisiert.

Quantoren und Determinantien stehen normalerweise pränominal: Cid 263, 284, 285. Ausnahme Cid 264.

Nominalsyntagmen, die durch ein Possessivum determiniert sind, können im Altspanischen zusätzlich durch den definiten Artikel determiniert sein, wie in Cid 279, 280.

Personalpronominalsyntax:

Im Lateinischen hat die personale Flexion des Subjekts pronominale Funktion, d.h. das Subjekt muß nicht außerhalb der Verbform repräsentiert sein. Personalia in Subjektsfunktion stehen daher nur bei Emphase. Die Personalpronomina werden auf dem Wege zu den romanischen Sprachen grammatikalisiert. Dieser Wandel betrifft den Nominativ und die obliquen Formen der Personalia in verschiedener Weise.

Im Altspanischen muß das Subjekt nicht außerhalb der Verbform repräsentiert sein, selbst dann nicht, wenn dessen Endung es nicht eindeutig ausdrückt: Cid 284. Andererseits kann das Personale in Subjektsfunktion auch dann erscheinen, wenn es nicht kontrastiv ist, wie in Cid 272.

Das Personalpronomen entwickelt sich so weiter, wie im Gemeinromanischen vorgezeichnet (s. Kap. 4.3). Am Anfang herrscht Variation zwischen prä- und postverbaler Stellung der Klitika; d.h. klitische Pronomina können dem finiten Verb noch folgen, wie in Cid 263, 265, 277. Im Kastilischen bildet sich die Regel heraus, daß die Klitika vor finiten, aber nach infiniten Formen des Verbs stehen. Die Nachstellung nach dem Präsentativum, wie in Cid 266, 269 (und wie im Italienischen), hat sich bis heute gehalten.

Steht das direkte Objekt (topikalisiert) vor dem Verb, so wird es durch ein resumptives Personalpronomen wieder aufgenommen: Cid 276.

Im Nebensatz steht das finite Verb häufig noch am Ende (wie im Lateinischen). Das gilt auch für das Hilfsverb, dem das infinite Verb dann vorangeht. Klitische Pronomina erscheinen dann zwischen dem infiniten und dem finiten Verb, wie in Cid 273.

Adverb:

Die Bildung von Adverbien aus Adjektiven folgt dem gemeinromanischen Muster (s. Kap. 4.3). Die Periphrase mit mente (wird altspanisch zwischendurch zu mientre) wird noch in zwei Wörtern geschrieben, wie in Cid 278. Auch im modernen Spanischen ist diese Bildung noch weniger stark grammatikalisiert als in anderen romanischen Sprachen, wie das Akzentmuster (zwei Akzente) und die Koordination des Typs lenta y cuidadosamente “langsam und vorsichtig” zeigen.