Die wichtigste Frage in der Konzeption einer Situation ist, ob sie überhaupt kontrolliert wird, und positivenfalls, wer sie zu welchem Grade kontrolliert. Der (oder das1) Agens ist der prototypische Kontrolleur einer Situation; er ist derjenige, der es in der Hand hat, die Situation beginnen, weiterlaufen und enden zu lassen. Er ist typischerweise empathisch.

Das Patiens ist der Partizipant, der von der Situation betroffen wird. Im klarsten Falle ist es nach Ende der Situation verändert (mindestens an einen anderen Ort versetzt). Das Patiens kann eine Entität beliebiger Art sein.

Das Patiens hat keinerlei Kontrolle. Der Agens ist per se nicht betroffen, außer wenn er gleichzeitig Patiens ist, wie in einer reflexiven oder reziproken Situation. Der einzige Partizipant einer Situation kann Agens wie in B1.a oder Patiens wie in B1.b sein.

B1. a. Erna arbeitete wie wild.
b. Erna schrumpfte beträchtlich.

Hat eine Situation mehr als einen Partizipanten, so besteht zwischen ihnen ein Kontrollgefälle: einer hat die Kontrolle, ein anderer wird kontrolliert und mehr oder minder stark affiziert. Tatsächlich werden Kontrolle vs. Affiziertheit im syntagmatischen Kontrast viel deutlicher als in Situationen mit nur einem Partizipanten.

B2. a. Erna briet den Pilz.
b. Erna überreichte Erwin einen Pilz.

Sowohl in B2.a als auch in b sind ‘Erna’ Agens und der ‘Pilz’ Patiens.

Agens und Patiens sind die zentralen Partizipanten einer Situation. Strukturell manifestiert sich das darin, daß diese Rollen in der Verbvalenz angelegt sind und ihnen eigene syntaktische Funktionen wie Subjekt und direktes Objekt entsprechen (wenn auch nicht biunik zugeordnet sind). Die meisten anderen Rollen sind weder in der Verbvalenz angelegt noch entspricht jeder eine besondere syntaktische Funktion. Die Transitivität des Verbs bzw. der Satzkonstruktion, wie in B2, ist die strukturelle Manifestation des Kontrollgefälles.

Für die anderen Partizipanten der zweidimensionalen Hierarchie der semantischen Rollen spielt der Kontrollparameter keine oder eine untergeordnete Rolle. Sie werden davon nicht erfaßt, weil sie nicht zentral, sondern peripher sind. Z.B. ist der Rezipient ‘Erwin’ in B2.b peripherer als die anderen beiden Partizipanten. Sprachlich manifestiert sich das z.B. darin, daß weniger stark grammatikalisierte Kasusrelatoren - konkrete Kasus oder Präpositionen - für periphere Partizipanten eingesetzt werden. Vgl. den Abschnitt zum Distanzikonismus.

Der transitive Satz bildet ein Schema (engl. pattern), in das viele Zwei-Partizipanten-Situationen gepreßt werden. B3 bietet einige Beispiele, die diesem strukturellen Muster folgen.

B3. a. Erna hörte ein Geräusch.
b. Dieser Pudding ekelt mich an.
c. Erna erlitt einen Schlaganfall.

Die Sätze von B3 haben Subjekt und direktes Objekt und sind insoweit transitiv.2 In keinem der Sätze von B3 ist jedoch das Subjekt Agens oder das Objekt Patiens. Das Schema wird gebildet durch semantische Entleerung der Begriffe von Agens und Patiens. Deren Oberbegriffe (und gleichsam Zwischenprodukte dieser Entleerung) heißen Actor und Undergoer (“Betroffener”; es gibt keine etablierten Verdeutschungen). Die Subjekte in B3 sind Actor, die Objekte Undergoer. Die Makrorollen ‘Actor’ und ‘Undergoer’ werden vor allem im Sprachvergleich benötigt, denn nicht alle Sprachen haben Subjekt und direktes Objekt; aber alle haben Actor und Undergoer.

Übungsaufgaben
1. Semantische Rollen und syntaktische Funktionen 1
2. Semantische Rollen und syntaktische Funktionen 2

1 Der Terminus stammt aus der lateinischen Schulgrammatik, geht dort auf nomen agens zurück und ist deshalb ein Neutrum.

2 Sie sind allerdings kaum (B3.a) oder gar nicht (B3.b und c) passivierbar. Dies hängt eben damit zusammen, daß das Kontrollgefälle, als semantische Voraussetzung für Transitivität, nicht besteht oder sogar umgedreht ist.