Grundbegriffe

Lautwandel ist Wandel des Significans bei Gleichbleiben oder Nicht-Berücksichtigung des Significatums. Er betrifft die Sprachlaute als solche, also nicht als Träger bestimmter Bedeutungen. Z.B. wird im modernen Deutschen im Dativ Singular der starken maskulinen Substantive normalerweise das -e weggelassen. In einem Satz wie ich traue dem Mann nicht über den Weg könnte man kaum Manne sagen. Dies ist jedoch per definitionem kein Lautwandel, denn was hier geschwunden ist, ist die Endung des Dativ Singular und nicht etwa ein e am Ende des Wortes. Sonst müßte es ja heißen am End des Wortes. Man muß den Punkt noch verschärfen und sagen: Lautwandel im engeren Sinne ist regelmäßig, d.h. ein in einer bestimmten Sprache zu einer bestimmten Zeit auftretender Lautwandel betrifft einen Laut oder eine Klasse von Lauten in allen Wörtern, wo sie auftreten. In einem solchen Fall formuliert man den Wandel traditionellerweise als Lautgesetz, wobei allerdings zu beachten ist, daß das “Gesetz”, wie gesagt, räumlich und zeitlich begrenzt ist. Lautwandel, der nur einer Tendenz folgt oder sogar nur sporadisch auftritt, gibt es auch; aber darüber kann man keine Theorie machen, und insbesondere kann er nichts für historische Verwandtschaft beweisen. – Die in diesem Abschnitt auftretenden phonologischen Fachausdrücke werden übrigens im Webskript ‘Phonetik und Phonologie’ erläutert.

Mancher Lautwandel beschränkt sich auf die phonetische Ebene. Im Kölschen (dem Dialekt der Stadt Köln) wird (übrigens genauso wie im Englischen) ein /l/ im Silbenauslaut velarisiert, d.h. es wird als [ʟ] gesprochen, wie in [kœʟʃ]. Durch solchen phonetischen Wandel entsteht Allophonie; das Lautsystem ändert sich dadurch nicht.

Der im eigentlichen Sinne phonologische Wandel hat als Resultat eine Veränderung des phonologischen Systems. Er ist entweder spontan oder kontextbedingt ("kombinatorisch").

Spontaner Wandel

Verhältnismäßig selten ändert ein phonologisches Merkmal in einer Klasse von Lauten seinen Wert, ohne daß ein Faktor oder eine Bedingung dafür in Sicht ist. In dem Falle werden die Mitglieder X dieser Klasse in allen Kontexten, in denen sie vorkommen, zu Y verschoben; d.h. nach vollzogenem Wandel gibt es in der Sprache die Laute X nicht mehr.

Ein erstes Beispiel ist die Verschiebung eines jeglichen indogermanischen kurzen /o/ zu /a/ im Urgermanischen. Als Resultat davon hat z.B. Deutsch in vielen Wörtern ein /a/, wo verwandte lateinische (oder auch altgriechische) Wörter (da diese Sprachen keinen solchen Wandel durchgemacht haben) ein /o/ aufweisen. So entspricht etwa dt. acht lat. octo, dt. Gast entspricht lat. hostis, u.v.a.m. (Die /o/s, die im Deutschen doch vorkommen, sind erst nach diesem Wandel neu entstanden.)

Ein für die Absonderung der germanischen Sprachen (also z.B. Gotisch, Niederländisch, Englisch und Deutsch) vom Rest der Welt wohl noch einschneidenderer Lautwandel war die Germanische Lautverschiebung (in den letzten Jahrhunderten v.Ch.). Sie betrifft die Plosive und ändert deren Artikulationsart. Zur Illustration werden aus zwei Gründen keine deutschen Beispiele herangezogen: 1) wird das Ergebnis dieses Lautwandels im Deutschen durch die nachfolgende hochdeutsche Lautverschiebung teilweise verundeutlicht; 2) soll gleich noch eben diese im Kontrast zum Ergebnis der ersten Lautverschiebung illustriert werden. Die germanische Lautverschiebung hat drei Phasen:

  1. Zu Beginn werden die stimmlosen Plosive frikativ. Daher gibt es zwischen Lateinisch und Englisch solche Entsprechungen wie lat. pede = engl. foot, lat. tres = engl. three usw.
  2. Sodann werden die stimmhaften unaspirierten Plosive stimmlos. Daher gibt es zwischen Lateinisch und Englisch solche Entsprechungen wie lat. decem = engl. ten und lat. gelidus = engl. cold.
  3. Schließlich werden die stimmhaften aspirierten Plosive unaspiriert.

Eine systematische und ausführlichere Darstellung der germanischen Lautverschiebung findet sich anderswo.

Diese und eine Reihe anderer Lautwandel machen das Urgermanische mit den benachbarten indogermanischen Sprachen wie z.B. Keltisch und Baltisch wechselseitig unverständlich.

Über ein halbes Jahrtausend später sondert sich das Hochdeutsche durch eine weitere Lautverschiebung von den anderen westgermanischen Sprachen (also z.B. Englisch und Niederländisch) sowie von anderen deutschen Dialekten ab. Von der zweiten oder Hochdeutschen Lautverschiebung sind abermals die Plosive betroffen. Zwei Phasen sind zu unterscheiden:

  1. Zunächst werden die stimmlosen Plosive zu Affrikaten. Daher gibt es zwischen Englisch und Deutsch solche Entsprechungen wie engl. pool = dt. Pfuhl, engl. ten = dt. zehn usw.
  2. Sodann werden die stimmhaften Plosive stimmlos. Daher gibt es zwischen Englisch und Deutsch solche Entsprechungen wie engl. sib = dt. Sippe, engl. day = dt. Tag usw.

Man beachte die Reihenfolge der beiden Phasen. Wäre die Reihenfolge umgekehrt, so würden die stimmhaften Plosive zunächst stimmlos werden, und dann würden alle stimmlosen Plosive affriziert. D.h. wir hätten dann keine stimmlosen Plosive mehr, und wir würden Sipfe und Zag statt Sippe und Tag sagen. Die tatsächlichen Ergebnisse der phonologischen Wandel und ihre innere Systematik gestatten es also dem historischen Linguisten, die Reihenfolge zu rekonstruieren, in der sie stattgefunden haben müssen.

Dieser und eine Reihe anderer Lautwandel machen das Hochdeutsche mit den benachbarten westgermanischen Sprachen wie z.B. Niederländisch und sogar mit den niederdeutschen Dialekten wechselseitig unverständlich.1 Genau genommen, ist das Alemannische (zu dem insbesondere das Schweizerdeutsche gehört) der Herd der hochdeutschen Lautverschiebung. Dort wird sogar die Affrizierung von /k/ durchgeführt (wie jeder anhand der authentischen Aussprache des Nationalprodukts Käse nachvollziehen kann), die das übrige Hochdeutsche nicht erreicht. Tatsächlich ist der Lautwandel ein Prozeß, der von einem Herd ausgeht, sich regional ausbreitet und an den Rändern abebbt. Wenn man das Rheintal flußabwärts geht, kann man feststellen, wie die Plosive in immer mehr Kontexten unverschoben bleiben, so daß man schließlich in Köln Wörter wie dat und Appel antrifft.

Eine systematische und ausführlichere Darstellung der hochdeutschen Lautverschiebung findet sich anderswo.

Ein spontaner Wandel ist es übrigens auch, wenn ein Phonem in allen Wörtern, in denen es vorkommt, zu Null reduziert wird. Das passiert dem Phonem /h/ nicht selten in den Sprachen der Welt. Ein bekannter Fall ist das lateinische /h/, das bereits zu klassischer Zeit verlorenging, so daß es es in den romanischen Sprachen zwar gelegentlich noch geschrieben, jedoch nicht mehr gesprochen wird.

Kombinatorischer Wandel

Der weitaus meiste phonologische Wandel findet unter bestimmten Kontextbedingungen statt; d.h. ein Merkmal ändert sich in einer Lautklasse nur dann, wenn deren Mitglieder neben bestimmten anderen Lauten stehen. Der häufigste, weil phonetisch besonders klar motivierte kombinatorische Lautwandel ist die Assimilation (“Angleichung”) in ihren zahlreichen Varianten.

Als erstes Beispiel dient hier die Totalassimilation des Auslautkonsonanten der lateinischen Präverbien – im Beispiel des /d/ von ad – an den Anlautkonsonanten des folgenden Verbstamms. Die Tabelle zeigt zuerst die unassimilierte Form. Die weiteren Zeilen illustrieren, daß die Totalassimilation zum vollständigen Identitätsverlust des assimilierten Lauts führt.

Ein weiteres Beispiel für Assimilation ist die Verstimmhaftung von intervokalischen Plosiven, wie sie in der ersten Hälfte des 1. Jt. n.Ch. fast im gesamten Iberoromanischen stattgefunden hat und daher heute z.B. das Kastilische (d.i. der dem Hochspanischen zugrundeliegende Dialekt) vom Lateinischen (und z.B. auch vom Italienischen) unterscheidet. Folgende Beispiele illustrieren den Wandel:

Verstimmhaftung intervokalischer Plosive im Spanischen
BedeutungVulgärlateinKastilisch
ganztototodo
sagedicodigo
Wolflupolobo

Die Kontextbedingungen, unter denen der Wandel stattfindet, kann man genau bestimmen, wenn man folgende Beispiele dazunimmt:

BedeutungVulgärlateinKastilisch
dreitrestres
Bretttabulatabla
hochaltoalto

Die Regel lautet also: Plosiv wird stimmhaft zwischen Vokalen. Man kann solche Regeln wie folgt formalisieren:

Plosivstimmhaft/Vokal___Vokal

Diese Formel besteht aus folgenden Komponenten:

Obige Formel diente nur als Einstieg. In Wahrheit formalisiert man phonologische Prozesse unter Verwendung phonologischer Merkmale:

[ - kontinuant ][ + stimmhaft ]/[ + vokalisch
  - konsonantisch ]
___[ + vokalisch
  - konsonantisch ]

Die Funktion der Komponenten der Formel ist dieselbe wie oben.2 Plosive spezifiziert man mit Merkmalen als [ - kontinuant ], und Vokale als [ + vokalisch, - konsonantisch ].

Vokale sind normalerweise (in den hier betroffenen Sprachen immer) stimmhaft. Dieses Merkmal ist also neben [ + vokalisch, - konsonantisch ] redundant und aus diesem Grunde in der Formel nicht spezifiziert. Wenn wir es dazusetzen, sieht die Formel wie folgt aus:

[ - kontinuant ][ + stimmhaft ]/[ + vokalisch
  - konsonantisch
  + stimmhaft ]
___[ + vokalisch
  - konsonantisch
  + stimmhaft ]

Hier sieht man nun in der Spezifikation des Wandels selbst, daß es sich in der Tat um einen Assimilationsprozeß handelt.

Als letztes, etwas komplexeres Beispiel für Assimilation dient die Palatalisierung der lateinischen Velare, die ab dem 2. Jh. n.Ch. auf dem Wege vom Vulgärlatein zum Urromanischen (also vor dem soeben besprochenen Wandel) stattgefunden hat. Dem lat. centum ['kentum] “hundert” entspricht ital. cento ['ʧento], und dem lat. gente ['gente] “Leute (Abl.Sg.)” entspricht ital. gente ['ʤente]. Des Genaueren ist folgendes passiert (vgl. auch die ausführliche Darstellung):

  1. Die velaren Plosive (also /k/ und /g/) werden palatalisiert, also zu [kʲ] bzw. [gʲ], wenn sie vor vorderen Vokalen einschließlich /j/ stehen.
  2. Diese palatalisierten velaren Plosive werden noch gemeinromanisch zu palatalen, dann zu alveopalatalen Affrikaten.
  3. Diese Affrikaten werden in den westlichen romanischen Sprachen (z.B. Französisch, Spanisch, Portugiesisch) noch weiter verschoben.

Die ersten beiden Schritte dieses Wandels kann man in folgender Regel zusammenfassen:

Palatalisierung im Italienischen
lat.ital.
[ + hinten ][ - hinten ] /[ ____ ]
[ + kons ]
[ - hinten ]
[ - koronal ]
CaesareCesare (Resultat: Aufspaltung)
['kæsare]['ʧezare]
gentegente (Resultat: Aufspaltung)
['gente]['ʤente]

Zum Verständnis: alles, was hinter dem Palatum liegt, gleich ob Vokal oder Konsonant, ist [ + hinten ].

Auch hier ist aus der Formulierung der Regel ersichtlich, daß es sich um einen Assimilationsprozeß handelt. Im Gegensatz zum vorherigen Fall ist hier nicht die Artikulationsart, sondern die Artikulationsstelle betroffen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel, daß die Formulierung mithilfe von Merkmalen eleganter ist als die Formulierung durch Aufzählung der involvierten Segmente.

Der Kommentar zu der Regel macht auf eine Veränderung des phonologischen Systems aufmerksam, der wir uns nunmehr zuwenden.

Veränderungen des phonologischen Systems

Das phonologische System wird durch die Phoneme konstituiert. Allophonie findet auf einer niedrigeren, für das System weniger relevanten Ebene statt. Solange also bloß Allophonie geändert (eingeführt oder aufgelöst) wird (wie in dem oben gegebenen kölschen Beispiel), ändert sich das phonologische System noch nicht wesentlich. Das passiert erst, wenn Phoneme verlorengehen oder hinzukommen. Ein Phonem kann verlorengehen dadurch, daß ein Wandel es zu Null reduziert, wie eingangs durch das lat. /h/ illustriert. Es kann auch dadurch verlorengehen, daß ein Wandel es mit einem anderen Phonem des Systems zusammenwirft. Ein Beispiel ist der ebenfalls erwähnte Wandel von idg. /o/ zu germ. /a/.

Neue Phoneme entstehen in einer Sprache durch Aufspaltung vorhandener Phoneme. Mit Aufspaltung ist gemeint, daß zunächst zwei Varianten eines Phonems entstehen. Es entsteht also kontextbedingte Allophonie. Wenn in einem weiteren Schritt der bedingende Kontext wegfällt, kann das Allophon phonemisch werden, und so können neue Phoneme eingeführt werden.

Als Beispiel kann wieder die romanische Palatalisierung im Italienischen dienen. So wie dargestellt, führt sie zunächst zu Allophonie, z.B. in den Flexionsparadigmen. Beispiele sind im oberen Teil der folgenden Tabelle aufgeführt. (Wie man sieht, ignoriert die Orthographie den lautlichen Unterschied.)

Durch davon unabhängige Vorgänge kommen später Wörter ins System, welche die velaren Plosive vor vorderen Vokalen aufweisen. Z.B. erscheint lat. qui [kwi] “wer” im Italienischen als chi [ki]. Fortan hat man nicht nur Alternationen, sondern auch Minimalpaare wie die im unteren Teil der Tabelle aufgeführten.

Italienische Palatalisierung
Stufe ProzeßVelar Palatal
SchreibungLaut BedeutungSchreibungLaut Bedeutung
altitalien. Allophonie amicoa'mikoFreund amicia'miʧiFreunde
leggo'leg:olese legge'leʤ:eliest
neuitalien. Phonologi-
sierung
chikiwer ciʧida
casco'kaskoHelm ciascunoʧas'kunojeder
ghiro'giroSiebenschläfer giro'ʤiroDrehung
gallo'gal:oHahn giallo'ʤal:ogelb

Das aber bedeutet, daß die ehemaligen Allophone [ʧ] und [ʤ] nunmehr in Opposition zu [k] und [g] stehen, daß also das System um zwei Phoneme erweitert worden ist. Man spricht hier von der Phonologisierung einer Allophonie. Auf analoge Weise entstanden übrigens im Deutschen die Phoneme /y ø/ als zunächst durch Umlaut bedingte Allophone der Phoneme /u o/.

Fazit:


1 Man ersieht daraus, daß Hochdeutsch weit davon entfernt ist, gegenüber den “Dialekten” eine besonders alte, “klassische” Form des Deutschen zu repräsentieren. Das Gegenteil ist der Fall: das Hochdeutsche ist ein besonders “entstellter” deutscher Dialekt. Wäre zu Beginn der Neuzeit nicht ausgerechnet das Hochdeutsche zur Verkehrssprache im Sprachraum zwischen Alpen und Nordsee erhoben worden, hätten wir heute geringere Schwierigkeiten, uns mit unseren unmittelbaren Nachbarn im Norden und Nordwesten zu verständigen.

2 Es ist also nicht gemeint, daß das Merkmal [ - kontinuant ] zum Merkmal [ + stimmhaft ] verschoben würde, oder ähnlicher Blödsinn.