Sprechakt und Sprechsituation

Angenommen, Sie finden am Ufer eine Flasche und darin einen Zettel, auf dem nichts weiter als steht.

.Diese Flaschenpost muß übermorgen an mich zurückgeschickt werden.

Dann gibt es mehr als einen Grund, warum Sie dem Absender nicht willfahren können. Sie wissen nämlich nicht, worauf sich folgende Ausdrücke beziehen:

Man beachte, daß die drei Ausdrücke nicht irgendwie vage oder mehrdeutig sind. Im Gegenteil, sie sind völlig eindeutig: übermorgen bedeutet “zwei Tage nach dem Sprechakt”; ich bedeutet “der gerade spricht/schreibt”; und zurück bedeutet “zum Ausgangspunkt der Bewegung”. Der Grund, warum das Gemeinte unklar bleibt, ist nicht mangelnde Präzision. Er liegt vielmehr darin, daß diese Ausdrücke ihre Referenz unter Bezugnahme auf die Sprechsituation gewinnen. Ist man Teilnehmer der Sprechsituation, kennt man die Bezugspunkte, und die Referenz ist klar. In dem konstruierten Beispiel ist der Empfänger jedoch nicht Teilnehmer der Sprechsituation; und daraus resultiert das Referenzproblem.

Deixis ist Referenz unter Bezugnahme auf die Sprechsituation. Ein deiktischer Ausdruck ist ein Ausdruck, der dadurch referiert, daß er den Referenten auf eine Komponente der Sprechsituation bezieht. Man kann daher seine Referenz nur feststellen, wenn man die Sprechsituation kennt. Die ersten beiden oben genannten Ausdrücke sind von sich aus deiktisch; der dritte (zurück) wird in deiktisch verwendet. Da jegliche Semiose, also Konstruktion von Sinn, notwendigerweise in einer Sprechsituation stattfindet, ist es natürlich, diese auch als Anker für die Referenz zu benutzen. Es wäre sogar sehr aufwendig, Deixis zu vermeiden. Statt ich z.B. müßte der Sprecher seinen Namen nennen, statt jetzt müßte er das jeweils aktuelle Datum mit Uhrzeit nennen usw. Daher ist Deixis für die Konstruktion von Referenz in jeglicher menschlichen Sprache fundamental.

Komponenten der Deixis - deiktische Kategorien

Im folgenden werden die wichtigsten deiktischen Kategorien illustriert.

Sprechaktteilnehmer

Die Sprechaktteilnehmer (mit leichter Vereinfachung: Sprecher und Hörer) konstituieren die grammatische Kategorie der Person und geben die erste bzw. zweite Person ab. Die funktionelle Kategorie der Person hinwiederum erscheint in mehreren Strukturkategorien, die aber jedenfalls das gemeinsam haben, daß sie pronominal sind. An erster Stelle stehen hier die Personalpronomina, im Deutschen durch die Formen von illustriert.

.ich, du, er1, er2 ...

Im Deutschen und vielen anderen Sprachen gehört zum Paradigma solcher pronominalen Elemente auch eine dritte Person. Die dritte Person steht für Nicht-Sprechaktteilnehmer;1 und die Kategorie der Person ist insofern, wenn sie die dritte Person einschließt, jedenfalls funktionell und oft auch strukturell heterogen. Ein weiterer funktioneller Unterschied zwischen den ersten beiden und der dritten Person besteht darin, daß es in einem gegebenen Satz nötig sein kann, mehrere dritte Personen auseinanderzuhalten, wie in . Etwas Analoges gibt es für die ersten beiden Personen nicht.

.sie brachte ihr Linguistik bei

Personalpronomina sind, wie gesagt, nur eine von den pronominalen Kategorien, in denen die funktionelle Kategorie der Person erscheint. Letztere erscheint z.B. auch in den Personalendungen des Verbs zahlreicher Sprachen, wie in .

.laudo, laudas, laudat
Lat(ich) lobe, (du) lobst, (er) lobt

Raum

Die Sprechsituation findet notwendigerweise in einem Raum statt, den der Sprecher von seinem Standpunkt aus sieht. Deswegen verortet er Gegenstände in erster Linie nach solchen Kriterien wie ob sie in der Sprechsituation sind oder nicht, und positivenfalls, ob sie sich in seiner Nähe befinden. Solche lokale Deixis leisten die deutschen Demonstrativadverbien in .

.hier, dort; da

Hier bedeutet “an dem Ort, der die Position des Sprechers umfaßt”; dort bedeutet “an einem Ort außerhalb der Sprechsituation”.2 Außerhalb dieser binären Opposition steht das unspezifische da, das mit beiden Alternativen verträglich ist.

Neben diesen Adverbien gibt es auch Demonstrativpronomina, also Demonstrativa, die nicht (wie die in ) auf Orte, sondern auf Gegenstände verweisen. Im Deutschen sind das die Formen in .

.dieser, jener; dér

Die semantischen Merkmale entsprechen denen der drei Demonstrativa von .

Während im Deutschen nur der genannte binäre Unterschied gemacht wird, gehen viele Sprachen weiter und unterscheiden innerhalb der Demonstration in der Sprechsituation noch zwischen Befindlichkeit beim Sprecher und Befindlichkeit beim Hörer. So funktionieren die lateinischen Demonstrativadverbien und -pronomina in :

.a.hic – istic – illic
Lat hier bei mir – da bei dir – an jenem Ort
b.hic – iste – ille
der bei mir – der bei dir – der außerhalb der Sprechsituation

In solchen Sprachen sind also die Paradigmen der Demonstrativa in reinlicher Entsprechung zum Paradigma der Personalia strukturiert.

Zeit

Da der Sprechakt notwendigerweise zu einem Zeitpunkt stattfindet, ist auch dieser ein natürlicher, weil ständig verfügbarer Bezugspunkt für die zeitliche Verortung des Gemeinten. Daher ist Tempus eine deiktische Kategorie. Lateinisch weist auch hier wieder eine ternäre Opposition auf, wie in zu sehen.

.laudo – laudabam – laudabo
Lat(ich) lobe – lobte – werde loben

So ist das lateinische Präsens das Tempus für eine Zeitspanne, welche den Sprechaktmoment einschließt, das Imperfekt dagegen für eine diesem Moment vorangegangene, das Futur für eine ihm folgende Zeitspanne. Im Deutschen hingegen hat man wieder eine binäre Opposition, illustriert durch .

.arbeite – arbeitete

Das deutsche Präteritum bezieht sich auf Zeit, die vor dem Sprechaktmoment liegt, das Präsens auf Zeit, die das nicht tut. (Das sog. Futur steht außerhalb dieser Opposition.)

Temporale Deixis findet nicht nur im Tempus, sondern, ähnlich wie Raumdeixis, auch in Adverbien statt.

.jetzt – damals – bald

So bedeutet jetzt “zu einer den Sprechaktmoment einschließenden Zeit”, während damals und bald auf davor bzw. danach liegende Zeitpunkte verweisen. ( ist allerdings kein Paradigma.)

Origo

Die hier aufgeführten sind die wichtigsten deiktischen Kategorien. Daneben gibt es andere wie die soziale und die textuelle Deixis. Das Zentrum jeglicher Deixis und aller deiktischen Systeme ist jedenfalls der Sprecher. ‘Ich’ ist derjenige, der ich sagt; ‘hier’ ist, wo der Sprecher steht, und ‘jetzt’ ist gerade dann, wenn der Sprecher es sagt. Von diesem Zentrum aus bestimmt sich alsdann, wer ‘du’, wo ‘dort’ und wann ‘damals’ ist.

Folglich wechselt die gesamte deiktische Referenz bei Sprecherwechsel, also wenn der bisherige Hörer spricht. Dieselbe Person, die bisher ‘du’ war, ist dann ‘ich’; was ‘jetzt’ war, wird ‘vorhin’, usw. Der Sprecher mit dem Ort, den er besetzt, und dem Zeitpunkt, zu dem er spricht, konstituiert also den Urspung, lat. die Origo, der gesamten Deixis. Deixis ist egozentrisch.


1 Man kann das leicht ausprobieren, indem man jemanden, der bei einem Gespräch anwesend ist, mit einem Ausdruck der dritten Person, z.B. er, bezeichnet. Er wird dadurch aus dem Gespräch ausgeschlossen.

2 Daraus folgt übrigens, daß dt. hier und dort nicht komplementär sind. Sie sind beide Spezialfälle von da. Und für den Raum, den hier und dort freilassen, nämlich den Raum, in dem der Hörer steht, tritt dann dieses unspezifische Demonstrativ ein.