Lexikalischer Wandel ist Veränderung des lexikalischen Bestandes durch Neuaufnahme, Verlust oder Umstrukturierung von Lexemen.

Neologie

Neologie ist lexikalische Innovation, also die Aufnahme neuer Wörter (Neologismen) ins Lexikon. Dafür hat die Sprachgemeinschaft drei Möglichkeiten:

  1. Wortbildung
    1. spontane Wortbildung
    2. Lehnübersetzung
  2. Urschöpfung
  3. Entlehnung

In jeder Sprache ist es möglich, den Wortschatz durch (spontane) Wortbildung zu erweitern. Die Wortwarte meldet am 29.10.2008 u.a. folgende Neologismen: Billigbündnis, Lernpartnerbörse, Manipulativität. An den Beispielen kann man auch erkennen, welche Kompositions- und Derivationsmuster zu der Zeit produktiv sind.

Man kann die Wortbildung auch aktivieren, um ein Wort einer anderen Sprache nachzubilden. Z.B. sagt man in den meisten Sprachen der Welt etwas wie Television, aber auf Deutsch heißt es Fernsehen. Die Vorlage ist ein Kompositum aus dem Konfix tele “fern” und dem Substantivstamm Vision “Sehen”. Das entsprechende Kompositionsmuster existiert im Deutschen, so daß die Struktur der Vorlage einschließlich ihrer Bestandteile nachgebildet werden kann. Die Operation heißt Lehnübersetzung (frz. und engl. calque). Wenn Lehnübersetzungen gut gemacht sind, sieht man ihnen das fremdsprachliche Vorbild nicht an. Dt. Gewissen z.B. ist eine bereits zu althochdeutscher Zeit vorgenommene Lehnübersetzung von lat. conscientia.

Urschöpfung (auch Fabrikation) ist die Schaffung eines Wortes mit neuem monomorphematischen Significans. Das Wort hat per definitionem keine Etymologie. Der Vorgang kommt bei Appellativa nicht alle Tage vor; Gas ist ein Beispiel aus der Mitte des 17. Jh. Bei Warenbezeichnungen dagegen ist Urschöpfung häufig; Beispiele aus dem 20. Jh. sind Kodak und Pril. Der Terminus Urschöpfung erinnert übrigens daran, daß beim Ursprung der menschlichen Sprache dieses schlechterdings die einzige Möglichkeit war, an Wörter zu kommen.

Viele Bestandteile und Eigenschaften einer Sprache können durch Entlehnung in eine andere Sprache gelangen, aber am häufigsten sind es doch Wörter. Aus einer anderen Sprache entlehnte Wörter sind zunächst einmal Fremdwörter. Deutsche Beispiele aus dem 20. Jh. sind Maracuja (über das Portugiesische aus dem Tupi) und Cyberspace (aus dem Englischen). Fremdwörter passen normalerweise nicht ohne weiteres ins phonologische System der Empfängersprache. Die Sprecher können sie dann zu verschiedenen Graden an dieses System anpassen. Maracuja z.B. wird im Original auf der letzten, nach deutschen Regeln jedoch auf der vorletzten Silbe betont. Außerdem wendet man eine “spelling pronunciation” an, denn man spricht das <j> als [j], während es im Original [ʒ] ausgesprochen wird. Die Aussprache eines Fremdwortes in der Empfängersprache ist fast nie die der Gebersprache (das würde affektiert wirken), aber viele Fremdwörter behalten doch deutlich fremdsprachliche phonologische, insbesondere phonotaktische, Eigenschaften. Wird ein Fremdwort dann lexikalisiert, so kann es auf Dauer an den Sprachwandeln, insbesondere den Lautwandeln, teilnehmen, denen auch die einheimischen Wörter unterworfen sind. Dann wird es den Erbwörtern ähnlicher und ist schließlich nicht mehr von ihnen zu unterscheiden. Im Deutschen heißen ehemalige Fremdwörter, die nicht mehr als solche zu erkennen sind, Lehnwörter. Lateinische Lehnwörter sind z.B. Pforte, Karte, Ziegel, Zins. Zu diesen existieren auch Fremdwort-Pendants auf denselben lateinischen Basen, nämlich Portal, Charta, tektieren (“Gedrucktes überkleben”), Zensur. Ein Vergleich von Pforte und Ziegel mit ihren jüngeren Gegenstücken läßt erkennen, daß sie die hochdeutsche Lautverschiebung mitgemacht haben, also vor dem 5. Jh. ins Deutsche gekommen sind.

Mit der verbreiteten Ansicht, ein Fremdwort würde deswegen in eine Sprache eingeführt, weil man eine neue Sache zusammen mit einem ausländischen Wort dafür kennenlerne, hat es allermeist nichts auf sich. Seit dem 21. Jh. heißen die Fahrkarten der Deutschen Bahn Tickets und der Fahrkartenschalter Counter, wiewohl die Wörter Fahrkarte und Schalter schon hundert Jahre lang wohl etabliert waren. Fremdwörter benutzt man überwiegend deswegen, weil man an dem Prestige der Gebersprache teilhaben möchte.– Mehr zur Entlehnung im Kapitel über Areallinguistik.

Verlust

Ständig werden Wörter obsolet (ungebräuchlich). Manchmal liegt es daran, daß das Denotat außer Gebrauch kommt. Die meisten kennen das Wort Kemenate nicht, und zwar deswegen, weil wir seit einigen Jahrhunderten keine Kemenaten mehr haben. Andere Wörter verschwinden, obwohl ihre Denotata fortexistieren, wie z.B. Kegel “uneheliches Kind” (kommt nur noch vor in mit Kind und Kegel; und selbst da hat es kaum die eigentliche Bedeutung).

Der mit Abstand stärkste Faktor bei der Ausrangierung von Wörtern ist das Tandem ‘Tabu und Euphemismus’. Ein Wort, das tabu ist, wird durch einen Euphemismus (wörtl. “Wohlrednerei”) ersetzt. Ein immerwährendes Tabu und daher auch konstantes Objekt für Euphemismen ist z.B. das Scheißhaus. Ein relativ alter Euphemismus ist Klosett (wörtl. “abgeschlossener Raum”), und ebenso Lokus (lateinisch für “Ort”). Dasselbe leistet die deutsche Umschreibung Örtchen. Am distinguiertesten klingt aber immer noch ein französisches Fremdwort, Toilette (wörtl. “verhangener Raum”).

Seit Ende des 20. Jh. ist ein weiterer Motor ständiger Euphemie dazugekommen, die politische Korrektheit. Dies ist eine Ideologie, deren Apostel bestimmte Wörter für tabu erklären, darüber wachen, daß andere sie nicht mehr verwenden, und dafür neue Wörter dekretieren. Auf diese Weise wurde der Neger in den U.S.A. schon diverse Male umbenannt: negro, black, colored, African, African American; und ebenso der Krüppel: handicapped, disabled, differently abled, physically challenged. Sprachlich sehr gelungen und für die Betroffenen hilfreich ist auch das deutsche mobilitätseingeschränkt. Wie man sieht, kommt die Euphemie niemals ans Ende, denn das Herumoperieren an Wörtern hilft nichts, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse und die zugehörigen Einstellungen zu den Denotata unverändert bleiben.

Umstrukturierung

Die rein semantische Umstrukturierung von Lexemen wird im Abschnitt semantischer Wandel behandelt. Hier geht es um ihre morphologische Struktur. Die Alternative lautet: Einführung neuer Struktur oder Verlust vorhandener Struktur.

Gelegentlich sehen sich die Sprecher mit einem Wort konfrontiert, welches erstens phonotaktisch komplex (u.a. mehrsilbig) und zweitens semantisch ziemlich spezifisch ist, welches aber nichtsdestoweniger mit synchroner Wortbildung nicht analysierbar ist. In solchen Fällen entsteht das Bedürfnis, morphologische Struktur in ein Wort einzuführen, gleichgültig ob diese seiner Herkunft entspricht. Das Brötchen mit Hackbrateneinlage wurde auf Englisch – wohl weil es aus Hamburg zu kommen schien – hamburger genannt. Die ursprüngliche morphologische Struktur hamburg-er wurde jedoch ignoriert, und stattdessen schien das Wort das Morphem ham zu enthalten, das auch einigermaßen zum realen Inhalt paßte. Daher nannte man fortan Brötchen mit anderen Füllungen cheeseburger, fishburger usw. und gewann auf diese Weise ein weiteres, diesmal neues, Morphem, nämlich burger “belegtes Brötchen”.

Der Vorgang nennt sich Volksetymologie, eben weil die in der Sprachgemeinschaft gefühlte Struktur des Wortes seiner historischen Etymologie nicht entspricht. Zwei ehrwürdige deutsche Beispiele sind die folgenden: Der Maulwurf heißt offensichtlich deswegen so, weil er mit dem Maul etwas (nämlich Erde) wirft. Er hieß allerdings noch im Mittelhochdeutschen moltwerf “Erdwerfer” (eine Form, die übrigens ihrerseits auf Volksetymologie beruht). Das Lexem molt “Erde” war jedoch bereits im Mittelhochdeutschen nicht mehr geläufig, so daß man im Neuhochdeutschen den Ausdruck im noch heute verständlichen Sinne umdeutete und umformte. Das andere Beispiel ist der Seehund, auch er im zeitgenössischen Deutschen klärlich motiviert als eine Robbe, die zwar in der See lebt, jedoch Ähnlichkeit mit einem Hund hat. Auf Englisch heißt er seal und auch auf Mittelhochdeutsch noch sel(eh). In einem ersten Schritt wurde dieser ererbte, aber opake Stamm mit Hund komponiert, um wenigstens einen Anknüpfungspunkt zu schaffen. Die Form Seelhund ist noch im 17. Jh. belegt; aber bereits Ende des 15. Jh. sind die ersten Umdeutungen zum Seehund belegt.

Volksetymologie ist eine kreative Operation, denn sie schafft Struktur da, wo keine erkennbar ist. Die Sprecher wollen analytischen Zugriff nehmen auf etwas, worauf sie bislang nur holistisch zugreifen konnten, und schaffen sich die Voraussetzungen dafür. Dieses Bedürfnis ist jedoch nicht alltäglich; viel häufiger wird umgekehrt ein ganzheitlicher Zugriff möglich auf etwas, was bislang analysiert wurde. Daher ist Volksetymologie vergleichsweise selten, während der Verlust von Struktur alltäglich ist. Er ist eine Folge der Lexikalisierung: die ursprüngliche Motivation eines Ausdrucks interessiert nicht mehr. Z.B. sind im Lateinischen die Zahlwörter von 11 an aufwärts morphologisch ziemlich regelmäßig zusammengesetzt aus dem Einer und dem Wort für 10 (decem): undecim, duodecim, tredecim “11, 12, 13”. Im Französischen wurde daraus onze, douze, treize: Diese Wörter haben zwar ein Suffix -ze gemeinsam. Aber erstens hat dieses mit dem Wort für 10 (dix) nichts zu tun. Und zweitens bleiben nach Abzug dieses Suffixes die Morphe /õ/, /du/, /trɛ/, die nur mühsam auf die Einerzahlwörter /ɛ̃/, /dø/, /trwa/ bezogen werden können, so daß auch das Suffix wieder fraglich wird. Hier ist also morphologische Struktur verlorengegangen.

Während hier mehr oder minder unregelmäßiger phonologischer Wandel zu Erosion des Significans führt, gibt es noch einen anderen Weg, auf morphologische Struktur zu verzichten, nämlich die Kürzung (engl. clipping). Beispiele sind Auto aus Automobil (gräkolat. “Selbstbeweger”) und Bus aus Omnibus (lat. “für alle”). Hier kommt es offensichtlich darauf an, über ein kürzeres Wort zu verfügen; ob die traditionelle Wortform eine morphologische Struktur hat, ist dabei gleichgültig. Im Falle der beiden Beispiele entspricht allerdings die ursprüngliche Struktur kaum einem gängigen Muster. Die Reduktion, die typischerweise mit Lexikalisierung einhergeht, ist ein im Sprachleben geradezu automatischer Vorgang; und die Volksetymologie ist, so gesehen, ein Schwimmen gegen den Strom.