Da Sprache den obersten Zielen der Kognition und Kommunikation dient, tritt ihr Wesen weniger in monologischen Texten – Reden, Erzählungen, Webskripten usw. –, als im Gespräch zutage.1 Ein Gespräch ist eine gemeinsame sprachliche Aktivität, die auf den obersten Ebenen nicht nach Regeln des Sprachsystems, sondern nach Konventionen der Kommunikation organisiert ist. Diese variieren natürlich zwischen den Sprachgemeinschaften und auch nach den Interaktionstypen. Z.B. unterscheidet der Parameter der Formalität ungezwungenes Geplauder (etwa im Café) von hochgradig ritualisiertem Austausch gestanzter Wendungen (etwa im Beichtstuhl). Vieles allerdings ist allgemeingültig.

In einem Gespräch wechselt die Rolle des Sprechers unter den Teilnehmern. Das ist deswegen so, weil Kommunikation unter Menschen – von bestimmten Ausnahmen wie Sprechen im Chor abgesehen – nicht funktioniert, wenn mehrere gleichzeitig sprechen. (Die Konventionen, unter welchen Umständen und bis zu welchem Grade das evtl. doch zugelassen wird, differieren ihrerseits in interessanter Weise.) Wenn einer, der bisher Zuhörer war, die Rolle des Sprechers übernimmt, ist er am Zug. Er hat dann das Rederecht, und die anderen Teilnehmer haben es derweil nicht. Das schließt – wiederum abhängig von verschiedenen Bedingungen – nicht grundsätzlich aus, daß sie kurze Einwürfe machen. Aber derjenige, der das Rederecht hat, hat das Recht, das was er sagen wollte, zu Ende zu bringen. Es besteht die Erwartung, daß er signalisiert, wenn er fertig ist, und das Rederecht danach abgibt.

Das Sprechereignis, welches die Basiseinheit in der Gesprächsanalyse (oder Konversationsanalyse) abgibt, ist daher der (Rede-)Zug (engl. turn). Es ist eine Äußerung eines Teilnehmers von dem Moment, wo das Rederecht an ihn übergeht, bis zu dem Moment, wo es an einen anderen Teilnehmer übergeht. Der Zug muß mit Bezug auf das Rederecht definiert werden; er kann aus dem angedeuteten Grunde nicht definiert werden als ein Abschnitt, während dessen ununterbrochen dieselbe Person spricht, oder als ein von Pausen begrenzter Abschnitt.

Ebenso wie der Zug eine Kategorie gesprochener Sprache ist, sind es auch dessen Konstituenten. Z.B. kann man eine Äußerung als durch Pausen begrenzten Redebeitrag eines Sprechers und somit als größte Konstituente eines Zugs konzipieren. Die Äußerung wiederum besteht aus Phrasierungseinheiten, das sind Äußerungsabschnitte, die durch eine einzige Intonationskurve zusammengehalten werden. Solchen Äußerungseinheiten können im Einzelfall syntaktische Einheiten wie ‘Satz’ oder ‘Klause’ entsprechen. Es ist aber sowohl theoretisch als auch methodisch wichtig, solche Korrespondenzen nicht vorauszusetzen. Es ist z.B. durchaus möglich, daß syntaktische Einheiten, genetisch betrachtet, als Formalisierungen solcher Äußerungseinheiten entstanden sind.

Je nach Genre gibt es Muster in den Interaktionssequenzen. Die kleinste davon ist das Adjazenzpaar. Oft – z.B. in einer Prüfung, einem Interview oder beim Einholen von Wegbeschreibungen – besteht ein Gespräch über eine längere Strecke aus Paaren von Frage und Antwort. Bei der Organisation der Arbeit im Team dagegen kann es ein regelmäßiger Wechsel zwischen einem Befehl und einer Rückmeldung sein (“Alle Maschinen startklar machen!” – “Maschinen startklar.”). In solchen Gesprächssituationen ist der Sprecherwechsel (engl. turn taking) in hohem Maße geregelt und muß nicht ausgehandelt werden. Am Stammtisch und in politischen Diskussionen dagegen findet üblicherweise ein Kampf ums Rederecht statt. Und auch das Bemühen, das Rederecht zu erlangen, unterliegt Konventionen. In unseren Breiten ist es z.B. üblich, den Redner intensiv mit Augenkontakt und sei es bestätigenden, sei es widersprechenden Gesten und Interjektionen zu begleiten und wiederholt zum Reden anzusetzen. Dann kann man erwarten, daß der Sprecher einem das Rederecht überläßt. Und andererseits gibt es Konventionen für die Abgabe des Rederechts. Dazu gehören ein terminaler Intonationsverlauf, eine Pause und ein auffordernder Blick derart, daß der Partner die Pause nicht als Wortfindungsschwierigkeit mißverstehen kann.

Eine kommunikative Aktivität hat ein Anfang und ein Ende. Und auch für deren Markierung, genannt Eröffnung (engl. opening) und Abschluß (engl. closing), gibt es Konventionen. Sehr klar ist das z.B. bei Telefonaten. Es ist in relativ engen Grenzen geregelt, wer, sobald die technische Verbindung steht, zuerst spricht und was er sagt, und was darauf der andere sagt. Ebenso ist es, wenn das Gespräch zu Ende kommt. Je nach Formalität geht die Bandbreite von Auf Wiederhören. bis zu dreimaligem Ciao! auf beiden Seiten. Das Telefonat ist ein Fall eines Gesprächs, das mit der Begrüßung beginnt und mit der Verabschiedung endet. Daneben gibt es natürlich Fälle, wo die Eröffnung und Beendigung eines Gesprächs davon unabhängig sind, z.B. beim Partygeplauder.

Versprecher werden in der Lektion über Psycholinguistik als Fälle pathologischer Redeerzeugung des Einzelnen behandelt. In der Konversationsanalyse dagegen sind sie nur eine Art von Problem in der Kommunikation, dessen Lösung durchaus Interaktion involvieren kann. Wenn sich einer verspricht, kann ihn z.B. der andere korrigieren; und das ist nicht notwendigerweise unhöflich, sondern signalisiert, daß der andere trotzdem verstanden hat, also aufmerksam zuhört und konstruktiv ist. Allgemeiner kann der Sprecher mit der Formulierung des zu Sagenden in Schwierigkeiten geraten, z.B. dadurch, daß er den Satz nicht so wie begonnen zu Ende führen kann. Bei allen Störungen der Kommunikation kann es zu Reparaturen kommen. Manchmal korrigiert sich der Sprecher alleine. Oft ist die Reparatur auch interaktiv, sei es, daß der Hörer sein Nichtverstehen artikuliert, sei es, daß er dem Sprecher einhilft.

Viele von den Eigenschaften eines Gesprächs, die bisher genannt worden sind, figurieren in schriftlichen Texten typischerweise überhaupt nicht. Dazu gehören falsche Ansätze (engl. false starts), Anakoluthe, Pausen, die Prosodie der Äußerung, parasprachliche und nichtsprachliche Signale. Um einen Gesprächsablauf empirisch zu untersuchen und zu verstehen, braucht man auch Information über dessen Attemporation, also z.B. darüber, ob der Zweite erst nach einer Pause oder schon während der Rede des Ersten einsetzt. Da man für die meisten Zwecke Sprache erst schriftlich repräsentieren muß, ehe man sie wissenschaftlich untersuchen kann, muß man dafür sorgen, daß solche Äußerungsinformation bei der Verschriftlichung eines Gesprächs nicht verlorengeht. Deshalb hat die Konversationsanalyse eigene Systeme der Transkription entwickelt, die z.B. den Stimmverlauf, die Länge der Pausen und parasprachliche Äußerungen wie Lachen neben der segmentalen Information repräsentieren und die Attemporation der Sprecherwechsel ähnlich dem Zusammenspiel der Stimmen in einer Partitur darstellen.

Da es der Konversationsanalyse um die Untersuchung in einer Sprachgemeinschaft natürlich vorkommender Kommunikationsereignisse geht, hat sie auch eine Entsprechung zur Sprechakttheorie. Die Sprechereignisse auf den verschiedenen Komplexitätsebenen – von der Bundestagsdebatte über den Redebeitrag des Abgeordneten bis hinunter zur Reparatur eines Fehlers oder zum Zwischenruf – sind innerhalb einer Sprachgemeinschaft immer Vorkommen von Typen wie eben den soeben genannten. Diese sind nach den Konventionen dieser Gemeinschaft kategorisiert, z.B. als seriöse vs. spielerische Kommunikation, Poesie vs. Prosa, Plädoyer oder Urteilsspruch usw. Die Ethnographie der Kommunikation (engl. ethnography of speaking) nimmt eine emische Perspektive auf alle solche Ereignisse, d.h. sie stellt fest, als was sie jeweils in ihrer Gemeinschaft gelten und wie sie kategorisiert sind.


1 Dies ist ein erhebliches Problem für jegliche empirisch arbeitende Linguistik. Einfacher als mündliche Rede ist ein schriftlich formulierter Text zu analysieren, und der ist monologisch. Und einfacher als ein Dialog oder gar ein Polylog ist ein Monolog zu analysieren. Das ist der einfache Grund dafür, daß es eine linguistische Disziplin, die sich der Analyse von Gesprächen widmet, erst seit etwa 1970 gibt.