1. Begriffliche Voraussetzungen

Mit ‘Gemeinromanisch’ bezeichnet man eine Stufe der Entwicklung der romanischen Sprachen, die ihnen noch allen gemeinsam, jedoch vom Lateinischen verschieden ist. Eine solche Stufe ist durch Rekonstruktion aus den romanischen Sprachen zu postulieren; sie raumzeitlich zu lokalisieren ist dagegen problematisch.

Die folgende Tabelle versucht, die gemeinromanische Sprachgeschichte zu periodisieren:

Wie man sieht, ist diese Periodisierung von derjenigen des Klassischen Lateins unabhängig.

Das Vulgärlatein steht aus methodischen Gründen stellvertretend für die Sprache, auf welche die romanischen Sprachen zurückgehen. Die Bezeichnung geht auf das ital. latino volgare “Volkslatein” zurück; die pejorative Konnotation war ursprünglich nicht beabsichtigt und ist in der Tat fehl am Platze. Es geht im Prinzip um die gesprochene Sprache, unter Einschluß des gesamten Kontinuums der Register, aber wohl unter Ausschluß der Extreme, also des gehobensten Stils einerseits und des vulgärsten Slangs andererseits. Das erstere Extrem wird ausgeschlossen, weil es von klassischem Latein kaum zu unterscheiden ist. Das letztere deswegen, weil es fast keine Dokumente darüber gibt. Die gesprochene Sprache in diesem Sinne ist allerdings nur aus gewissen schriftlichen Quellen erschließbar, deren Sprache eben Vulgärlatein heißt.

2. Vulgärlatein

Die gesamte lateinische Sprache wies wie jede Sprache Variation in allen Dimensionen auf, also diatopische (dialektale), diastratische (soziolinguistische) und diachrone Variation. Das Klassische Latein deckt nur eine Nische in diesem mehrdimensionalen Raum ab; der ganze Rest, mit den zuvor genannten Ausnahmen, wird Vulgärlatein genannt. Daraus folgt, daß das Vulgärlatein in jeder Hinsicht viel heterogener als das Klassische Latein ist.

Die gesprochene lateinische Sprache ist naturgemäß selbst nicht erhalten. Für das Vulgärlatein verfügt man über die oben erläuterten Sorten von Evidenz. Es handelt sich einerseits um Texte, die in ihrem Stil bzw. Register der gesprochenen Sprache nahe stehen, andererseits um metasprachliche Zeugnisse über die gesprochene Sprache.

2.1. Texte zur Erschließung des gesprochenen Lateins und Vulgärlateins

Eine ziemlich umfassende Liste relevanter Texte bieten Iliescu & Slusanski 1991. Hier folgen die wichtigsten davon:


Objektsprachliche Quellen:

2.1.1. Inschriften

Verfluchungstäfelchen (ca. 400 v.-400 n. Ch.); Grabinschriften; (pompeian.) Wandinschriften

2.1.2. Plautus, Komödien

(um 200 v. Ch.)

2.1.3. Cicero, Briefe

ca. 780 Briefe ad Atticum, ad familiares, ad Quintum fr. (Mitte des 1. Jh. v. Ch.)

2.1.4. Petronius, Satyrica

(Mitte des 1. Jh. n. Ch.)

2.1.5. Claudius Terentianus

Briefe (auf Papyrus; um 120 n. Ch.)

2.1.6. Itala = Vetus Latina

Erste lat. Bibelübersetzung kurz vor der autoritativen Vulgata des Hieronymus (noch im 2. Jh. begonnen).

2.1.7. Mulomedicina Chironis

Veterinärmedizinische Abhandlung, aus dem Griech. übersetzt (Ende des 4. Jh.).

2.1.8. Peregrinatio Aetheriae ad loca sancta

(um 400 n.Ch.). Pilgerreise einer Äbtissin aus dem Westen ins Heilige Land.

2.1.9. Marcellus Empiricus, De medicamentis

2.1.10. Anthimus, De observatione ciborum

(ca. 520). Kochbuch für Theoderich I, König der Franken 511-533.


Metasprachliche Quellen:

2.1.11. Appendix Probi

Appendix zu den Instituta artium des M. Valerius Probus (zwischen 3. u. 6. Jh.). Autor ist ein Anonymus (< 8. Jh.). Regelbuch, das in 227 Paaren richtige und falsche Formen bzw. Schreibweisen aufzählt.

2.1.12. Consentius, De barbarismis et metaplasmis (ca. 5. Jh.).

Abhandlung eines Grammatikers darüber, wie man nicht schreiben soll.

2.2. Rekonstruktion aus den romanischen Sprachen

Das Vulgärlatein läßt sich auch aus den romanischen Sprachen rekonstruieren. Z.B.:

ital. carogna, frz. charogne, span. carroña u. a. "Aas" lat. *caronia;

ital. faina, altfrz. faine, port. fuinha u.a. "Buchmarder" lat. *fagina

usw.

Gelegentlich sind solche rekonstruierten Wörter auch nachträglich in den lat. Quellen aufgetaucht.

2.3. Gesprochenes Latein

Die klassischen Schriftsteller hatten einen gewissen Sprachzustand, der synchron, syntopisch und synstratisch homogen war, normiert. Dieses klassische Latein stellte fortan einen unveränderlichen Standard dar, war also von der normalen Sprachentwicklung weitgehend ausgenommen. Es bildete die Norm der Schriftsprache, d.h. eine Sprachform, deren man sich in einer bestimmten Kultur (der römischen) bedienen mußte, wenn man schreiben wollte.

Das Latein als gesprochene Sprache entwickelte sich unterdessen weiter, wie jede andere Sprache auch. Das klassische Latein ist nicht eine Stufe auf dem Weg des gesprochenen Lateins vom archaischen Latein zum Gemeinromanischen, sondern eine stilisierte literarische Form, die so nie gesprochen wurde. Daher findet sich Kontinuität in gewissen Zügen von Plautus zu Petronius, die im klassischen Latein nicht auftreten. Z.B. die Behandlung des Nom.-s und Akk.-m; ad statt Dativ.

Ein gewisser Abstand zwischen gesprochener und schriftlicher Sprache besteht in allen Gesellschaften. Das schriftliche Medium nicht nur orthographisch, sondern auf allen Ebenen zu meistern, erfordert immer eine spezielle Ausbildung (d.h. i.a. Schulbildung). Im Falle der lateinischen Sprache bedeutete die Herausbildung des klassischen Lateins nicht eine Festschreibung eines natürlich entstandenen Sprachzustandes, sondern eine Bewegung weg von der zeitgenössischen gesprochenen Sprache. Diese selbst entwickelte sich ihrerseits fort, während das klassische Latein i.w. statisch blieb. Daher wurde der Abstand immer größer, und es entstand die Situation der Diglossie. D.h. niemand, der vom Schriftlatein bloß das Alphabet beherrschte, konnte sich den Anschein geben, das schriftliche Medium zu beherrschen, weder in Texterzeugung noch in Textverstehen. Wenn ein Ungebildeter schrieb, so flossen ihm, je nach Bildungsstand, entweder Elemente der gesprochenen Sprache ("Vulgarismen") ein, oder er flocht umgekehrt ihm vom Hörensagen bekannte Elemente der Schriftsprache in sein Produkt. Das Ergebnis ist das sog. Vulgärlatein. Es ist nicht, wie das klassische Latein, eine einheitliche Sprachstufe, sondern Sammelbezeichnung für Formen des Lateins, die in Mischprodukten der beschriebenen Art erscheinen. Es ist fast ausschließlich in primären Dokumenten überliefert, da solche ungebildeten Produkte naturgemäß nicht für wert befunden wurden, (abgeschrieben und) überliefert zu werden. Vulgärlatein ist also nicht die gesprochene Sprache selbst; denn die ist notwendigerweise gar nicht überliefert. Allerdings stehen, je nach Bildungsstand und Ausdrucksabsicht des Verfassers bzw. Schreibers, verschiedene Dokumente der gesprochenen Sprache verschieden nahe.

Daher ist das Vulgärlatein unsere Quelle für die Form des Lateins, auf welche die romanischen Sprachen zurückgehen. Allerdings kommt methodisch erschwerend hinzu, daß man auch manchen text (Inschrift oder Papyrus) findet von Leuten, die der römischen Sprache überhaupt nicht hinreichend mächtig waren; z.B. menbra ad duus fratres "die Überreste der zwei Brüder" (CIL XIII 2483, aus Gallien).

Eine Annäherung der Schriftsprache an die gesprochene Sprache gibt es nur im sog. christlichen Latein (vor allem in der Vetus Latina, weniger in der Vulgata). Dies reichte jedoch offenbar zum Verständnis nicht aus.

Wie weit das gesprochene Latein dialektal differenziert war (afrikanisches, gallisches, hispanisches Latein?), geht aus den vulgärlateinischen Quellen nicht mit hinreichender Sicherheit hervor. Dies ist jedoch grundsätzlich anzunehmen, denn sobald die romanische Überlieferung anfängt, ist sie deutlich dialektal bzw. sprachlich differenziert.

2.4. Textprobe: Claudius Terentianus an seinen Vater Claudius Tiberianus

Einführung

In Ägypten breitet sich seit Alexander dem Großen das Griechische aus. Die Oberschicht spricht Griechisch. Griechische Papyri datieren vom 4. Jh. v.Ch. bis zum 6. Jh. n.Ch. Offizielle Dokumente wie der Stein von Rosette sind zweisprachig Ägyptisch-Griechisch. Seit Augustus kommt Latein dazu. Auch die lateinischen Papyri enden im 6. Jh. n.Ch. Es gibt mehrere 10.000 griechische, aber nur etwa 400 lateinische Papyri. Davon sind 30 Briefe - außerdem gibt es sieben Briefe auf Ostraka -, ein Gutteil davon von Claudius Terentianus.

Das folgende ist übernommen aus:

Lehmann, Christian 1988, "On the Latin of Claudius Terentianus. P. Mich. VIII, 467-472". Ruiz de Elvira, Antonio (ed.), Homenaje al profesor Lisardo Rubio Fernández. 2 partes. Madrid: Universidad Complutense, Facultad de Filología (Cuadernos de Filología Clásica, 20f); II:11-23.

Text

(P. Mich. VIII 471; Cavenaile 1958, Nr.254)

[9 Zeilen nicht lesbar]

Dico illi, da mi, di[c]o, a[e]s paucum; ibo, dico, ad amicos

patris mei. Item acu<m> lentiaminaque mi mandavit;

nullum assem mi dedit. Ego tamen <h>inc ebinde col-

lexi paucum aes ed ibi ad. uaroclum et .g[.]ivan

et emi pauca que e<x>pedivi. Si aequm tempus esset se exi-

turum Alexandrie s[i]lui[t]. Item non mi d[e]dit aes quam<quam>

aureum matri mee in vestimenta <dedit>. Hoc est, inquid,

quod pater tu<u>s mi mandavit. Quo tempus autem veni

omnia praefuerunt, et lana et <linum?>. Matrem meam au-

te<m> praegnatam imveni. Nil poterat facere. De<i>nde pos<t> pau-

cos dies parit, et non poterat mihi succurrere. Item litem

<h>abuit Ptolemes pater meu<s> sopera vestimenta mea, et fac-

tum est illi venire Alexandrie con tirones et me reli-

quid con matrem meam. Soli nihil poteramus facere,

absentia <illius> illim abit[u]ri. Mater mea <dicit>: spec[t]emus illum

dum venit et ven[i]o tequm Alexandrie et deduco te

usque ad nave<m>. Saturninus iam paratus erat exire

illa die qu[a]ndo tam magna lites factam est. Dico il-

li: veni interpone te si potes aiutare Ptolemaeo patri

meo. Non magis quravit me pro xylesphongium

sed su<u>m negotium et circa res suas. Attonitus

exiendo dico illi: da m[i] paucum aes, ut possim venire

con rebus meis Alexandrie, im inpendia. Negabit se

<h>abiturum. Veni, dicet, Alexandrie et dabo t[i]bi. Ego

non abivi. Mater m<e>a n<on haben>s assem vendedi<t> lentiamina

[u]t veniam Alexandrie.

Verso:

Claudio Tiberiano [pat]r[i a Cla]ud[io] Teren[tiano


/10/ Ich sage ihm [wohl dem untigen Saturninus]: "Gib mir", sage ich, "ein bißchen Geld; ich will", sage ich, "zu den Freunden meines Vaters gehen." Er hat mir auch eine Nadel und Leinenzeug aufgetragen/übergeben; keinen Heller hat er mir gegeben. Ich habe trotzdem von hier und dort ein bißchen Geld gesammelt und bin zu ... gegangen und habe ein paar Sachen gekauft, die ich versandt habe. Daß er, wenn die Zeit passend wäre, nach Alexandria gehen würde, hat er verschwiegen. Er hat mir auch kein Geld gegeben, obwohl
/15/ er meiner [Schwieger] Mutter einen Goldtaler für Kleidung gab. "Das ist es", sagte er, "was dein [Schwieger]Vater mir geschickt hat." Zu der Zeit aber, wo ich kam, war alles vorhanden, sowohl Wolle als auch Flachs. Meine [Schwieger]Mutter aber fand ich schwanger. Sie konnte nichts tun. Wenige Tage später
/20/ kommt sie nieder, und sie konnte mir nicht beistehen. Auch hatte mein [Schwieger]Vater Ptolemaeus einen Streit über meine Kleidung, und es ist ihm befohlen worden, nach Alexandria zu kommen mit den Rekruten, und er ließ mich mit meiner [Schwieger]Mutter zurück. Allein konnten wir nichts tun, als wir in seiner Abwesenheit von da weggehen wollten. Meine [Schwieger]Mutter sagt: "Warten wir auf ihn,
/25/ bis er kommt, und ich komme mit dir nach Alexandria und führe dich zu dem Schiff." Saturninus war schon fertig aufzubrechen an jenem Tage, als ein so großer Streit entstanden ist. Ich sage zu ihm: "Komm, setz dich ein, wenn du dem Ptolemaeus, meinem [Schwieger]Vater, helfen kannst." Er kümmerte sich nicht mehr um mich als für ein Holzschwämmchen,
/30/ sondern um das Seine und seine Sachen. Bestürzt sage ich ihm, wie er geht: "Gib mir ein bißchen Geld, damit ich mit meinen Sachen nach Alexandria kommen kann, gegen Zinsen." Er sagte, er habe keins. "Komm", sagt er, " nach Alexandria, und ich werde dir was geben." Ich bin nicht gegangen. Meine [Schwieger]Mutter, da sie keinen Heller hatte, verkaufte das Leinenzeug
/35/ damit ich nach Alexandria kommen kann.

An den Vater Claudius Tiberianus von Claudius Terentianus

Kommentar:

/10/ ille für is. Vgl. Z.22, 31.

acu: Finale -m fehlen zu häufig, als daß es Schreibfehler sein könnten. Vgl. Z.26 nave etc.

lentiamina: Verwechslung von offenem i und e.

assum: Überführung in häufigste Deklination.

inc: die meisten h fehlen, sind also nicht editorisch zu ergänzen.

ebinde: verschrieben für ed inde.

collexi: collegi.

ibi: ii. Vgl. Z.32 negabit und Z.34 abivi.

uaroclum etc.: unklar.

que: quae.

/15/ Alexandrie: irgendein direktionaler Kasus.

tus: mit langem u zu lesen; vgl. Z.30 sum.

tempus: entweder Hyperkorrektion, oder das finale s wurde nicht gesprochen.

praegnatam: vgl. assum.

pos: vgl. span. pues.

/20/ parit: wohl Präsens für Futur, wie Z.33 habiturum für habere.

meu: vgl. port. meu.

sopera: aus super und supra kontaminiert.

con tirones etc.: von Präpositionen regierte Kasus unbekannt.

illim: unverstärktes Pendant zu illinc, viel seltener als dieses.

lites: Regularisierung.

factam: Hyperkorrektion.

aiutare: Italienisch. Überführung unregelmäßiger Verben in regelmäßige durch Intensivableitung.

exiendo: roman. Gerundium: "beim Gehen".

negabit: s.u. zur Verwechslung von u und b.

dicet, vendedit: wie lentiamina.

vendedi: das finale t wurde nicht gesprochen. Vgl. s[i]lui Z.15.

3. Entwicklung des Gemeinromanischen

Die romanischen Sprachen, wiewohl auf Italienisch gelegentlich lingue neolatine genannt, gehen nicht auf das klassische Latein zurück, sondern auf ein nicht bezeugtes Gemeinromanisch bzw. letztlich das Vulgärlatein.

Die Frage, von wann an nicht mehr Lateinisch, sondern Romanisch gesprochen wurde, ist in der eingangs vorgenommenen Periodisierung mit “300 n.Ch.” beantwortet worden. Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Die Frage läßt sich nicht genau beantworten, da unsere Quellen schriftlich sind und die Schriftsprache noch lange Latein war, nachdem längst Romanisch gesprochen wurde. Die ersten historischen Zeugnisse der romanischen Sprachen bilden also nur einen Terminus ante quem.

Als Zeugnisse der gesprochenen Sprache haben wir nur einerseits das Vulgärlatein, das sich spätestens seit der Zeitenwende in Schriftdokumenten bemerkbar macht, und andererseits metasprachliche Zeugnisse über das Auseinanderklaffen der gesprochenen und der Schriftsprache. St. Hieronymus sagt als Vorwort zu seiner Bibelübersetzung (385-404), der später so genannten Vulgata:

Volo pro legentis facilitate abuti sermone vulgato.
“Zugunsten des Lesers will ich mich der Volkssprache bedienen.”

Diese Fassung der Bibel hat in der Tat vulgärlateinische Züge (allerdings weniger als die (unautorisierte) Vetus Latina). St. Augustinus schreibt um dieselbe Zeit (In Psalm. 138, 20):

Melius est nos reprehendant grammatici quam non intellegant populi.
“Besser, daß uns die Grammatiker tadeln, als daß die Völker uns nicht verstehen.”

Dies zeigt, daß um 400 Latein nur noch von Klerikern, Juristen und Angehörigen der Oberklasse, die sich eine Erziehung leisten konnte, beherrscht wurde.

In den folgenden Jahrhunderten entwickelte die gesprochene Sprache sich weiter, und zwar i.w. ohne Kontakt zur Schriftsprache, da ja nicht mehr als 5% der Bevölkerung literat waren. Die Schriftsprache dagegen, das Klassische Latein, entwickelte sich praktisch nicht weiter, denn sie wurde nur in der Form akzeptiert, in der die klassischen Autoren sie kodifiziert hatten. Dadurch wurde der Abstand zwischen der Schrift- und der Umgangssprache immer größer, in Form einer einseitig geöffneten Schere. Schließlich war er so groß, daß Schriftsprache und Umgangssprache nicht mehr als Varianten einer Sprache empfunden wurden. Aber erst das ökumenische Konzil von Tours erkannte 813 öffentlich an, daß nicht mehr auf Lateinisch gepredigt werden konnte, und wies die Pfarrer an, in den Predigten zu benutzen

rusticam romanam linguam aut theotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur.
“die ländliche romanische oder die deutsche Sprache, damit alle besser verstehen können, was gesagt wird.”
(Mit der “ländlichen romanischen Sprache” dürfte vor allem die französische gemeint gewesen sein.) Seitdem wurde also auf Italienisch, Französisch, Spanisch usw. gepredigt.

Die Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen geht evtl. auf lateinische Dialekte, auf verschiedene Substratsprachen und sicher nach dem Zerfall des römischen Reiches seit dem ausgehenden Altertum auf unabhängige Neuerungen in den verschiedenen Gebieten zurück.

4. Das gemeinromanische Sprachsystem

Die folgende Darstellung setzt, wie die meisten publizierten, das Lateinische voraus. Bei der Angabe lateinischer Vorformen für die romanischen Formen ist folgendes zu beachten: Verben werden im Infinitiv zitiert. Es ist meistens unproblematisch, dafür den lateinischen Infinitiv zu benutzen. Substantive dagegen werden nicht im Nominativ zitiert [wenn das im folgenden gelegentlich dennoch geschieht, ist es ein Fehler], und zwar aus folgendem Grunde: Abgesehen von einer kurzen Übergangsphase eines Zweikasussystems deklinieren romanische Substantive nicht nach Kasus. Der lateinische Kasus, welcher dem kasuslosen romanischen Substantiv zugrundeliegt, ist nicht der Nominativ (der Subjektskasus).

Lateinische Vorform romanischer Substantive
LateinItalien.Bedeutung
Nom.Akk.Abl.
taurustaurumtaurotoroStier
turristurrimturretorreTurm
CaesarCaesaremCaesareCesareCäsar
gensgentemgentegenteLeute

Stattdessen basiert die romanische Form normalerweise auf der in direkter Objektsfunktion erscheinenden Form des Substantivs. Das wäre der lateinische Akkusativ. Daher werden lateinische Substantive qua urromanische Vorformen oft im Akkusativ zitiert, also z.B. taurum “Stier”. Nun endet der Akkusativ zwar im Klassischen Latein bei den Nicht-Neutra auf -m; dieses -m schwand aber bereits im Vulgärlatein. Andere zitieren die Vorform deshalb als *tauru (mit Sternchen, da weder im Lateinischen noch einer romanischen Sprache belegt). Durch weitere Lautwandel, insbesondere Verlust der distinktiven Vokallänge (s.u.), war die m-lose Akkusativform von der Ablativform – z.B. tauro – in den meisten Fällen nicht zu unterscheiden. Wo die beiden doch verschieden sind, kommt die Ablativform der urromanischen Vorform näher. Ich zitiere daher die lateinischen Vorformen romanischer Substantive im Ablativ.

4.1. Phonologie

4.1.1. Konsonanten

Schwund des h (1. Jh. n. Ch.).

Schwund von auslautendem t: sun "sunt"; quisquis ama valia (CIL IV 1173). Spätestens seit Pompei.

Nasalkonsonant vor Konsonant oder Wortgrenze wird zu Nasalierung des vorangehenden Vokals (seit den Scipioneninschriften, d.h. 2. Jh. v.Ch.!).

[w] ~ [ß] ~ [v]; daher oft Schreibung von b statt u und umgekehrt: bixit (1. Jh. n. Ch.).

xs (Assimilation): usore "uxor", vissit "vixit" (1. Jh. n. Ch.).

t, d werden seit dem 2. Jh. vor i, j assibiliert.

k, g werden evtl. schon seit dem 2. Jh. vor [j], seit dem 5. Jh. vor vorderen Vokalen palatalisiert.

4.1.2. Vokale

Monophthongierung:

Bereits zu klassischer Zeit werden fast alle verbliebenen Diphthonge monophthongiert:

[aw]>[ɔ]1. Jh. v. Ch.
[aj]>[ɛ]1. Jh. n. Ch.
[oj]>[ɛ]

Die folgende Tabelle zeigt einige Beispiele:

Die Opposition zwischen langen und kurzen Vokalen verschwindet. Stattdessen werden Langvokale geschlossen, Kurzvokale offen gesprochen.

Zusammenfall von kurzem i und langem e, dito kurz u und lang o .

Synkope nachtoniger kurzer Vokale, vor allem in Proparoxytona, war im gesprochenen Latein verbreitet. Zeugnis dafür sind Inschriften, aber auch zeitgenössische Grammatiker:

Aus der Appendix Probi:

In vielen Wörtern hat sich die synkopierte Version in den romanischen Sprachen durchgesetzt:

Prosthese von e/i vor sK: ispose "sponsae, der Gattin" (CIL 8 3485, 2.-4. Jh., Afrika); estercus (Mul.Chir.957).

Vokalsystem wurde in den meisten vulgärlatein. Dialekten von 10 auf 7 reduziert, dadurch daß der Längenunterschied aufgegeben und stattdessen eine Opposition zwischen offenem und geschlossenem /e/ und /o/ eingeführt wurde. Hieraus resultiert in betonten Silben ein System mit vier Öffnungsgraden:

4.1.3. Akzent

Das klassische Latein hatte einen Akzent von womöglich schwacher Intensität. Er ist phonologisch bedingt, also nicht distinktiv. Es ist ein sog. Morenakzent: Die letzte Silbe eines Wortes zählt in jedem Fall nur eine More. Eine Silbe, die auf kurzen Vokal endet ("offene Silbe"), zählt eine More, jede andere zwei Moren. Der Wortakzent fällt auf die drittletzte More des Wortes:

AkzentsilbeBeispiele
Antepänultimadominustenebrae
Pänultimauicīnusmagister

Seit ca. 1.Jh.n.Ch. ist der Akzent, phonetisch betrachtet, ein Intensitätsakzent (Vorherrschen der Lautstärke).

Mit der Vokallänge geht die Basis des Morenakzents verloren. Der Akzent bleibt zwar - mit bestimmten Ausnahmen - in jedem Wort auf der Silbe, auf welcher er war; aber er ergibt sich nun nicht mehr aus der Gestalt der Silben. Es geschieht dasselbe wie sonst bei der Phonologisierung funktionsloser Alternationen: Indem die konditionierenden Faktoren der Alternation schwinden, wird aus der Alternation eine Opposition. Der Akzent wird folglich zum distinktiven Merkmal einer Wortform. Daher haben die romanischen Sprachen, wenn auch in verschiedenem Maße, freien Wortakzent. In den folgenden italienischen Beispielen bezeichnet der Gravis den Wortakzent:

vènde"verkauft"vendè"verkaufte"
lèggere"lesen"leggère"leichte"

Akzentuierendes Metrum

Das Versmaß der klassischen Poesie beruht auf Moren, also dem Silbengewicht. Dazu ist Vokallänge kruzial. Da der Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen nicht mehr besteht, kann auch das Metrum nicht mehr quantitierend sein. Nachdem die Vokallänge neutralisiert war, breitete sich akzentuierende statt quantitierender Metrik aus. Bereits im 3. Jh. dichtet Commodian folgenden Hexameter:

nec enim uitupero diuitias datas a Summo
“denn ich tadle auch nicht die Schätze, die vom Höchsten gegeben sind”

Ein solcher Vers wäre bei Vergil nicht möglich. Längenbezeichnungen wären hier offenbar unangemessen.

4.2. Morphologie

4.2.1. Nomen

Zusammenfall von Akk. und Abl., bes. nach Präp.: ex anc die, con quem, cum sodales (1. Jh. n. Ch.).

Verallgemeinerung der Akk.-Abl.form auch für den Nom.: lacte, sale (Anthimus), cuius reliquias hic ... quiescit (CIL VI 13830). Nom.Pl. -as evtl. sogar seit alters kontinuiert; ständig vereinzelte Bsp. Zur Kasussyntax s.u.

Das Genus neutrum wird aufgelöst. Die neutralen Substantiva werden in die beiden verbleibenden Genera überführt, und zwar wie folgt:

Überführung zahlreicher Feminina in a-Stämme: coniuga, nura, socera etc.; pauper mulier non paupera mulier (App. Probi).

Von den 6½ lateinischen Deklinationsklassen überleben drei, die o-, a- und konsonantische Deklination. Die selteneren Deklinationen (e-, u-, i- und Mischdeklination) werden analogisiert, wie bereits die vorangehenden Beispiele zeigen. Der Effekt einer Regularisierung wird auch durch die unten zu besprechende Deminution erreicht, da das Suffix -ulo-/-ula den Stamm in eine der beiden dominanten Deklinationsklassen überführt.

Die Komparation des Adjektivs war im Lateinischen synthetisch mit Suffixen gewesen: Komparativ auf -ior, Superlativ auf -issimus. Daneben hatte bereits eine analytische Komparation mit magis “mehr” als Behelf bestanden. Diese wurde nun auf fast alle Adjektive ausgeweitet, wobei die zentralromanischen Sprachen das Formativ später durch plus ersetzten. Nur die zentralsten Adjektive behalten ihre synthetische Komparation: melior, peior, maior, minor.

qui fem. (4. Jh.).

4.2.2. Verb

Überführung der Deponentien in die aktive Konjugation: convivare, argutare (Petron).

Seltenere Konjugationen werden analogisiert oder mit Intensivsuffix versehen, z.B. canere /r cantare.1. Das Partizip Perfekt von lat. perdere “verlieren” lautete im klassischen Latein perditum, im Gemeinromanischen jedoch perdutum, wie aus frz. perdu, altspan. perdudo, kat. perdut, ital. perduto, rum. pierdut zu rekonstruieren ist.

Neues analyt. > synthet. Fut.: daras statt dabis (Chronik des Fredegar, fränk., ca. 650; in Italien 733).

Zum Passiv s. hier.

4.2.3. Adverb

Im Lateinischen werden Adverbien aus Adjektiven, bei einiger Allomorphie, durch synthetische Morphologie abgeleitet. Die Verfahren erhalten sich in den romanischen Sprachen nicht, sondern lediglich einige der mit ihnen gebildeten Adverbien, wie z.B. lat. bene “gut” male “schlecht”.

Die Bildung von Adverbien aus Adjektiven wird durch eine Periphrase mit mente renoviert. Auszugehen ist von einer Konstruktion wie clandestina mente “mit heimlichem Sinn”, wo das Adjektiv Attribut zu dem femininen Substantiv mente ist und deshalb feminine Form hat. Die Grammatikalisierung der Konstruktion bringt eine Desemantisierung des Bezugsnomens mit sich, so daß auch lenta mente “langsamen Sinns” möglich wird, was einfach “langsam (Adverb)” bedeutet. Der Ursprung der Konstruktion erklärt, wieso in den romanischen Sprachen die Adverbien auf der Basis der femininen Form des Adjektivs gebildet werden.

4.2.4. Allgemein

Tendenz von synthetischer zu analytischer Morphologie.

4.3. Syntax

Personalpronomen

ille wird Pers.pron. der 3.Ps.: qui visit conelo "der mit ihr [sic] lebte" (CIL XIII 7645)

Das Paradigma der Personalia wird geteilt. Volle Formen, auch ‘tonisch’ (betont) genannt, erhalten sich in der Funktion von Topic und Subjekt und in der des Komplements einer Präposition, z.B. illa > ella “sie”. Klitische Formen (auch ‘atonisch’ (unbetont) genannt, entwickeln sich in den anderen Funktionen, also i.w. als Objekte des Verbs, z.B. la “sie”, le “ihr”. Die klitischen Personalia werden in ihrer Stellung an das Verb gebunden.

Bereits in der Vetus Latina erscheint ille regelmäßig zur Übersetzung des griechischen definiten Artikels (in der Vulgata wieder rückgängig gemacht). Im Gemeinromanischen gibt es ein wohletabliertes System der Definitheit durch definiten und indefiniten Artikel:
lat. ille > def. Artikel (Per. Aeth.);
unus > indef. Artikel.

Kasus und syntaktische Relationen

Das Kasussystem wird hauptsächlich durch Präpositionen ersetzt, bes. ad statt Dativ, de statt Genitiv:
hunc ad carnificem dabo (Pl.Cap. 1019),
ait ad illos (Vulgata).

Kasus werden zunächst durch Präpositionen “verstärkt”:

B1.(de)gladiopercussus
vonSchwert(M):ABL.SGdurchbohr:PART.PASS:NOM.SG.M
“vom Schwert durchbohrt”
B2.a.dimidiumpraedae
Hälfte(N):NOM.SGBeute(F):GEN.SG
“Hälfte der Beute”
 b.dimidiumdepraeda
Hälfte(N):NOM.SGvonBeute(F):ABL.SG
“Hälfte von der Beute” (Pl.Ps.1164)
B3.a.melledulcius
Honig(N):ABL.SGsüß:KOMP:NOM.SG.N
“süßer als Honig”
 b.dulciusquammel
süß:KOMP:NOM.SG.NalsHonig(N.NOM.SG)
“süßer als Honig”

Im zweiten Schritt werden die Kasus dann ganz entbehrlich. Vgl. obiges cum sodales, wo die Nominalform weder Akkusativ noch Nominativ, sondern einfach kasuslos ist.

habere als Existenzverb (Per.Aeth.).

Die Wortstellungsfreiheit nimmt ab. Normale Satzendstellung des Verbs wird zuerst in Hauptsätzen, dann auch in Nebensätzen durch Zweitstellung verdrängt. Postnominales Genitivattribut; keine Postpositionen.

Abhängige Rede und Substantivsätze werden nicht mehr im AcI, sondern als Konjunktionalsätze konstruiert. Konjunktionale Substantivsätze waren im Altlatein mit ut oder quod eingeleitet worden; nun werden sie mit quod ~ quia eingeleitet:

vobis comendo quod ... (200 n. Ch.).

Die Absolutkonstruktionen, die ohnehin ein Merkmal des hohen literarischen Stils waren, gehen fast ganz verloren. Wie viele andere syntaktische Konstruktionen hing auch der Ablativus absolutus entscheidend am funktionsfähigen Kasussystem:

B4.reliquiasrecollectastumulumtibiconstitui
Überrest(F):ACC.PLaufsammel:PART.PASS:ACC.PL.FGrabhügel(M):ACC.SGdiraufstell:PERF:1.SG
“nachdem ich die Überreste eingesammelt hatte, habe ich dir einen Grabhügel errichtet” (Afrika, 4. Jh.n.Ch.)

4.4. Lexikon

Zahlreiche Substantive werden durch ihre Deminutiva ersetzt. Wie die folgende Tabelle zeigt, ist das nicht in allen Fällen ohne weiteres semantisch zu motivieren. Alle Beispiele haben jedoch gemeinsam, daß die Basis einer unproduktiven Deklinationsklasse angehörte.

Der Wortschatz wird vielfach vulgarisiert, d.h. an die Stelle der im Klassischen Latein üblichen Ausdrücke treten solche, die im klassischen stilistischen Zusammenhang umgangssprachlich sind.

caballus (CIL II 5181, Spanien, 2.-4.Jh.), gamba (Mul.Chir.47), focus (seit dem 4. Jh.), comedere (Anthimus).

5. Die romanische Sprachgemeinschaft

Der letzte Terminus ante quem für ein einigermaßen homogenes Gemeinromanisch, dessen interne Differenzierung höchstens dialektal genannt werden kann, ist, wie gesagt, das Auftreten der ersten Dokumente in den einzelnen romanischen Sprachen; denn diese sind schon so verschieden, daß die romanischen Sprachen bereits individuiert sind. Nichtsdestoweniger besteht bis auf den heutigen Tag bis zu einem gewissen Grade eine romanische Sprachgemeinschaft. Hier sind die folgenden Phänomene zu berücksichtigen:

Diese Phänomene erhalten die sprachliche Einheit und verstärken sie mitunter auch. Die Periode der Divergenz der romanischen Sprachen dürfte vorbei sein.


1 'X /r Y' bedeutet "X wird ersetzt durch Y"