Der Begriff ‘Sprache’, der in dem Begriff ‘Sprachsystem’ auftritt, ist jedenfalls der der ‘langue’. Vermutlich kann man auch mit Bezug auf den ‘langage’ von einem System sprechen (s. Punkt 8 unten); aber das ist jedenfalls mit dem Ausdruck Sprachsystem nicht gemeint.

In einem ersten Schritt ist das Sprachsystem als der systematische Aspekt der Sprachtätigkeit gemäß der soeben gemachten Einschränkung zu charakterisieren. Im weiteren wird der Begriff wie folgt näher bestimmt:

  1. Zum Sprachsystem gehört die Struktur der Sprache, nicht das materielle Substrat, welches strukturiert wird. Dieser Gegensatz wird unter dem Stichwort ‘Form vs. Substanz’ behandelt. Gemäß dieser Unterscheidung gehören Phonetik einerseits und Pragmatik andererseits nicht zum Sprachsystem.
  2. Das Sprachsystem kann (wie ein Code) aufgefaßt werden als eine Gesamtheit von Einheiten und Regeln. Die Einheiten bilden ein Inventar. Die Regeln sind solche der Selektion und der Kombination, d.h. sie bestimmen, wie Einheiten aus dem Inventar gewählt und zu komplexen Einheiten zusammengesetzt werden.
  3. Eine alternative Sicht auf das Sprachsystem als Gesamtheit von Einheiten und Regeln ist seine Gliederung entlang der Dimension ‘Idiosynkrasie vs. Regularität’. Die Regeln sind das eigentlich Systematische am Sprachsystem. Einheiten sind nur systematisch, soweit sie in syntagmatischen und paradigmatischen Relationen stehen. Daraus folgt zwar, daß das Inventar nicht lediglich eine unsystematische Menge von Einheiten ist. In jeder Sprache bleiben aber Irregularitäten und Idiosynkrasien, also streng genommen Unsystematisches. Diese Phänomene werden nichtsdestoweniger unter den Begriff des Sprachsystems subsumiert. Auf den Punkt gebracht: auch das Lexikon gehört zum Sprachsystem.
  4. Das Sprachsystem steht im Gegensatz zum Text (s. System vs. Text). Wenn man einen Text als eine hochgradig komplexe sprachliche Einheit auffaßt, so stellt sich die Frage, ob die Kombinationsregeln des Sprachsystems auch für die Bildung von Texten zuständig sind. Hier wird jedoch i.a. eine Abgrenzung derart vorgenommen, daß das Sprachsystem komplexe Einheiten nur aufwärts bis zum Satz regelt. Die Bildung von Texten geht dann nach Prinzipien des textuellen Zusammenhangs vonstatten, die zwar auch von Menschen beherrscht werden, die aber nicht mehr zum Sprachsystem gehören, sondern mit der Bildung kohärenter Gedankengänge nach Regeln der Logik und der Konzeption zusammenhängender Geschichten nach Konventionen einer sozialen Gemeinschaft zu tun haben.
  5. Theoretisch gesehen, ist der Text eine Aktualisierung des Sprachsystems. Wirkliche Texte allerdings werden nicht von Sprachsystemen, sondern von Menschen erzeugt. Bei ihrer Erzeugung wirken zahlreiche Faktoren mit, die mit dem Sprachsystem nichts zu tun haben, z.B. Ablenkungen, Versehen, Bewußtseinstrübungen usw. Das Ergebnis sind z.B. Versprecher, Anakoluthe und ungrammatische Sätze. Die Systemlinguistik hat das Bestreben, solche Interferenz draußen zu halten: das Sprachsystem ist eine ideelle Größe, die davon unberührt bleibt, daß es Vorkommen von ‘parole’ gibt, die ihm nicht entsprechen. Dieser Ansatz führt aber zu riesigen methodologischen Problemen. Denn in methodologischer Hinsicht kann das Sprachsystem nichts anderes sein als eine Abstraktion aus beobachtbaren Vorkommen von ‘parole’. Ein geläufiger, aber nichtsdestoweniger hochproblematischer Weg aus dem Dilemma ist die Idealisierung.
  6. Das Verhältnis des Systems zur Variation ist kompliziert. Einerseits ist das Sprachsystem, in Gestalt von abstrakten Einheiten wie Phonemen, Morphemen usw., der Ort, an dem niederstufige Variation aufgehoben ist. Andererseits kann das Sprachsystem unmöglich die gesamte Bandbreite auf jeder Dimension von Variation inkorporieren. Am klarsten ist das im Falle der diachronen Variation; s. den nächsten Punkt. Aber auch die Gesamtheit der Dialekte einer Sprache läßt sich nicht auf ein Sprachsystem zurückführen.
  7. Das Sprachsystem ist eine Hypostasierung der synchronen Perspektive auf die Sprache. Die diachrone Perspektive kann das synchrone Sprachsystem zwar voraussetzen; sie sieht aber selbst kein Sprachsystem (sondern bestenfalls die Systematik des Wandels).
  8. Reale Sprachsysteme sind Systeme jeweils bestimmter einzelner Sprachen. Jede ‘langue’ hat ihr eigenes Sprachsystem; z.B. haben Niederländisch und Deutsch verschiedene Sprachsysteme. Auf dieser Website wird (wie auch sonst in der Linguistik) eine von Einzelsprachen unabhängige interne Systematik des Sprachsystems (als Komponente des ‘langage’) geboten. Hier ist also der Begriff des Sprachsystems eine Abstraktion über allen Sprachsystemen, so wie der Begriff der Religion eine Abstraktion über allen Religionen ist.
  9. Es gibt an einer Einzelsprache systematische Züge, die dennoch nicht zum Sprachsystem gehören. Hier kommt die Unterscheidung zwischen System und Norm ins Spiel: Gemäß den in einer Sprachgemeinschaft in einer historischen Situation waltenden Normen verhält man sich sprachlich unter gegebenen Umständen regelmäßig so und so (Beispiele anderswo). Das sind zweifellos systematische Züge der Sprachtätigkeit. Es ist aber jedenfalls das Sprachsystem gegen die soziale Norm abzugrenzen. Die Frage, ob Aspekte, die im Überlappungsbereich beider zu liegen scheinen, reinlich zwischen ihnen aufgeteilt werden können, wird hier nicht gelöst.

Wie man sieht, wird das Sprachsystem auf einer Reihe von Dimensionen abgegrenzt, die nicht alle aus demselben Prinzip abzuleiten sind. Leitend ist aber für alle die Vorstellung der Grammatik einer Sprache als klarster Verkörperung des Sprachsystems.