Grammatischer Wandel ist Veränderung des grammatischen Systems durch Verlust, Neuschaffung oder Modifikation grammatischer Konstruktionen und Paradigmen. Der wichtigste Prozeß, der zur Schaffung, Modifikation und schließlich zum Verlust grammatischer Struktur in paradigmatischer und syntagmatischer Hinsicht führt, ist Grammatikalisierung. Daneben stehen einerseits der analogische Wandel, der auf der paradigmatischen Achse, und die Reanalyse, die auf der syntagmatischen Achse operiert. Im folgenden werden nur Analogie und Grammatikalisierung behandelt (Reanalyse ist ein komplexeres Thema).

Analogischer Wandel

Eine Analogie ist eine Entsprechung zwischen zwei Verhältnissen. Man kann sie wahrnehmen, wo sie besteht; man kann sie aber auch schaffen, indem man ein Verhältnis einem anderen angleicht. Das letztere dient dann als analogisches Vorbild für den Wandel. Hier sind zunächst zwei Beispiele aus der deutschen Syntax:

1) Im Nebensatz herrschte ursprünglich (seit indogermanischen Zeiten) durchweg Verbendstellung, wie in .a. Seit althochdeutschen Zeiten allerdings1 haben wir alternativ Verbzweitstellung in Kausalsätzen, die mit weil, und in Konzessivsätzen, die mit obwohl eingeleitet werden, wie in .b.

.a.Erna verehrt ihren Mann, obwohl er es nicht verdient hat.
b.Erna verehrt ihren Mann, obwohl – verdient hat er es nicht.

Verbzweitstellung tritt sonst nur in selbständigen Aussagesätzen auf. Diese geben also das analogische Vorbild für den syntaktischen Wandel ab. Die Voraussetzungen für die Analogie sind von zweierlei Art:

Hier gibt also der deklarative Hauptsatz mit seiner Semantik und seiner Struktur das Vorbild für eine analogische Umgestaltung eines Nebensatzes ab.

2) Verben regieren ihre Komplemente in verschiedenen syntaktischen Funktionen, die durch Kasus oder Präpositionen markiert werden. Die Genitivrektion von Verben ist im Deutschen seit langem auf dem Rückzug.

.a.Erna erinnerte sich des Gastes.
b.Erna erinnerte sich an den Gast.
.a.Erna harrte des Gastes.
b.Erna harrte auf den Gast.

Sich erinnern und harren mit dem Genitiv, wie in .a und .a, sind zwar heute noch möglich; aber die Rektion des Komplements vermittels einer Präposition, wie in den #b-Versionen, wird gebräuchlicher. Einerseits gibt es kein produktives Muster der Bildung von Verben, die den Genitiv regieren. Und andererseits gibt es für das präpositionale Komplement produktive analogische Vorbilder bedeutungsähnlicher Verben wie denken (an) und warten (auf). Die Rektion eines Verbs kann also in Analogie zu anderen Verben umgestaltet werden.

Klare Beispiele für analogischen Wandel in der Morphologie bietet die Geschichte der starken und schwachen Verben im Deutschen (aber auch in anderen Sprachen). Diverse ehemals starke Verben wie weben und backen bilden heute vorwiegend ein schwaches Präteritum. Folgendes Schema verdeutlicht den analogischen Wandel:

Für das Verhältnis des Präteritums zum Präsens diente also die Konjugation schwacher Verben wie leben und hacken als Vorbild. Nach dieser Analogie ergibt sich, daß das Präteritum von weben webte und das von backen backte zu heißen hat. Man spricht in solchen Fällen gelegentlich von analogischer Umgestaltung. Umgestaltet wird aber das Flexionsparadigma der betroffenen Verben, nicht die einzelne Konjugationsform. Wenn ich nämlich webte sage, denke ich nicht an wob (und gestalte dieses um), sondern ich denke an Formen wie lebte, beziehe aus ihnen eine Regel zur Bildung des Präteritums und wende sie auf den Stamm web- an.

Auch die Verdrängung der starken durch die schwache Konjugation ist ein Lieblingsthema nostalgischer Puristen. Deshalb ist es tröstlich zu sehen, daß gelegentlich auch das Umgekehrte vorkommt. Verben, die durch Suffix oder Konversion abgeleitet sind, flektieren schwach. Die Verben preisen, gleichen, fragen sind denominal (von Preis, gleich, Frage), flektierten also zunächst schwach. Die ersten beiden flektieren heute stark. Starke Konjugation von fragen entspricht nicht der Norm, kommt aber ebenfalls vor.2 In allen diesen Fällen findet analogische Umgestaltung nach stark konjugierenden Vorbildern statt, wie folgende Tabelle verdeutlicht:

Die Basis der Analogie ist eine Ähnlichkeitsbeziehung, also eine Assoziation auf der paradigmatischen Achse. Das Vorbild einer analogischen Umgestaltung ist i.a. eine ganze Klasse, manchmal allerdings auch nur ein einziges, aus irgendeinem Grunde prominentes Element.

Analogie stellt eine (Sub-)Regularität in der Beziehung zwischen Significans und Significatum komplexer Zeichen her. Sie eliminiert funktionslose Alternationen, z.B. Ablautmuster starker Verben, die im System fossilisiert sind. Sie ist dort am erfolgreichsten, wo das Gedächtnis versagt. Deswegen sind es vor allem seltene Formen, die dem analogischen Wandel ausgesetzt sind.

Grammatikalisierung

Grammatikalisierung ist die Unterwerfung einer signifikativen Einheit unter grammatische Regeln, ihre Einbeziehung ins grammatische System. Es kann sich im Prinzip um Einheiten beliebigen Komplexitätsgrades handeln. Allerdings manifestiert sich die Grammatikalisierung allermeist an einzelnen Wörtern, die vom lexikalischen Wort zum grammatischen Formativ werden. Hier sind ein paar Standardbeispiele:

  1. Dt. haben war zu urgermanischen Zeiten ausschließlich ein Vollverb der Bedeutung “besitzen”. Vermutlich in den ersten Jahrhunderten nach Christus entwickelte es sich zum Hilfsverb, insbesondere zur Bildung des Perfekts, etwa auf folgendem Wege: In einer Konstruktion des Typs hat das Buch gekauft war haben zunächst Vollverb und gekauft ein Prädikativum, das mit dem direkten Objekt Buch kongruierte (“hat das Buch (, und zwar) als gekauftes”). Daraus entsteht eine Konstruktion, in der sich die Form von haben als Hilfsverb mit der infiniten Form des Vollverbs zu einer periphrastischen Verbform entwickelt, die im Konjugationsparadigma neben den ererbten Tempora die Rolle des Perfekts einnimmt. Dabei verliert haben seine konkrete Bedeutung, und das Partizip hört auf zu kongruieren. Sekundär wird das haben-Perfekt auch von intransitiven Verben gebildet (wo ja kein Objekt existiert, das man ursprünglich im Wortsinne “haben” konnte).
  2. Im Lateinischen gibt es keine Präpositionen rein grammatischer Funktion. Die Grundbedeutung von de ist “von (herab)”, die von ad ist “(hin) zu”. Diese beiden markieren jedoch in den romanischen Sprachen, z.B. in Gestalt von spanisch und französisch de bzw. a, die syntaktischen Funktionen des nominalen Attributs bzw. des indirekten Objekts, fungieren also wie ein Genitiv bzw. Dativ.
  3. Das Lateinische verfügt neben den Personalpronomina (der dritten Person) über ein Paradigma von Demonstrativa, in dem ille Deixis der dritten Person involviert, also etwa “jener (bei ihm)” bedeutet. In substantivischer Funktion wird dieses in den romanischen Sprachen zum Personale der dritten Person, “er/sie/es”. In einer ersten Phase wird es das freie, bei Emphase verwendete Personalpronomen, das in span. él vorliegt. Im Französischen wird es weiter grammatikalisiert zum klitischen Pronomen il, welches bei Fehlen eines eigenen Subjekts (und in der Umgangssprache auch sonst) obligatorisch ist.
  4. Das lateinische Zahlwort für “eins”, unus, unterscheidet sich lediglich numerisch von den anderen Zahlwörtern. In den romanischen Sprachen aber wird es zum indefiniten Artikel grammatikalisiert.
  5. Lat. homo bedeutet “Mensch”. Im Französischen wird es, in Gestalt von on, als indefinites persönliches Pronomen i.S.v. “man” gebraucht.
  6. Das spanische Personalpronomen für die höfliche Anrede, usted “Sie”, geht zurück auf den Ausdruck vuestra merced “Euer Gnaden”.

Grammatikalisierung ist ein gradueller Prozeß. Im Beispiel #3 sind drei Stufen zu unterscheiden. Dabei ist die Ausgangsstufe in diesem Falle noch nicht einmal ein lexikalisches, sondern bereits ein grammatisches Element. Durch Grammatikalisierung werden also nicht nur lexikalische Elemente zu grammatischen, sondern grammatische Formative werden noch mehr grammatisch. Was das besagt, sieht man z.T. schon an demselben Beispiel: Die Obligatorietät nimmt zu; das ist eben eine logische Konsequenz der Unterwerfung unter grammatische Regeln.

An Beispiel #1 kann man die syntagmatische Verbindung (Koaleszenz) des grammatikalisierten Elements mit Trägerelementen illustrieren: haben wird zu einem grammatischen Formativ, das von einem lexikalischen Verb eine Flexionskategorie bildet. Andere Begleiterscheinungen der Grammatikalisierung sind die Desemantisierung (semantische “Ausbleichung”), die ein extremer Fall von Bedeutungsverallgemeinerung ist, und als Ausdrucksgegenstück davon die Reduktion des Significans, die man an den Beispielen #2 – #6 sieht. Eine umfassendere Analyse würde zudem zeigen, daß sich grammatische Paradigmen bilden. Z.B. findet gleichzeitig mit dem Wandel #4 auch die Grammatikalisierung des Demonstrativums ille in determinativem Gebrauch zum definiten Artikel (span. el, frz./ital. il usw.) statt. Es entsteht also eine neue grammatische Kategorie, nämlich der Artikel (den es im Lateinischen nicht gibt), mit zwei Werten, definit und indefinit. Schließlich ist zu bemerken, daß die syntagmatische Stellungsfreiheit sich reduziert. Z.B. kann man das lateinische ille von #3 im Satz stellen, wie man will; aber das frz. il muß unmittelbar vor seinem finiten Verb stehen.

Grammatikalisierung ist also ein Prozeß, der signifikative Einheiten die Hierarchie der grammatischen Ebenen hinunterschiebt in dem Sinne, wie das Konzept am Ende des diesbezüglichen Abschnitts eingeführt wurde. Die geschilderten Begleiterscheinungen erklären sich in diesem Zusammenhang. Sie sind an den hier gegebenen Beispielen unterschiedlich klar zu sehen, gehören aber alle zum Begriff der Grammatikalisierung.


1 Die Walter der Korrektheit in den sprachkritischen Kolumnen der Zeitungen des Bildungsbürgertums beklagen in Abständen von wenigen Jahren die Dekadenz der Sprache, wo die Zeitgenossen in weil- und obwohl-Sätzen das Verb an zweiter Stelle bringen.

2 Und wenn die Leute glauben, die starke Konjugation sei grundsätzlich die ältere, glauben sie dann manchmal, frug müsse die ursprüngliche Form gewesen sein.