Was ist Sprache?

Unschuldig wirkende Fragen wie die in der Überschrift haben es, vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, oft in sich. Sie setzen nämlich voraus, daß ein der Umgangssprache angehöriger Ausdruck wie Sprache eine einheitliche Bedeutung hat bzw. – wenn denn ein Wissenschaftler die Antwort geben soll – einen Begriff bezeichnet, der auch einen Status in einer wissenschaftlichen Theorie hat. Das ist oft, und jedenfalls bei Sprache, nicht der Fall. Dieses Wort ist in mehrerer Hinsicht vieldeutig. Das zeigt folgende Beispielserie:

B1.Dr. Dolittle beherrschte die Sprache der Delphine.
B2.Die Software ist in der Sprache C++ programmiert.
B3.Die Taubstummen unterhalten sich in Gebärdensprache.
B4.Ein sechsmonatiges Kind verfügt noch nicht über Sprache.
B5.Erna spricht drei Sprachen.
B6.Wir müssen dieses Problem mal zur Sprache bringen.

Indem wir diese Serie abarbeiten, werden wir sehen, daß ‘Sprache’ ein prototypischer Begriff ist und daß die Bedeutungen, in denen das Wort in B1 – B3 verwendet wird, in abnehmendem Maße marginal sind. Die verbleibenden drei Bedeutungen dagegen sind alle zentral, sowohl für das landläufige als auch für das linguistische Verständnis von Sprache.

Arten von “Sprachen”

In B1 wird ein tierisches Kommunikationssystem als Sprache bezeichnet. Ein solches nach dem Kriterium, daß seine Benutzer keine Menschen sind, auszugrenzen, wäre ein Schnellschuß. Theoretisch ist es denkbar, daß tierische Kommunikationssysteme alle wesentlichen Eigenschaften mit menschlichen Sprachen gemeinsam haben und deshalb in demselben Sinne den Namen Sprache verdienen. Wir müssen also diese Eigenschaften anhand der uns in erster Linie interessierenden Sprachen, eben der menschlichen, feststellen, um dann entscheiden zu können, ob die Kommunikationssysteme der Bienen, der Affen, der Delphine usw. ebenfalls Sprachen sind. Wir können hier vorwegnehmen, daß bisher kein nicht-menschliches Kommunikationssystem gefunden wurde, welches die konstitutiven Merkmale menschlicher Sprache aufweist. Insbesondere hat keines davon Effabilität, d.i. die Möglichkeit, alles Erdenkliche zu sagen. Mithin ist der Ausdruck Sprache in B1 metaphorisch verwendet, und die Linguistik ist gerechtfertigt, wenn ihre Theorien über Sprache auf tierische Kommunikationssysteme nicht passen.

In B2 geht es um eine Programmiersprache, also im weiteren Sinne um eine formale und folglich um eine künstliche Sprache. Diese Sprachen werden alle von Menschen verwendet (einige allerdings auch von Maschinen), sind also in diesem Sinne menschliche Sprachen. Sie sind allerdings von einzelnen Menschen für bestimmte Zwecke entworfen worden, während Sprachen wie Deutsch traditionelles Hauptkommunikationsmittel ganzer Sprachgemeinschaften sind und vor allem von Kindern beim Erstspracherwerb erlernt werden. Diese letzteren heißen natürliche Sprachen. Formale Sprachen sind Gegenstand der Informatik. Im Prinzip sind auch Welthilfssprachen bzw. Plansprachen wie Esperanto künstliche Sprachen, da auch sie von einzelnen Menschen entworfen wurden. Sobald es allerdings Kinder gibt, die sie als erste Sprache erwerben, und Sprachgemeinschaften, denen sie als erstes Mittel zur Kommunikation und Kognition dienen, sind sie von natürlichen Sprachen nicht mehr unterscheidbar.

In B3 ist von einer Sprache die Rede, die Menschen als primäres Mittel der Kommunikation und Kognition dient und auch von Kindern als erstes Mittel dieser Art erworben wird. Gebärdensprachen sind also natürliche menschliche Sprachen ganz ebenso wie Deutsch und Vietnamesisch. Als solche sind sie in der Tat auch Gegenstand der Sprachwissenschaft. Sie unterscheiden sich von Sprachen wie den genannten in zwei ganz verschiedenen Hinsichten:

Die Sprachen, welche das Zentrum des Gegenstandsbereichs der Linguistik abgeben, sind folglich natürliche menschliche Lautsprachen. Daß diese letzteren auch geschrieben und insofern ebenfalls durch ein visuelles Medium übermittelt werden können, ist ein für die hier vorgenommene Begriffsbestimmung kontingenter Umstand. – Im übrigen gibt es von einigen Lautsprachen, etwa dem Pirahã (Amazonien) oder dem Guanche (Teneriffa) auch noch gepfiffene Derivate, Pfeifsprachen also, die mithin ebenfalls unter den Begriff ‘Lautsprache’ fallen.

Die bis hierhin vorgenommene Klassifikation von Mitteln der Kognition und Kommunikation (“Sprachen”) ist im folgenden Diagramm zusammenzufassen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Elemente am Ende der Hierarchie keine vollständige Aufzählung, sondern nur Beispiele darstellen.

Klassifikation von “Sprachen”

Arten von Sprachen

Selbstverständlich sind andere Klassifikationskriterien denkbar. Man könnte die menschlichen Sprachen, statt nach dem Kriterium ihres Zustandekommens nach dem Kriterium ihrer Funktion einteilen, z.B. in ‘zwischenmenschliche vs. formale Sprachen’. Dann wäre der Zweig der Welthilfssprachen unterhalb der Ebene der Lautsprachen anzusiedeln.

Jedenfalls ist mit dem Vorangehenden eine erste Bestimmung des Begriffs ‘Sprache’ und somit eine Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft vorgenommen: Es handelt sich in erster Linie um Objekte, die in der Klassifikation unter den Begriff ‘Lautsprache’ fallen. Immer wenn nicht ausdrücklich etwas anderes gesagt wird, ist mit dem Ausdruck Sprache in diesem Webskript Sprache in diesem engeren Sinne gemeint.

Sprache im engeren Sinne

In B4 oben ist jedenfalls von natürlicher menschlicher Lautsprache im soeben definierten Sinne die Rede. Es geht um eine auf Kognition und Kommunikation zielende Tätigkeit, die alle Menschen – soweit sie normal veranlagt und alt genug sind – gewöhnlicherweise ausführen. Hier ist Sprache also etwas, was allen Menschen gemeinsam ist und den Menschen vom Tier unterscheidet. Zu Sprache in diesem Sinne haben Menschen eine angeborene Veranlagung, die Sprachfähigkeit. Diese kommt freilich nur zum Zuge, wenn das Kind in einer Sprachgemeinschaft aufwächst, die ihm ihre Sprache beibringt.

Die menschliche Sprache tritt – und darin unterscheidet sie sich vermutlich von der Bienen- und der Delphinsprache – nicht unmittelbar als solche auf, sondern nur in Form einer bestimmten einzelnen Sprache wie eben Deutsch oder Vietnamesisch. Von Sprache in diesem Sinne ist in B5 die Rede. Hier ist Sprache eine einzelne Ausprägung der zuvor besprochenen natürlichen menschlichen Lautsprache, die in einer bestimmten historischen Sprachgemeinschaft traditionell und also Bestandteil von deren Kultur ist. Im Gegensatz zur menschlichen Sprache des vorangehenden Absatzes nennt man eine solche Sprache auch Einzelsprache.

In B6 schließlich liegt eine Bedeutung des Wortes Sprache vor, die im Deutschen wohl nur in idiomatischen Wendungen vorkommt und für die wir meist Sprechen sagen würden. Es ist hier das aktuelle Vorkommen der vorgenannten Tätigkeit gemeint, also Mengen von Äußerungen, die in Sprechsituationen von dem einen erzeugt und von dem anderen verstanden werden.

Die vorangehenden drei Absätze reden von drei Sprachbegriffen, die seit Saussure 1916 mit den französischen Termini langage – langue – parole bezeichnet werden1:

‘langue’ vs. ‘parole’

Die Beziehung zwischen ‘langue’ und ‘parole’ ist durch die Opposition ‘virtuell – aktuell’ gekennzeichnet. Wie immer, wenn diese Opposition waltet, ist das methodologische Verhältnis der beiden Begriffe ambivalent:

  1. Das Aktuelle ist für die Beteiligten wahrnehmbar und also für den Wissenschaftler beobachtbar. Es ist daher methodologisch primär und fundamental. Das Virtuelle ist nicht wahrnehmbar und nicht beobachtbar. Es ist insofern eine Abstraktion aus dem Aktuellen.
  2. Das Aktuelle wird nur möglich dadurch, daß dem Virtuellen eine Fähigkeit entspricht, die in der Ausführung aktualisiert wird. Das Virtuelle liegt insofern all diesen Aktualisierungen zugrunde. Es ist das Konzept, welches eigentlich das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft abgibt; das Aktuelle sind bloß die einzelnen Manifestationen davon.

Ein zentraler Aspekt der Opposition ‘aktuell vs. virtuell’ ist das Verhältnis von Text zu System: die ‘parole’ schlägt sich in Texten nieder; die ‘langue’ umfaßt ein System, das sich in den Texten manifestiert. Es ist das Sprachsystem, dessen Aufbau anderswo besprochen wird.

Die Systematizität der Sprache spielt in der Linguistik eine zentrale, ja dominante Rolle. Das hat viele Linguisten seit Saussure 1916 dazu veranlaßt, die Sprache kurzerhand als ein System aufzufassen. Demgegenüber bleibt festzuhalten: Das Sprachsystem ist das Systematische an der Sprachtätigkeit; es ist also nur ein Aspekt derselben. Dieser Aspekt begründet die Systemlinguistik. Sie bildet zwar den Kern der Sprachwissenschaft, aber sie ist bei weitem nicht die ganze Linguistik. Zur Systematik der Linguistik s. anderswo.

‘langue’ vs. ‘langage’

Das Verhältnis von ‘langue’ zu ‘langage’ hingegen ist das Verhältnis der Variante zur Invariante, so wie es in dem unsterblichen Zitat von Delacroix formuliert ist:

Da den Sprachwissenschaftlern, wie gesagt, nur die Varianten vorliegen, ist es ihre Aufgabe, die zugrundeliegende Invariante durch Vergleich und Analyse der Varianten zu erschließen. Das tut die allgemein-vergleichende Sprachwissenschaft. Ihr Gegenstand ist der ‘langage’; aber sie kommt ihm nur bei, indem sie die einzelnen ‘langues’ untersucht, miteinander vergleicht und herausarbeitet, was ihnen allen gemeinsam ist. Diese Gemeinsamkeiten aller Sprachen heißen sprachliche Universalien. Sie sollten sich aus einer Theorie der menschlichen Sprache herleiten lassen. Diese muß also einerseits das Spezifische der menschlichen Sprache explizieren, was sie von den tierischen Kommunikationssystemen unterscheidet, und andererseits den Raum umreißen, in dem die ‘langues’ untereinander variieren.

Aus dem Verhältnis von ‘langage’ und ‘langue’ ergibt sich das komplexe Wesen der Sprache:

Wesen der Sprache

Alle vorangegangenen Abgrenzungen und Unterscheidungen haben immer noch nicht die Frage beantwortet, was Sprache nun eigentlich ist. Die bündige Antwort lautet:

Sprache ist das unbeschränkte Schaffen von interpersonal verfügbaren Bedeutungen, also Bedeutungen von Zeichen.

Dies ist eine Tätigkeit, die die beiden obersten Ziele der Kognition und der Kommunikation gleichzeitig verfolgt. Die Definition enthält gleichzeitig das Gemeinsame der drei Sprachbegriffe ‘langage – langue parole’. Sie alle sind in erster Linie dynamische Begriffe; statische Begriffe von Sprache – System und Text – sind daraus abgeleitet.

Literatur

Delacroix, Henri 1924, Le langage et la pensee. Paris: F. Alcan.

Saussure, Ferdinand de 1916, Cours de linguistique generale, publie par Charles Bally et Albert Sechehaye avec la collaboration de Albert Riedlinger Paris: Payot.


1 Das Genus des Fremdwortes langage schwankt im Deutschen. Im Französischen ist es jedenfalls Maskulinum. Im Deutschen wird es oft als Femininum behandelt, erstens weil Sprache feminines Genus hat, und zweitens, weil französische Wörter auf -age im Deutschen (erstaunlicherweise) feminines Genus haben.